Zucker ist das neue Teufelszeug

Gerade hat sich das ehemals als Gefahrstoff eingestufte Cholesterin als vermeintlicher Totmacher des menschlichen Blutkreislaufes quasi in Luft aufgelöst. Man darf plötzlich mit dem Segen der Ernährungswissenschaft wieder unbeschwert Eier essen. Das Strafmaß für die Aufnahme von Eiweiß, Fett, Spuren von Kohlenhydraten und Vitaminen wurde auf nichts herabgesenkt. Man darf seinen Bedarf am knochenstabilisierenden Vitamin D, an Vitamin B12 für die Blutbildung, an Vitamin A, sowie seiner Vorstufe Provitamin A, an Vitamin E für Zellen und Gefäßwände und an Vitamin B6, das für das Immun- und Nervensystem wichtig ist, ohne schlechtes Gewissen decken. Auch die im Ei herumvagabundierenden Mineralstoffe Natrium, Kalium, Kalzium, Phosphor, Magnesium, Eisen, Jod, Fluor, Zink, Kupfer, Mangan, Chrom, Selen, Kalzium, Phosphor und Eisen sind plötzlich wieder wichtiger, als das bißchen Cholesterin – ein Ei enthält davon ganze 0,28 Gramm. Denn die körpereigene Cholesterinproduktion wird bei Aufnahme von Cholesterin zurückgefahren, so daß bei normalen Eieressern das mit der Nahrung aufgenommene Cholesterin den Cholesterinspiegel im Blut kaum ansteigen lässt. Dafür sorgt der Lecithin-Gehalt von Eiern, das die Aufnahme des Nahrungscholesterins im Darm hemmt. So belehrt uns das Gesundheitsportal lifeline.

Aber kein Dispens ohne ein neues Verbot. Der neue Ernährungs-Satan heißt Zucker und des Teufels Großmutter nennt sich Getreide. Seitenlange Warnungen muß man sich zum Beispiel im fundamentalistischen „Zentrum der Gesundheit“ durchlesen:

Lassen Sie Zucker weg. Aber bitte jede Art und auch die kleinste Spur von Zucker. Lesen Sie akribisch jedes Zutatenetikett oder besser noch, sparen Sie sich das, denn Sie werden sowieso kaum (fertig abgepackte) Produkte finden, die weder Zucker noch Getreide enthalten.
Frischkost heißt die Devise. Getreide auch weglassen? Meiden Sie gleichzeitig alle Getreideprodukte. Im Hinblick auf die Tatsache, dass das heutige Getreide ebenfalls untauglich ist, lassen Sie auch Vollkornprodukte weg.
Sie werden alsbald erleben, wie Sie zu rotieren anfangen, wie Sie plötzlich an nichts anderes mehr denken können, als an Nudeln – und für eine Scheibe trockenen Brotes werden Sie spätestens am dritten Entzugstag bereit sein, gewisse Summen auf den Tisch zu legen, die Sie womöglich gar nicht haben. (…) Sollte es Ihnen überhaupt gar nichts ausmachen, ohne Zucker- und Mehlspeisen ihr Leben zu verbringen, dann sind Sie eine wirklich ungewöhnliche Ausführung des gegenwärtigen Zivilisationsmenschen und können sich unglaublich glücklich schätzen.“

Als Nachkriegskind bin ich mit verzuckerten Marmeladen groß geworden. Der Garten war die wichtigste Nahrungsquelle. Um mit den Kalorien von zwei oder drei Marmeladenbroten bis zum Nachmittag durchzukommen, aber auch zur erfolgversprechenden Konservierung, wurden an das Gelee und die Marmeladen Unmassen Zucker drangegeben. Die erste Woche schmeckte das noch. Je länger der Winter sich hinzog, um so mehr aß man das Frühstück mit Widerwillen. Aber außer Auswirkungen auf die Zahngesundheit war damals nichts Nachteiliges zu bemerken. Fast alle Kinder waren rasseldürr, es gab in meiner Grundschulklasse mit 42 Kindern keinen einzigen Allergiker, die Kinder waren in der Schule nicht hyperaktiv und brauchten anders als bei den Simpsons keine Schulpsychologen und Sozialarbeiter.

Gerade auf das Marmeladenbrot haben es die Gesundheitsfexer jedoch abgesehen: „Die isolierten Kohlenhydrate – Weißmehl und Fabrikzucker – sind nichts anderes als komprimierte Glucose. Es fehlt ihnen einfach an allem. Auch Ballaststoffe fehlen dem Marmeladebrot. (…) Deshalb passiert jetzt Folgendes: Die Glucose schwappt ungebremst ins Blut und löst dort einen regelrechten Zuckerschock aus“, belehrt uns die Gesundheitsseite. Trotz dieses millionenfach eingetretenen Schocks werden die überzuckerten Kinder der Nachkriegszeit heute um die 90 Jahre alt.

