Das Elend des Revolutionsexports

Fast täglich wird der erstaunte Zeitungsleser und der altersbedingt leicht debile Tagesschau-Konsument mit windigen Weltverbesserungsplänen konfrontiert, oder zumindest mit Vorschlägen für lokal begrenzte Innovationen: Sei es die unvermittelte Einführung der parlamentarischen Demokratie in Arabien oder publizistische Versuche den Beliebtheitsgrad der Pussy Riots in ihrem Stammland zu erhöhen, die Verbesserung der Sicherheit für allein reisende Damen in Indien, der Kampf gegen Erdogans Kopftuchmädchen (natürlich nur in der Türkei) und für die Grünanlagenkultur in Istanbul: fast täglich werden kulturbeflissene oder integrationsromantische Säue durchs globale Dorf getrieben.

Veränderungen sind nicht schlecht, sondern selten

Es behauptet ja niemand, daß Veränderungen schlecht sind; es geht nur darum zu sehen, welche Chancen der Change tatsächlich hat. Dazu einige Langzeitbeobachtungen zu publizieren, wird die kulturrevolutionären Heißsporne nicht von ihrem Eifer kurieren. Für den außenstehenden Beobachter mögen sie wertvoll und aufschlußreich sein.

Zuerst das Positive: Witwen werden in Indien nicht mehr prinzipiell verbrannt. Niemand wirft sich mehr unter das Juggernaut-Rad um zermalmt zu werden. In Japan sind Kamikaze, Harakiri und Seppuku rar geworden. In Deutschland hat sich die Rechtssicherheit für Juden seit den 30er Jahren sehr verbessert. Duelle zwischen preußischen Junkern sind unmodern geworden. In der Ex-DDR und in Polen wird nur noch ein Zehntel getrunken, als vor dem Zusammenbruch des Sozialismus. In Frankreich werden Adlige nicht mehr guillotiniert. In Rußland gibt es derzeit wahrscheinlich keine arbeitenden Genickschuß-Anlagen. In Amerika wird kaum noch geteert und gefedert und in Kambodscha werden Brillenträger nicht mehr in Reisfeldern erschlagen. Aber immer schwebt über diesen humanitären Erfolgen die Frage: Wie lange noch? Geschichte ist keine Einbahnstraße!

Die Liste der Langzeitexperimente am Menschen ist lang. 72 Jahre hatten beispielsweise die Sowjets versucht, den internationalistischen Neuen Menschen zu etablieren, der im Weltreich der Arbeiterklasse nicht nach seinen Fähigkeiten, sondern nach seinen Bedürfnissen lebt. Als sich zeigte, daß Dichtung und Wahrheit auseinanderfallen, verschanzte man sich hinter der Ausrede, daß man ja erst im Sozialismus angekommen sei und daß das Versprechen von der Befriedigung aller Bedürfnissen dem Kommunismus vorbehalten sei, für dessen Erreichung man gerade kämpfe. Und daß der Kommunismus erst mal in einem Land aufgebaut werden müsse, dem fortschrittlichsten Land der Welt. Parolen vom großen Sprung, vom Überholen ohne Einzuholen machten die Runde. Sowjetmacht + Elektrifizierung = Kommunismus war auch so eine schamanische Zauberformel.

Rückfall in das 19. Jahrhundert

Zunächst wurde aber mal die Tradition bekämpft. In Rußland wurden Popen und Kulaken totgeschlagen oder totgehungert. Aus anderen unterworfenen Ländern schaffte man die Eliten nach Sibirien oder in die Genickschußanlage. Alle tradierten Wirtschaftsformen wurden zerstört und verboten. Außer den Staatsbetrieben der zaristischen Rüstungsindustrie, die die Blaupause für die gesamte sozialistische Industrie des Ostens lieferten und den russischen Kronbauern, die man in Kolchosbauern umtaufte. Kleinbürgerliche Lebensweisen mit ihrer lokalen Wirtschafts- und Vereinskultur wurden verächtlich gemacht bzw. verboten. Religionen wurden bekämpft und vom Geheimdienst infiltriert. Wer weiter leben durfte, wurde 70 Jahre lang mit Marxismus-Leninismus, Politischer Ökonomie und wissenschaftlichem Kommunismus beschult. Es hat alles nichts genutzt. Ende der 80er Jahre fielen alle Gebiete des riesigen Sowjetimperiums in ihre Traditionen aus dem 19. Jahrhundert zurück, als hätte es die Oktoberrevolution und den Stalin-Hitler-Pakt nie gegeben. Es verblieb lediglich ein wirtschaftlicher Entwicklungsrückstand von mehreren Jahrzehnten.

