NSU-Verfahren wird zum Dauerzustand

Eigentlich sollte sich die Publizistik mit Gerichtsverfahren nicht befassen, um die blinde Göttin Justitia bei der Suche nach der reinen Wahrheit nicht zu verwirren. Gerichtsprozesse, in die zahllose Verfassungsschutz- und Staatsschutzbehörden verwickelt sind, sind jedoch immer vertrackt und führen selten zu einem befriedigenden Ergebnis. Man erinnere sich nur an das gescheiterte Verbotsverfahren gegen die NPD. Oder die über Jahre verschleppten Ermittlungen gegen den Polizeispitzel Fritz Haarmann, der in Hannover mindestens 24 Kinder und Jugendliche unter den Augen der preußischen Behörden in aller Ruhe ermorden konnte. Die Behörden haben, wenn sie denn involviert sind, ein verständliches, jedoch der Aufklärung nicht eben dienliches Vertuschungsbedürfnis.

Es ist so ein verhexter Kasus, der den Staatsschutzsenat in München seit dem 6. Mai 2013 beschäftigt. Eine Mordserie, deren Zusammenhang eigentlich nur durch die Tatwaffe hergestellt wird. Und an die Odyssee dieser Pistole hat niemand eine exakte Erinnerung. Als wäre sie auf der Suche nach dem Goldenen Vlies in grauer Vorzeit in den Besitz der Hexe Circe geraten. Richter Götzl hat Verhandlungstermine bis Januar 2016 angesetzt. Eigentlich begann das Verfahren am 8. November 2011, als Beate Zschäpe sich bei der Polizei meldete. Man kann also mit einer Verfahrensdauer von fünf Jahren rechnen.

Nun ist der Fall freilich komplex. Die Morde sind ja auch nicht an einem Tag verübt worden, sondern über fast sieben Jahre und zahlreiche Tatorte verteilt von 2000 bis 2006.

Von Anfang an war die Beweislage gemessen am Ermittlungs- und Prozeßaufwand dürftig. Nicht zuletzt, weil vieles auf Zeugenausssagen beruht, dem schwächsten Beweismittel, über das die Justiz verfügt. Und die Zeugen haben fast alle Alzheimer. Mittlerweile ist vom zweiten Mord die Rede, der von einem V-Mann und nicht von den beiden NSU-Uwes begangen wurde. Wichtige Beweismittel wie die Fotos der Feuerwehr am Tatort Eisenach sind verschwunden bzw. wurden unterdrückt. Wieso mußten diese Fotos eigentlich konfisziert werden? Um sie verschwinden zu lassen?

Die Anklage beginnt langsam als von der Bundesanwaltschaft konstruiert und aufgebauscht zu erscheinen. Auch die Einbeziehung verschiedener anderer Rechtsradikaler in die Anklage macht den Prozeß unnötig sperrig und war wohl ideologisch und volkspädagogisch motiviert. Zschäpe habe die „unverzichtbare Aufgabe“ gehabt, „dem Dasein der terroristischen Vereinigung den Anschein von Normalität und Legalität zu geben“, u. a., indem sie an den „jeweiligen Wohnorten eine unauffällige Fassade“ gepflegt und die gemeinsame Wohnung „als Rückzugsort und Aktionszentrale“ gesichert habe. Zudem sei sie „maßgeblich für die Logistik der Gruppe verantwortlich“ gewesen. So habe sie das Geld aus den Raubüberfällen verwaltet und mehrfach Wohnmobile angemietet, darunter ein Tatfahrzeug, so die Bundesanwaltschaft in der 500-seitigen Anklageschrift. Laut einem „daktyloskopischen Sachstandsbericht“ sollen DNS-Spuren von Zschäpe an Zeitungsartikeln über den Sprengstoffanschlag in Köln und dem Mord an Habil Kilic gefunden worden sein. So referiert Wikipedia die dürftige aber dennoch voluminöse Anklage.