Und dann kommen die alten kulturpessimistischen Argumente der Dekadenz unserer „künstlichen“ Nahrungsmittel:

„Die nächste Frage wäre, warum der moderne Mensch glaubt, seinem Körper zu diesem Zweck (der Energieaufnahme) gerade Zucker und andere isolierte Kohlenhydrate zuführen zu müssen – bzw. warum er davon überzeugt ist, nicht mehr von Blättern (Salaten), Wurzeln und den Früchten der Bäume satt werden zu können??
Vor einigen zehntausend Jahren stand unseren Vorfahren nichts anderes zur Verfügung, und ihre Körper leisteten bei Weitem mehr als die unsrigen, die oft nichts weiter tun, als die Sitzfläche irgendeines Chefsessels zu wärmen. (…) Übrigens stand auf dem Speisezettel unserer Ahnen auch kein Getreide. Vielleicht aßen sie dann und wann frische Samen von Wildgräsern, doch sicherlich sammelten sie nicht in stundenlanger Plackerei Hunderttausende dieser Winzlinge, um sie anschliessend zu häuten, irgendwie in einen mehlähnlichen Zustand zu versetzen und daraus so etwas wie Brot oder Kuchen zu fabrizieren.
Selbst wenn, so wären diese sonnengetrockneten Grassamenfladen niemals von jener miserablen und hochgradig schädlichen Qualität gewesen wie heutiges Brot – von all den künstlichen Zusätzen und vom Umstand des Erhitzens bei 200 Grad und mehr wollen wir einmal absehen und nur das Getreide an sich betrachten.
Modernes Getreide ist, wie eigentlich fast all unser Gemüse und Früchte, völlig überzüchtet. Zu den wichtigsten Zuchtkriterien gehören große Körner, also höchstmögliche Ausbeute pro Ähre und ein hoher Glutengehalt. Je höher der Glutengehalt, um so besser sind die Backeigenschaften des Mehles und um so höher ist bei vielen Menschen die Gefahr, Allergien gegen dieses unnatürliche Eiweiß zu entwickeln.“

Die bauernschlauen gesundheitsbewußten Urmenschen und unsere dumme verantwortungslose, krankmachende Gesellschaft. Welcher Gegensatz und welche Anklage lassen sich daraus konstruieren! Das Dumme nur: die alten Germanen sind mit ihrer ganzen Ernährungsweisheit im Durchschnitt mit 30 Jahren abgekratzt. Solche Argumente prallen an Fanatikern allerdings ab:

„Wer ohne Zucker und isolierte Getreidegerichte aufwächst, verabscheut üblicherweise beides und weigert sich mit fest verschlossenen Lippen, auch nur den kleinsten Bissen solch einer Mahlzeit in seinen Organismus zu lassen.“

Die Zucker- und Mehlverächter sind mittlerweile in die Kindergärten eingedrungen und fangen an, die Schulernährung zu beeinflussen. Und wo Verbote wuchern, sind die Grünen nicht weit: Renate Künast will Kinder vor falscher Ernährung schützen. Zucker sei der neue Tabak, sagt sie.

Die Grünen haben mit den Moslems die Verbotsphilosophie gemeinsam, sind aber wesentlich radikaler als die saudi-arabischen Wahhabiten. Die haben ja nur Alkohol und Schweinefleisch verboten. Konfitüre ist offensichtlich halal (erlaubt). Das ständige Komitee für islamische Forschung und Rechtsfragen hat das Rechtsgutachten Nr. 6541 zu diesem Themenkreis erstellt:
Frage: Wie ist die Regelung über Konfitüre und Süßigkeiten, die Alkohol enthalten?
Antwort: Wenn das Essen und Trinken davon in großen Mengen berauschend wirkt, ist es verboten diese in kleinen Mengen zu essen oder zutrinken. Ansonsten ist es legitim diese unabhängig von der Menge zu essen oder zu trinken. (…).

Ich würde den Mehlfeinden empfehlen, den Kampf gegen das Mehl als „Kampf gegen Rächts“ zu inszenieren. Denn der Erfinder des Vollkornbrots war der antisemitische und völkische Gesundheitspropagandist Gustav Simons. Und die NS-Propagandamaschinerie trommelte für Vollkornbrot, natürlich nur mit deutschem Mehl. Heiko Maas, Claudia Roth und Anetta Kahane könnten wieder mitmischen.

Was waren das für schöne und liberale Zeiten, wo man seine Gesundheit noch dem Lieben Gott anvertraute und unbeschwert mit Alkohol, Zucker, Schweinefleisch, Kuchen und Brot seiner Wahl schlemmen durfte…