Die Sowjetunion selbst zerfiel in ihre Bestandteile, kurz bevor die Moslems zur Bevölkerungsmehrheit wurden. In Zentralasien etablierten sich zahlreiche despotische Quasisultanate, die gesellschaftspolitisch und sozialökonomisch an die mittelalterlichen Chanate Chiwa und Buchara erinnern. Das Baltikum, Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei schauen wieder nach Westen und haben mit dem Aufbau  privater Strukturen in Handel, Handwerk und Industrie begonnen. Putin ist orthodoxer Zarendarsteller, der das russische Restreich mit der Ochrana, dem traditionellen Geheimdienst führt. Sein Rußland ist wieder ein zentralistisches Biotop weniger Oligarchen wie im 19. Jahrhundert. Das badische Baden-Baden ist der Spiegel dieser Tatsachen. Statt Großfürsten mit Potjomkin´schen Dörfern bevölkern ehemalige Komsomolzen, die mit Duldung des Kremls attraktive Plätze an Gas- und Ölquellen erobert haben das Casino im Kurhaus. Auch in den untertanen Randgebieten des stalinistischen Imperiums riß überall der alte Schlendrian ein: Generalsekretär Shiwkow verfiel Ende der 80er in traditionellen bulgarischen Nationalismus und schmiss tausende Türken aus Bulgarien raus. Der Rumäne Ceausescu wurde immer mehr zum allmächtigen Bojaren, der seine Bauern in Dracula-Manier traktierte und nach Belieben tötete. Polen wurde in den 80ern erzkatholisch und der tradierte Stolperstein des Etatismus. In der DDR revoltierten in der Schlußphase die Sachsen, Thüringer und Franken gegen das privilegierte und verhaßte Ostberlin. Ungarn öffnete im Gedenken an die Doppelmonarchie die Grenze nach Österreich und löste damit in einer Kettenreaktion den blitzschnellen Zusammenbruch der DDR und der Tschechoslowakei aus. Genauso dramatisch wie das Sowjetreich löste sich das zweite europäische Völkergefängnis Jugoslawien auf. Inzwischen gehen die drei Kulturen, die in diesem Versailler Albtraum zusammengepfercht worden waren friedlich ihre getrennten Wege.

565 Jahre verpaßte Integrationschancen

Im Altertum funktionierte kultureller Imperialismus ebenfalls nicht. Als Rom Griechenland erobert hatte, ließ der stolze Feldherr Lucius Aemilius Paullus prunkvolle Triumphzüge ausrichten, wo er die griechische Beute und die gefangenen Sklaven in Rom zur Schau stellte. Die griechische Eroberung sollte sich später als ein Fehlschlag der römischen Geschichte erweisen. Die Eroberung Griechenlands erfolgte 170 v. Chr., die Spaltung in Ost- und Westrom 395 nach Chr., also 565 Jahre später.  Auch diese 565 Jahre reichten nicht aus, um griechische und lateinische Traditionen und Wirtschaftsgebräuche zu verwässern. Der Osten des Reichs wurde weder kulturell noch wirtschaftlich überformt, obwohl die meisten römischen Gesetze reichsweit galten, Truppen hin und her verschoben wurden, Sklaven transferiert, Güter gehandelt und Tribute entrichtet. Alle Welt mußte sich auf Befehl von Kaiser Augustus schätzen lassen, aber es nützte nichts, es wurde nicht eine Welt.

Eine besonders lehrreiche Episode ist die Bewahrung des Judentums nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstands durch die Römer um 70 nach Chr. Bis 1948 existierte kein jüdischer Staat und trotzdem wurden religiöse und kulturelle Traditionen der Juden in der Zwischenzeit 1.878 Jahre lang gepflegt. Und das fast immer in einem schwierigen Umfeld.

