Fantasia triumphierte schon einmal über Fakten

Wir leben in einer postfaktischen Zeit. Das bedeutet, daß Tatsachen und Naturgesetze in der Politik keine Rolle mehr spielen, sondern daß es nach dem uneingeschränkten Willen der oberen Zehntausend geht. Daß in Talkshows und in der Regierungspraxis der obersten Ebene Gefühle, Wünsche und Ängste den Vorrang vor dem systematischem Erkennen der Realität haben. Die Energiepolitik, die Geldpolitik und die Einwanderungspolitik sind Tummelplätze von Fantasten geworden. Hinter der Formel „Wir schaffen das“ steht drohend: „Schicksal, ich zwinge dich!“

Schon einmal hat es in Deutschland einen Schub der Irrationalität gegeben. Ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Zwar machten Werner von Siemens, Carl Benz und Gottlieb Daimler bahnbrechende Erfindungen. Elektrizität, Automobilität, Telefon und Wasserversorgung hielten als Fakten des Fortschritts überall ihren Einzug, als das im Elfenbeinturm der Ideologie lebende Bildungsbürgertum sich angeekelt von der Wissenschaft abwandte.

Das Ende der Periode der Volksbildung und Aufklärung und des unhinterfragten technischen Fortschritts begann sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst vage abzuzeichnen. Ab den 80er Jahren gewann Friedrich Nietzsche großen Einfluß auf Intellektuellenkreise. Seine Philosophie war vor allem Kult des Natürlichen, der Gewaltsverherrlichung und des Elitarismus. Die Angriffe richteten sich gegen die erkennende Wissenschaft.

„In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernden ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben. So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt.“

So schrieb Nietzsche in „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“. Mit der Ablehnung der Annäherung an die Wahrheit durch langsam voranschreitende Erkenntnis wurde letztlich denen das Tor weit geöffnet, die die Welt mit unerprobten neuen Gesetzen regieren wollten. Das aufgestoßene Tor eröffnete den Weg auf eine breite Reform- und Versuchsstrecke, die an ihrem Ende in einer kolossalen Sackgasse endete. Im Kaiserreich lag die Kinderstube der neuen Reformideen, die Jugendzimmer waren die Unterstände des Weltkriegs und die Weimarer Republik und im Dritten Reich endlich wurde mit vollem Dampf auf die lange prophezeite Reinigung hingearbeitet, die sich als das entpuppte, was die Schwabinger Literaten vorausgesagt und gewollt hatten: als Reinigungskatastrophe.

Die Befindlichkeit der Bildungsbürger des ausgehenden 19. Jahrhunderts und insbesondere der Lebensreformer war trotz oder gerade wegen der technischen Fortschritte, trotz zunehmendem Wohlstand, auf allen Gebieten zivilisationspessimistisch. Dieser Pessimismus wechselte sich oft ohne Übergänge mit Überschwang ab. So auch bei Nietzsche. Angriffe gegen die Verwissenschaftlichung des Lebens verbunden mit einem virulenten Kulturpessimismus wechselten sich mit Phantasien vom Übermenschen und einer neuen Kulturperiode ab.

Zurück zu den Wurzeln war gerade nicht in, fort in kosmische Weiten, Aufbruch zu neuen Ufern. Der „Übermensch“, die „blonde Bestie“, die „Sklaven- und Herrenmoral“, das „unwerte Leben“, der „Wille zur Macht“, das waren Propagandapässe, die den Oberlehrern, Studenten und Journalisten in den Lauf gespielt wurden.

Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!
Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.
Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.
Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang; über die Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang!
Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, daß Blut Geist ist.
Die Luft dünn und rein, die Gefahr nahe und der Geist von einer fröhlichen Bosheit: so paßt es gut zueinander.
Ihr sollt den Frieden lieben, als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen.
Der Krieg und der Muth haben mehr große Dinge gethan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.
Der Mann soll zum Kriege erzogen werden, und das Weib zur Erholung des Kriegers: Alles andere ist Thorheit.

So wie Nietzsche an einer neuen Philosophie bosselte, seine Kritik über Empirismus und Vernunft ausgoß, die Natur und den Übermenschen pries, so hatte in England bereits in den sechziger Jahren der Phantasyautor und utopische Sozialist William Morris mit der Bekämpfung der „kulturzerstörenden“ Einflüsse der Industrialisierung begonnen. Er belebte alte Handwerkstechniken, um wieder zur mittelalterlichen Produktionsweise zurückzufinden. Bei der Produktion seiner Wandteppiche setzte er auf die ornamentale Fülle mittelalterlicher Vorbilder. Morris wird als Vater des Jugendstils verehrt.

