Energie ist das Lebenselexier der Industrie

Das amerikanische Industriewunder – im Dezember 2014 wuchs die Industrieproduktion um 4,8 % gegenüber dem Vorjahr – ist nicht auf die Gelddruckexzesse der FED zurückzuführen, sondern auf die historisch niedrigen Energiepreise in den Vereinigten Staaten. Der amerikanische Erdgaspreis für die Industrie beträgt nur ein Viertel der deutschen Kosten. Wenn sich dieser Kostenabstand mittelfristig verfestigt, wandert die deutsche Industrie aus. Und nicht nur die deutsche. FIAT ist zum Beispiel gerade auf dem Weg nach Amerika. Volkswagen, BASF und der halbe Dax investieren in den Vereinigten Staaten und nicht in Deutschland. Die europäische Industrieproduktion stagniert. Investitionen gehen zurück. Denn billige Energie ist neben dem Funktionieren von Märkten das Blut der Wirtschaft.

Die europäischen Eliten hören es nicht gerne. Im Interesse der Zukunft Europas ist es aber Zeit, Augen und Ohren aufzusperren: Es ist höchste Eisenbahn das TTIP-Abkommen abzuschließen, um in den Genuß billigen Gases zu kommen. Schiedsrichter im Streit um amerikanische Gasexporte ist das staatliche Department of Energy in Washington DC, welches Genehmigungsbehörde für die US-Ausfuhren ist. In den vergangenen Jahren hat das Energiedepartment von mehr als 20 Anträgen auf den Export von Flüssiggas nur sechs genehmigt. Die Vereinigten Staaten sitzen auf ihrem billigen Gas, verhindern den Export und ernten die ersten Früchte. Die amerikanische Industrie blüht nach langem Dornröschenschlaf auf.

Ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten hätte natürlich zur Folge, daß die Ausfuhrverbote für amerikanisches Gas Geschichte wären. Alle anderen Aspekte des Abkommens sind gegen die Auswirkungen auf den Energiepreis unerheblich. Chlorhühnchen, Thüringer Bratwürste aus Kentucky und andere Horrorimporte sind ökonomisch eine Randnotiz und geradezu lächerlich gegen die günstigen Auswirkungen auf den Energiepreis. Selbst wenn die USA außer Erdgas nur Kakerlaken nach Europa liefern würden, müßte man das Abkommen befürworten. Denn der Gaspreis würde bei Freihandel in Europa nicht nur sinken, sondern gleichzeitig würde er in den Staaten steigen. Und damit würden fairere Wettbewerbsbedingungen im Welthandel herrschen, als derzeit.

Die Erdgasversorgung Deutschlands ist ganz auf den Transport per Pipeline ausgerichtet. Damit steht Deutschland in Europa fast alleine da. Nur einige Binnenländer wie Tschechien, die Slowakei, Österreich und Ungarn können nicht anders. Frankreich, die Niederlande, Italien, Griechenland, das Vereinigte Königreich, Spanien, Polen, Litauen, Kroatien, Irland, Portugal und Belgien können verflüssigtes Gas (LNG) importieren, das per LNG-Tanker geliefert wird bzw. Empfangsterminals werden gerade fertig. Norwegen ist auf fremdes Erdgas nicht angewiesen und auch in Schweden und der Schweiz spielen Einfuhren von Erdgas keine große Rolle.

In einem EU-Papier „Energieinfrastrukturprioritäten bis 2020 und danach“ heißt es: Während auf EU-Ebene die Lieferungen über drei Korridore – den nördlichen Korridor aus Norwegen, den östlichen Korridor aus Russland und den Mittelmeer-Korridor aus Afrika – und durch LNG diversifiziert ist, sind einige Regionen noch von einer einzigen Erdgasquelle abhängig. Jede europäische Region sollte bis 2020 eine Infrastruktur aufbauen, die physischen Zugang zu mindestens zwei unterschiedlichen Quellen bietet. LNG ist hierfür der Schlüssel.

