Was hat die Ganztagsschule mit Schule zu tun?

Also eigentlich nichts. Wer erwartet, daß sich den ganzen Tag Lehrer um den Schulbetrieb kümmern, der irrt. Denn eigentlich ist nachmittags keine Schule. Nachmittags heißt die Veranstaltung in den meisten Schulen „Hort“.

Der Hort ist althochdeutsch ein Schatz oder Vorrat. Also etwas, was aufbewahrt wird. Im Fall der Ganztagsbetreuung werden unsere Kinder aufbewahrt. Hoffentlich wie ein Schatz.

In meiner Schulzeit in den 60er Jahren gaben die Erzieher das Essen aus, achteten darauf, daß wir die Graupensuppe nicht gleich in den Schweineeimer gaben und verschwanden danach in den Keller zum Abwaschen. Nach dem Abwaschen gingen sie Rauchen und Kaffeetrinken. Bis zum Schluß der Veranstaltung sah man sie nicht mehr. Von allen meinen Lehrern weiß ich noch die Namen, von den Erziehern nicht. An Hausaufgaben war nicht zu denken. Man konnte froh sein, wenn man das Objekt unversehrt verlassen konnte. Zum Glück hatte es einen sehr großen Garten, so daß man abtauchen konnte, wenn es zu bunt wurde. Pädagogische Ansprüche gab es in den 60er  Jahren noch nicht. In den Hort gingen die Schüler, die in irgendeinem Schuljahr mal sitzen blieben.

Heute ist aus der Ganztagsbetreuung ein staatlicher Kultus geworden, an dessen Altaren die Bildungsbürokratie anläßlich zahlreicher Workshops und Werbeevents eifrig opfert. Lernschwache Kinder und solche aus sogenannten bildungsfernen Schichten sollen im Hort zurechtgetrimmt werden. Dabei ist aber immer die Frage, ob nach oben oder nach unten nivelliert wird. Früher gingen nur die schlechtesten Schüler in den Hort, wo sich die Eltern nicht um die Kinder kümmerten. Heute ist die Mischung im Hort etwas ausgeglichener. Da gibt es schon eher das Problem, daß die Eltern mehr Hausaufgabenkompetenz haben, als die Erzieher. Ich zitiere aus der Selbstdarstellung einer Grundschule:

„Wir legen großen Wert auf eine starke Verzahnung von Unterricht und Hort. Die offenen Unterrichtsformen werden durch ein offenes Hortangebot ergänzt. Um der Unterschiedlichkeit der Kinder gerecht zu werden, nutzen wir die zur Verfügung stehenden Lehrer- und Erzieherstunden zur integrativen Förderung in Form von Zweitbesetzung im Unterricht. In der Lernzeit haben alle Schüler die Möglichkeit, ihre Hausaufgaben anzufertigen. Neben den Horterziehern sind auch Lehrer anwesend. In unserem offenen Hort können sich die Kinder zwischen dem Spielen auf dem Hof oder dem Spielzimmer sowie wechselnden Angeboten im Kreativ- und Computerraum entscheiden. In der Hortrezeption und der Schülerbibliothek können die Schüler außerdem Bücher oder Karten- und Brettspiele ausleihen, mit Freunden malen oder in der Sofaecke einfach mal ausruhen. Den Kindern stehen von Seiten unserer Schule außerdem vielfältige Freizeitangebote in Form von regelmäßigen AG’s zur Verfügung.“

Beim genauen Hinsehen kümmern sich um den Nachmittag Sportvereine und kostenpflichtige Tanz- und Musikschulen. Einen Lehrer sieht man selten oder nicht. Die werden entsprechend der Selbstdarstellung ja zur Zweitbesetzung im morgendlichen Unterricht verbraten. Wenigstens sind die Erzieher mittlerweile in den Horträumen präsent und achten darauf, daß Mindestnormen des Zusammenlebens eingehalten werden. Oder sie beschäftigen die Kinder.

Ein frustrierendes Beispiel der Hausaufgabenbetreuung habe ich vor zwei Jahren in Sachsen erlebt. Ein Drittklässler quälte sich an einer einfachen Rechenaufgabe aus den Grundrechenarten ab. Jeder türkische Fladenverkäufer oder deutsche Kraftfahrer hätte die Aufgabe in 15 Sekunden im Kopf gelöst und seinem Nachwuchs helfen können. Die Erzieherin konnte die Aufgabe nicht. Leider ist das kein Einzelfall. Viele Eltern fallen abends in Ohnmacht, wenn sie die Qualität der in den Horten gelösten Hausaufgaben sehen. Das hängt einfach damit zusammen, daß die meisten Erzieher eben keine Lehrer sind.

Die Bildungsforscher hätten darum gerne eine Verlängerung der Präsenszeiten von Lehrern. Das ist aber nicht unumstritten. Manche Lehrer wollen das nicht. Und die Bundesländer wollen keine zusätzlichen Lehrer bereitstellen, weil Erzieherinnen billiger sind.

Einzelne Schulen, bezeichnenderweise oft aus dem Privatschulbereich, meistern die Nachmittage mit Gewinn für Eltern und Kinder. Meine Beobachtung ist, daß erfahrene Eltern mit mehr als drei Kindern ihren Nachwuchs zu einem hohen Anteil auf Privatschulen unterbringen. Auch staatliche Schulen bringen beachtliches zustande, wenn in der Schulleitung keine Schlaftabletten sitzen. Eine Jenaer Sekundarschule in der Gegend der Lobdeburg ist hoch engagiert und brachte neben kompetenter Unterrichts- und Freizeitgestaltung ein ganzes Musical zur Aufführung.

Ein großes Problem ist die nachmittägliche Verladung in die Schulbusse. In einem Nachbarort verschwand vor zwei Monaten ein Mädchen auf mysteriöse Weise beim Einsteigen in den Bus. Nach eigenen Angaben war die Schülerin in einen Abwasserschacht neben der Haltestelle gefallen und der Deckel hatte sich über ihr wieder geschlossen. Das hatten aber weder der Busfahrer noch die Erzieherin gesehen. Auf jeden Fall war das Mädchen beim Einsteigen weg. In einem anderen Hort versäumte eine Erstensklässlerin mehrmals den letzten Schulbus. Die Erzieherinnen verteidigten sich mit dem Argument, daß sie die Kinder zum Bus gerufen hätten. Der Bus war weg, der Heimatort 15 km entfernt, es wurde dunkel und die Eltern waren ahnungslos. Bei den Eltern angerufen hatte bezeichnenderweise nicht die Schule, sondern ein hilfsbereiter Eingeborener vom Orte. Solche Nachrichten erscheinen nicht in der Zeitung.

Es ist noch viel zu tun bei der Ganztagsbetreuung. Mit der halben Backe geht es nicht. In den Hort gehören Lehrer, damit eine adäquate Hausaufgabenbetreuung gewährleistet ist und wenigstens die Verladung in die Busse klappt. Soweit, daß die Ganztagsschulen flächendeckend die verhießenen pädagogischen Wunder vollbringen, ist es noch lange nicht.

Ich selbst habe den Hort als eine Art Räuberhöhle erlebt. Bei der Recherche zu diesem Eintrag fand ich etwas lustiges: der Hort in Rangsdorf bei Ostberlin heißt „Räuberhöhle“.