Zur falschen Zeit am falschen Ort – Schule und Pubertät

Vor wenigen Tagen hat WELT online das Thema Gymnasium und Zentralabitur sehr ausführlich besprochen. Leider weniger aus dem Blickwinkel der Schüler. Solange das Thema von Lehrern und Erziehungswissenschaftlern diskutiert wird, bleibt es immer eine Messer- und Gabelfrage. Je länger die Schule dauert, desto ertragreicher für die Lehrerschaft. Acht oder neun Jahre Gymnasium, Gesamtschule, oder was immer für ein Abschluß, sinkende Anforderungen beim Zentralabitur – mein Deutschlehrer hätte gesagt: der WELT-Aufsatz geht teilweise am Thema vorbei.

Ob man ins pädagogische 18. Jahrhundert zurückblickt, in die Zeit des fin de siècle, in meine eigene Oberstufen-Schulzeit am Anfang der siebziger Jahre oder in die meiner Kinder, immer war die Pubertät der eigentliche Feind der Schule und der Bildung. Bis zum Ende der vierten Klasse lief immer alles problemlos. Die Fünfte und bei spätentwickelnden Kindern auch noch die Sechste brachte  auch  Zugewinn an Wissen und Fertigkeiten. Die siebente bis zehnte Klasse hätte man sich komplett sparen können und dazu noch den verbundenen Ärger und Frust. Ab der zehnten Klasse ging es aufwärts, wenn jedoch die Aufnahmefähigkeit für Lernstoff vollständig wieder einkehrt, ist die Schule beendet.

Das ist ja nichts Neues. Harald Schmidt, Justus von Liebig, Verona Feldbusch, Albert Einstein, Otto Waalkes, Hermann Hesse, Boris Becker, Gerhart Hauptmann, Edmund Stoiber, Heinz Sielmann, Iris Berben, Otto von Bismarck, Uwe Ochsenknecht, Thomas Mann, Cosma Shiwa Hagen, Adolf Hitler, Johannes B. Kerner, Carl von Ossietzky, Niki Lauda, Peer Steinbrück und Dirk Bach drehten Extrarunden oder verließen die Schule ohne Abschluß. Bis auf drei der oben genannten haben diese Schulversager im späteren Leben aufgeholt, was beweist, daß sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

„Als ich 14 Jahr alt war, war mein Vater für mich so dumm, daß ich ihn kaum ertragen konnte. Aber als ich 21 wurde, war ich doch erstaunt, wieviel der alte Mann in sieben Jahren dazu gelernt hatte“, schrieb Mark Twain mit einem inversen Blick auf seine Pubertät.

Wikipedia verniedlicht das Problem Pubertät und schreibt über Stimmungsschwankungen, Launenhaftigkeiten und Probleme zwischen Kind und Eltern durch verbesserte Urteilsfähigkeit des Kindes. „Zusätzlich verändern sich mit der körperlichen Reife auch die Rollen der Jugendlichen in ihrem Leben und sie wollen dementsprechend als Erwachsene behandelt werden. Die Heranwachsenden wollen auch für ihren Freizeitbereich mehr Verantwortung übernehmen. Die Eltern wollen ihre Kinder jedoch vor Schaden bewahren und nehmen so eine Gegenposition ein. Die meisten dieser Streitereien sind nur von oberflächlicher Natur und gefährden nicht die schützenden Familienbande. Die Jugendlichen streiten sich auch öfter mit ihren Geschwistern.“

Das ist natürlich Schön- und Dummschwätzerei aus der linken Reformpädagogik. Kein Wort im Wikipedia-Aufsatz über die fundmentalen mit der Pubertät verbundenen Schulprobleme. Ich kann mich dagegen noch gut an zahlreiche Einladungen in die Schule erinnern, wo die Lehrer sich über unakzeptable Behandlung durch Schüler und „Medikamentenmißbrauch“ beschwert haben. Unter den Beschwerdeführerinnen war auch eine Sprachlehrerin, die ein Jahr später in die Großstadt umsiedelte und im Erfurter Gutenberggymnasium von einem Pubertisten erschossen wurde. Wie die Lehrer überhaupt so etwas wie Unterricht in einer dauerbekifften Klasse durchgezogen haben, ist mir ein Rätsel. Und wie sie dieses Problem selbst geschaffen und dann ausgesessen haben ist völlig unakzeptabel.

Meine eigene Schulzeit von der siebenten bis zur zehnten Klasse war weniger durch Aufsässigkeit geprägt, als durch Trägheit, Träumerei und Zerstreutheit. Ich träumte nachts immer von erledigten Hausaufgaben und war morgens verwundert, daß nichts greifbares vorlag. Ich machte permanent die Hausaufgaben für die nächste Stunde und bin dadurch ein guter Krisenmanager geworden. Ist auch eine Kompetenz. Da ich in Gedanken immer bei der nächsten Stunde war, habe ich vom Unterricht nur etwas mitbekommen, wenn Sport folgte oder wenn ich die Hausaufgaben mal nicht vergessen hatte. Und wenn der Lehrer irgendein interessantes Stichwort lieferte, kam ich wieder ins Träumen und war mit den Gedanken im Reich der Freiheit, fern von der Schulfestung.