Gegen die gerade Linie, das Dreieck, die Kolonne rebellierte die geschwungene Linie als Natursymbol. Pflanzen aus Stuck rankten sich die Fassaden empor, Blätter und Lianen wucherten an Vasen, Gläsern und Kaffeetassen. Vor den Gebäuden reckten sich nackte Kollosse, Giganten und Sportler mit unverdeckten Fortpflanzungswerkzeugen. Der nackte Mensch war die Projektionsfläche unerfüllter Allmachtsphantasien, ob als Amazone oder als Titan. Ein übersteigertes Ich in einer übersteigerten Welt der zunächst noch unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten. So wie die heutigen Grünen die Naturnähe des Menschen und der Gesellschaft zelebrieren, so taten das um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert die Eliten der Lebensreform.

Reflexhaft entstanden ab dem endenden 19. Jh. zahllose Lebensreformansätze, die notwendig immer eine Ausgestaltung als Heilstheorien erfuhren, von den Nudisten und Wandervögeln über die Anthroposophen, Okkultisten bis zu den Antisemiten. Gelüftete Schlafzimmer, bequeme Unterwäsche, Reformkleider, Kneipp-Sandalen, Leibesverrenkungen in Kraftkunstinstituten, Judenvertilgung, Vegetarismus, Reformhäuser, Menschenzucht, Lichttherapien und die Nachrichten vom „Berg der Wahrheit“ im Tessin sollten die Gebrechen der Gesellschaft nicht lindern, sondern heilen. Diese vom transzendentalen ins irdische verlagerte Heilssucht war die mentale Grundlage für die Abwendung von der Realität. So wie auch heute unter Merkel vollbrachte die deutsche Industrie damals Höchstleistungen ohne dafür vom medialen und politischen Bereich geachtet zu werden. Immer werden Produzenten nur als gewissenlose Verschmutzer und kulturlose Verschandeler, Wachstumsfetischisten und neuerdings als CO2-Mafia erwähnt.

Achim Preiss stellte das in seinem Heft „Abschied von der Kunst des 20. Jahrhunderts“ zutreffend so dar:

„Als das geeignete Instrument zur Fortschrittsbeherrschung oder – unterwerfung erschienen Religionssysteme. Es gründeten sich zu diesem Zweck meist jugendoptimistische Vereinigungen, Bünde, Sekten, die alle an dem Entwurf einer neuen, nicht-chaotischen Lebenskultur arbeiteten und die ein gemeinsames Feindbild hatten – den nur von Kommerz und Hochtechnologie angetriebenen Fortschritt. Die praktizierten Formen der neuen Lebenskultur zielten darauf, das Gefühl in die Lage zu bringen, den Verstand zu kontrollieren, die Vorherrschaft des Verstandes zu brechen, um damit die Vormacht der Technik zu beenden. (…) Der Entwurf des verlorenen, irdischen Paradieses stellte sich als Aufgabe einer reformierten Kunst und Kultur, die sich vom Diktat der Wissenschaft und Forschung befreit hatte, die sich nicht mehr nur an ein gebildetes Fachpublikum richtete, sondern an das ganze Volk. Um die große Popularität zu erreichen, entwickelte die Kultur- und Lebensreform unter Ausnutzung der frühen psychologischen Forschungsergebnisse eine auf Empfindungen, Nachempfindungen ausgerichtete Vermittlung. Man suchte zu diesem Zweck nach Kontinuität, nach überhistorischen ewig gültigen, immer gleichbleibenden Ausdrucksformen, Motiven, Proportionsgesetzen und Farbklängen, die sich für eine Neuformulierung der Kunst verwenden ließen, für eine neue Sprache der Kunst, die sich hauptsächlich über sentimentale Wirkungen verständlich machen wollte. Es entstanden daher zur Jahrhundertwende eine ganze Reihe kunsthistorischer und historischer Interpretationssysteme, die psychologistische, rassistische, biologistische und anthropozentrische Ansätze verfolgten. (…) So wurden nicht nur die zentralen Ideen des 19. Jahrhunderts, sondern auch die Bedeutung und die Beweiskraft der Geschichte, der Entwicklung entmachtet. In diesem Zusammenhang wurde die Geschichtsbetrachtung Friedrich Nietzsches und anderer Lebensphilosophen populär, die der Geschichte eine materialistische Logik absprachen. Es ging ihnen letzten Endes darum, die Dynamik der Entwicklung zu brechen und zwar mittels einer völligen Irrationalisierung der Geschichte, die damit der Stillstandsideologie ausgeliefert wurde. Die unwiederholbaren Ereignisse verloren auf diesem Weg ihre Bedeutung, und sie sollten keine weiteren Ereignisse mehr produzieren können. An die Stelle dieser Art Fortschritt traten die ewigen Werte des menschlichen Seins, die sich seit dem Beginn der Zeiten in der Seele, in den Gefühlen als unabänderliche Verhaltens- und Empfindungsmuster eingelagert hatten. Diese Werte sollten wieder Gültigkeit erlangen und die Gegenwart bestimmen. Geschichte war demnach nicht durch dynamische Folge materieller Problemlösungen bestimmt, sondern durch die menschliche Willkür, nicht durch Verstandesleistungen, sondern durch Gefühlsstärke, nicht durch Technik, sondern durch Kultur, wenn sie als Medium des starken Willens und der starken Seele diente.“

Ab 1900 nahm die Reformpädagogik ihren Lauf. Da der Verstand als Quelle allen Übels gerade unter Beobachtung stand, triumphierte notwendig auch in der Erziehungswissenschaft das Gefühl. Dem Kinde sollte idealtypisch nichts beigebracht werden, sondern das dem Kinde vermeintlich inhärente „eigene Wesen“ sollte entwickelt, das „volle starke persönliche Kinderleben“ forderte sein Recht.