Es ist freilich nicht die Aufgabe einer Staatsanwaltschaft Angeklagte zu entlasten, sondern möglichst viel Material auf den Tisch des Richters zu legen. Es sollte allerdings kein Müll sein. Das Studium einer Zeitung, und sollte es selbst die BILD-Zeitung mit den großen Buchstaben sein, die nicht gerade zur Lieblingslektüre der germanischen Linksintellektuellen gehört, sollte nicht zum Straftatbestand aufgebauscht werden. Auch muß man sich fragen, weshalb Margot Honecker unangeklagt davongekommen ist, obwohl sie ihrem Ehemann weitaus mehr als den „Anschein von Normalität und Legalität“ verschafft hat. Sie hat nicht nur die politbürokratische Haushalltskasse verwaltet, sondern mit rumregiert und wird für Zwangsadoptionen verantwortlich gemacht. Auf dem linken Auge ist die Justiz bekanntlich blind.

Die Anklage muß zumindest in einigen Punkten Aussicht darauf haben zu einer Verurteilung zu führen. Jedenfalls wenn der Verhandlungstag den Steuerzahler etwa 150.000 € kostet und schon etwa 210 Tage davon stattgefunden haben. Der neutrale Beobachter bekommt immer mehr den  Eindruck, daß das Verfahren ausgehen wird wie das Hornberger Schießen, weil immer mehr Widersprüche ans Licht kommen und Beweiskonstruktionen sich als nicht stichhaltig erweisen.

Damit stellt sich gleichzeitig die Frage nach der Angemessenheit der Prozeßdauer. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte ein Beschleunigungsgebot in der Rechtsprechung festgestellt.

Mit dem Beschleunigungsgebot sollte unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gewährleistet werden, dass der Angeschuldigte nicht länger als unbedingt nötig den Belastungen ausgesetzt wird, die mit einem Strafverfahren verbunden sind. Zu diesen Belastungen gehören nicht nur die Zwangsmaßnahmen, denen der Tatverdächtige unterworfen werden kann, wie im Fall Zschäpe Untersuchungsghaft, sondern insbesondere auch die Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens sowie die mit dem Verfahren verbundenen Auswirkungen auf die private und berufliche Situation des Angeschuldigten. Weiterhin ist die Suche nach der Wahrheit umso schwieriger wird, je länger die Taten her sind, welche im Verfahren untersucht werden sollen. Das beweist fast jeder Verhandlungstag.

Frau Zschäpe verweigert seit Beginn jede Aussage vor Gericht. Das führt jedoch nicht dazu, daß eine lange Verfahrensdauer mit der Begründung gerechtfertigt werden kann, daß die Angeschuldigte es unterlassen habe, mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. Die Angeklagte hat nach wie vor einen garantierten Anspruch darauf, dass ohne unnötige Verzögerungen über Schuld oder Unschuld entschieden wird.

Die Medien haben vor Prozeßbeginn ein Monstergemälde von der Frau gezeichnet. Die TAZ schrieb zum Beispiel von der „bekanntesten Kriegerin des rechten Lagers“. Derzeit laufen die Dreharbeiten für einen ARD-Dreiteiler über die Terrorzelle NSU bereits. Die Ausstrahlung ist frühestens für 2016 vorgesehen, um das Urteil noch abzuwarten und den Eindruck einer Vorverurteilung zumindest formal zu meiden. Die Rollen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt haben Albrecht Schuch und Sebastian Urzendowsky übernommen. Das Buch schrieb Thomas Wendrich, Regie führt Christian Schwochow. Wie kann das Drehbuch bereits fertig sein, ohne daß das Urteil verkündet wurde? Gibt es Hinweise des Richters an die Sendeanstalt?

Eine russische Anekdote klärt uns über die Wahrheitsliebe der Funkmedien auf: Babuschka, die Großmutter bringt den gestern gekauften Fernseher zurück ins Geschäft. „Ist schon was kaputt?“, fragt der Verkäufer. Die Oma: „Ja, er lügt!“