Auch die Kolonialisierung der Welt vom 16. bis 20. Jahrhundert hat keine Kulturverbesserungen oder -verschlechterungen bewirkt, außer daß unglücklichen Indianern nicht mehr das Herz bei lebendigem Leib herausgeschnippelt wird. Allerdings um den Preis, daß die Eroberten weitgehend ausgerottet oder dezimiert wurden und an Seuchen zugrunde gingen. In Afrika und Asien geht es heut zu wie vor dem Erscheinen der Europäer. Nehmen wir nur mal das Beispiel Zentralafrika. Bevor Frankreich das Gebiet 1904 eroberte, veranstaltete der moslemische Rabeh mit seiner marodierenden Privatarmee dort seine Sklavenfänge. Wer nun denkt, daß die Franzosen dort ein generelles Umdenken bewirkt hätten, der irrt. Bereits Kaiser Bokassa (regierte 1966-79) verzehrte kurz nach der Erlangung der Unabhängigkeit nach alter Tradition wieder die Ohren seiner Untertanen und hatte 18 Frauen aus aller Herren Länder. Alles mit dem Segen und der militärischen Unterstützung des Kulturlandes Frankreich. Der französische Präsident hatte außer Helmut Schmidt keine Freunde in Europa und mußte zur Zerstreuung mit dem schwarzen Wüstling Bokassa auf Großwildjagd gehen. Der fromme Papst allerdings weigerte sich, die Kaiserkrönung vorzunehmen. 2013 fielen die moslemischen Herren aus dem Norden wieder in der Hauptstadt Bangui ein und eine teure französische Kriegsexpedition muß die Moslems seither vor der Rache der Eingeborenen beschützen. Wer da einen kleinen Fortschritt erkennen kann, muß von schwersten Halluzinationen geplagt sein.

Zuviel Euphorie, zu hohe Erwartungen

Auch Simbabwe und Südafrika sind für den politischen Phantasten eine schwere Enttäuschung. Beide Übergänge der Macht nach demokratischen Prinzipien an die Bevölkerungsmehrheit waren von viel zu viel Euphorie und Fortschrittsglauben belastet, um die überspannten Erwartungen erfüllen zu können. Man sollte von unseren afrikanischen Freunden nur das erwarten, was auch geleistet werden kann. Das ist in der Regel wenig, in Simbabwe, im Sudan, in Somalia und Liberia noch viel weniger als nichts.

Interessant ist auch das detaillierte Studium der Luft- und Straßenbilder mit Google maps. Man sehe sich zum Beispiel mal die Grenzregion zwischen dem überwiegend moslemischen Albanien und dem orthodoxen Griechenland an. Oder man bereise das Grenzgebiet einfach persönlich und mache zur Erinnerung ein paar Fotos. Auf der moslemischen Seite reichen bebaute Felder und propere gut bevölkerte Ortschaften bis an die Grenze heran. Auf der orthodoxen Seite ist ein 50 km breites nahezu unbewohntes Naturschutzgebiet entstanden, wo um mit Friedrich von Schiller zu sprechen das Grauen in leeren Fensterhöhlen wohnt. Oder man sehe sich das afrikanisch geprägte Haiti und die Dominikanische Republik der latin lovers von oben an. Man kann kaum glauben, daß beide Länder auf derselben Insel liegen. Es ist unbestreitbar, daß es kulturelle Grenzen gibt. Im schlechtesten Fall sind es Binnengrenzen.

Gewalt, Eifer und Erziehung sind keine Lösungen

Aus der Geschichte Roms, der Juden, der Sowjetunion, Jugoslawiens, Afrikas sowie des Restes der Welt kann man lernen, daß Gewalt, missionarischer Eifer und Erziehung keine Lösungen sind. Jahrhundertealte Gewohnheiten sind nicht nachhaltig zu bekämpfen. Weder mit dem Zuckerbot süßer Versprechungen noch mit der Peitsche oder der Kalaschnikoff.

Die betroffenen Adressaten der Umwälzungen in den ideologischen Missionsgebieten hatten immer nur Spott und Hohn für die von den selbsternannten Eliten angepriesenen Veränderungen übrig. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Eines Morgens in der Russenzeit, ich denke es war in der Mitte der siebziger Jahre, saß ich mit einem Fallschirmjäger der sog. Nationalen Volksarmee beim Frühstück zusammen. Wir haben uns fünf Minuten gekrümmt vor Lachen. Er packte als Symbol unserer westlichen Kultur eine Kaba-Büchse aus gelber Plastik aus seinem Rucksack. Auf der stand der Werbespruch „Köstlich in kalter und warmer Milch“. Die ersten Buchstaben hatte er weggekratzt: „Östlich in alter und armer Milch.“