Die Anlandung von Flüssiggas hat den Vorteil, daß der Lieferant entsprechend der aktuellen Preiskulisse und bei politisch motivierten Embargos gewechselt werden kann. Die politische und ökonomische Erpeßbarkeit wird geringer. Man muß dabei einen Zeithorizont überblicken, der über die Herrschaft der derzeitigen Machthaber hinausreicht. Wenn Putin eines Tages zum Beispiel vom Hätschelkind der europäischen NGO´s Alexei Anatoljewitsch Nawalny abgelöst würde, bekäme es Europa mit einem aggressiven russischen Nationalismus zu tun. Betroffen wäre vor allem Deutschland wegen seiner unflexiblen Pipeline-Infrastruktur.

Auch die Zukunft Weißrußlands und der Ukraine ist ungewiß. Die Jamal-Leitung führt durch die unberechenbare sumpfige Lukaschenka-Republik. Die „Freundschaft“-Leitung durchquert die konfliktbeladene Ukraine, die nach jeder Wahl den politischen Kurs wechselt. Nur Nordstream führt durch kein Krisengebiet. Hier bleibt aber das Preisargument. Die Russen können machen, was sie wollen. So billig wie die Amerikaner und Araber produzieren sie nicht.

Die Gewinnung in Sibirien erfolgt unter klimatisch schwierigen Bedingungen. Und auch relativ weit weg von den Verbrauchern. Ab einer Transportentfernung von 2.000 km ist der Tankertransport billiger, als das Abdrücken über die Pipeline. Jeder Kilometer Pipeline-Transport kostet Energie. Der Tanker-Transport natürlich auch, aber weniger.
2.000 km sind es von Berlin nach Moskau. In Moskau gibt es jedoch kein Gas. Bis in den autonomen Kreis der Jamal-Nenzen – ein ergiebiges Fördergebiet – ist die Leitung fast 6.000 km lang. Da kommen zu den Produktionskosten erhebliche Transportaufwendungen. Ein weiteres Fördergebiet erstreckt sich vom Nordmeer (Timan-Petschora Erdöl-Erdgas-Gebiet) am Ural entlang (Wolga-Ural Erdöl-Erdgas-Gebiet) bis zum Kaspischen Meer (Vorkaspi Erdöl-Erdgas-Gebiet). Die Transportentfernung ist etwas geringer, die zukünftige Förderung aber auch.

Derzeit sind die Gasmärkte der Welt künstlich getrennt. Dadurch kommen lokale Monopole mit entsprechender Preisbildung zustande. Eine preiswerte Energieversorgung Europas ist nur möglich, wenn Rußland, Aserbaidshan, die Vereinigten Staaten, Algerien, Lybien, Katar, Jemen, Indonesien, Malaysia, Australien, Ägypten und die Emirate in eine Wettbewerbssituation, in einen gemeinsamen Markt eintreten. Das ist mit Freihandel und einer geeigneten Infrastruktur möglich.

Es würden übrigens nicht nur Industrieverbraucher von einer Sekung des Gaspreises profitieren. In vielen Ballungsgebieten Deutschlands und teilweise sogar in ländlichen Räumen gibt es Erdgasanschlüsse für Privatkunden. Deutsche Privatkunden zahlen derzeit den dreifachen Gaspreis wie in den Staaten. 

Die deutsche Gaswirtschaft und die deutsche Regierung müssen endlich ausschlafen und die Infrastruktur für die Anlandung von Flüssiggas und die erforderliche Refrigeration in die Gasphase schaffen. Der untergenutzte neue Nordseehafen  JadeWeserPort wäre ein möglicher Standort. So ein Regasifizierungsterminal ist nicht von heute auf morgen gebaut. Planung und Errichtung dauern in der Regel vier bis fünf Jahre. Es ist Zeit, die weisen Papiere der EU in die Tat umzusetzen. Sonst droht der europäischen Industrie mittelfristig das Aus. Und der Privatkunde wird ohne Not zur Ader gelassen.