Ich war kein pädogogischer Einzelproblemfall. Meine achte Klasse begann mit einem Paukenschlag. Sieben Jungen aus der Klasse waren in eine lange und für die Eltern teure Einbruchsserie verwickelt. Bei der Stellung der Täter mußte die Vopo wegen Fluchtversuch die Schußwaffen gebrauchen und schoß ausgerechnet dem Sohn einer Angestellten der SED-Kreisleitung durch die Hand. Heute wird immer behauptet, daß früher alles gewaltärmer, harmonischer und überschaubarer war. Das ist leider Studienratsromantik. Im Bernstein der Erinnerung wird mit der Zeit einfach alles schöner.

Wer „Freund Hein“ von Emil Strauss (1901), „Traumstunde“ von Rainer Maria Rilke (1902), „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind (1906), „Der junge Törless“ von Robert Musil (1906), „Unterm Rad“ von Hermann Hesse (1906) und „Mao“ von Friedrich Huch (1907) gelesen hat, der weiß über die mentalen Probleme der Reformgeneration der vorletzten Jahrhundertwende Bescheid. Noch ein Jahrhundert früher kann man die Persönlichkeits- und (Selbst)Disziplindefizite am kompaktesten bei den Schriftstellern des „Sturm und Drang“ nachlesen.

Ich bekenne ehrlich, daß ich die Schule zwölf Jahre zutiefst gehaßt habe. Ich hatte die letzten 150 Tage meiner Schulzeit ein Maßband, von dem ich die Tage abschnitt. Spätestens ab der siebenten Klasse hätte ich ohne Schule mehr gelernt. Was sollte ich auch mit Fächern wie Staatsbürgerkunde, Russisch und Geschichte (der KPdSU) anfangen? Die Lehrer faselten immer, daß die Schulzeit die schönste Zeit im Leben sei. Ich wagte gar nicht daran zu denken, wie schrecklich das Dasein nach der Schule sein müsse, wenn die Schule schon so besch… war. Liebe Schüler, wenn ihr diesen Eintrag lest: Manche Lehrer sind pathologische Phantasten und das Leben nach der Schule ist lebenswert, relativ selbstbestimmt und attraktiv. Haltet einfach durch!

Das Selbstbild der Lehrerschaft stimmt mit der Wirklichkeit oft nicht überein. Mein Musiklehrer verprügelte mich jede Stunde, zog mich an den Haaren und stellte mich in die Ecke. In der letzten Stunde vor den Ferien hatte er immer ein reformpädagogisches Buch aus den zwanziger Jahren dabei, in dem die perfekte Schule in den höchsten Tönen besungen wurde. Daraus las er dann mit Timbre in der Stimme und rotem Kopf begeistert vor. Alles Märchenstunde. „Die Finsterlinge, gerade sie reden vom Morgenrot, vom schönen Morgenrot“, sang Wolf Biermann zwanzig Jahre später.

Viele Lehrer schmoren im eigenen Saft. Sie waren nie draußen m wirklichen Leben und haben von den meisten Dingen außerhalb der Schule keine Ahnung, reden diese Dinge aber schlecht. Die Chemische Industrie, der Bergbau, die Gentechnik, Kohle- und Atomkraftwerke, Massentierhaltung  und bestimmte Dienstleistungen wie Bundeswehr, Prostitution und Kreditwirtschaft werden von Lehrern bestenfalls ignoriert. Viele Schüler lassen sich beeinflussen und wählen dann Orchideenfächer für ihr Studium wie Kunstgeschichte, Politikwissenschaft, Sprachwissenschaften und irgendwas mit Medien und Kreativität. Oder sie werden Friseusen, Photografen, Veranstaltungstechniker und Kosmetikerinnen. Alles Professionen, die überlaufen sind und in denen man kaum das Schwarze unterm Nagel verdient. Also wirklich: wenn man seine Kinder von der Schule fernhalten könnte, wäre viel gewonnen. Und die Kids wollen in dem Alter ja sowieso nicht in die Schule…

Der WELT-Artikel endet mit dem Hinweis, daß man ja auch mit einer Berufsausbildung ein Studium aufnehmen könne, unter Umgehung des Gymnasiums. Gar nicht so schlecht. Eine Lehre bei einem patenten und konsequenten Meister in der Pubertät ist zwar kein Patentrezept (siehe „Unterm Rad“), aber in der Regel altersgerechter, als ausgerechnet Schule und Gymnasium. Die mit der Pubertät einhergehenden Testosteron- und Östrogenausschüttungen verlangen geradezu nach Bewegung und Aktivität. Die Heranwachsenden wollen Erfolgserlebnisse haben oder Verantwortung übernehmen. Dafür ist die Schule denkbar ungeeignet. Schule und Studium könnte man an eine berufliche Qualifikation anschließen, wenn die jungen Persönlichkeiten wieder etwas stabiler sind. So mit 17 oder 18 Jahren. Nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung der Schüler können die Lehrer ihren Opfern nichts mehr vormachen und wären zu mehr Tiefgründigkeit in der Unterrichtsvorbereitung gezwungen. Es würde mehr Waffengleichheit zwischen Schülern und Lehrern herrschen.