Auslöser war das 1899 erschienene „Jahrhundert des Kindes“ von Ellen Key. 1905 war es in Deutschland bereits 26.000 mal verkauft worden. Die Schule sollte Gesamtschule sein, das Prinzip der Ganzheitlichkeit des Lernens mit Herz, Gefühl, Kopf und Hand verkörpern. Bereits 1899 wollte Key auf Zensuren und Belohnungen verzichten und den obligatorischen Stoff gegenüber den Wahlfächern einschränken. Mythisierung und Romantisierung des Kindes, das Dogma des „Wachsenlassens“ nahmen breiten Raum ein, in die Kinderseele wurde mehr hineingedeutet, als von Natur aus drin war. Sie wurde leicht zum Zerrspiegel reformpädagogischer Wünsche, was man an in die Schule mitgebrachtem Wesen zu erkennen wünschte, fand man irgendwie auch, oder man projizierte es in das Kind.

Am Ende der Friedensperiode 1914 hatte sich die Lebensreform in ernährungs- und gesundheitsbezogene, siedlungs- und wohnreformerische, körperbezogene, sexualreformerische, jugendbündische, frauenrechtliche, sozialreformatorische, erzieherische, rassistische und antisemitische, völkische, okkulte, religionskritische, philosophische und formgestalterisch-ästetische Kolumnen zerteilt, aber der größte Teil dieser Themenangebote war wieder durch Unterthemen zerfasert und atomisiert, bzw. durch teils skurrile Lehrangebote miteinander verwoben worden.

Die Genese der Lebensreform gleicht nicht einem Baum, wo aus einem Ideenstamm durch Verzweigung immer ausgefeiltere und differenziertere Ideen herauswuchsen; dieses Bild gilt für Teilaspekte, da neben dem nietzscheanischen Hauptbaum noch andere Bäume wuchsen, wie der des Okkultismus und der des Darwinismus. Am Schluß der Reformgeschichte ist ein Flussgleichnis angemessen, wo viele Reformbäche in Flüsse und die großen Flüsse in den braunen Strom oder den roten Fluß mündeten. Ab 1900 ergossen sich beispielsweise Nebenarme des Marxismus und des Nietzscheanismus in den Strom des Leninismus, der Leninismus verband sich ein Jahrzehnt später mit dem traditionellen orthodoxen Etatismus zum Stalinismus. Der völkisch-ökologische, der vitalistisch-biologistische und der zünftig-korporative Waggon wurden in einem ideologischen Rangierbahnhof zum NS-Zug zusammengestellt. Gerade durch den Antiempirismus, den Kult des Willens und des Gefühls wurden diese Auswüchse des Zeitgeistes erst ermöglicht.

Auch in Italien pubertierten die Künstler vor sich hin. Am 20. Februar 1909 wurden die Begründung und das Manifest des Futurismus im Pariser „Figaro“ veröffentlicht. Tommaso Marinetti war wortgewaltig und seine Fundamentierung des Futurismus eine Aneinanderreihung starker postfaktischer Bilder.

„Wir werden die Museen zerstören, die Bibliotheken, die Akademien aller Art, werden Moralismus, Weiblichkeit, jede bequeme oder nützliche Feigheit bekämpfen“.

Peter von Rüden hat nach den Gründen und Motiven für den antichristlichen Affekt Nietzsches gesucht und folgenden Zusammenhang gefunden: Das Christentum als monotheistische Religion habe die Naturgottheiten bekämpft und von ihrem Sockel gestoßen. Der Bezug der Menschen zur Natur sei mit dem Abgang von Flussgeistern, Fruchtbarkeitsgöttinnen, Elfen, Waldschraten und Sonnenscheiben verloren gegangen. Geblieben sei nur die Forderung, sich die Erde untertan zu machen. Er zitiert den grünen Antisemiten Ludwig Klages:

„Die Weltfeindschaft, die das Mittelalter selbstgeißlerisch im Innern nährte, mußte nach außen treten, sobald sie ihr Ziel erreicht: den Zusammenhang aufzuheben zwischen dem Menschen und der Seele der Erde.“

Den Grundstein für diese unheilige grüne Allianz von Atheismus, Elitarismus und Naturschutz hatte Friedrich Nietzsche als epochale Neudefinition des Frevels selbst gelegt:

„Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht. Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren! Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb, und damit auch die Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher zu achten, als der Sinn der Erde!“

Der im deutschsprachigen Raum wie sonst nirgends auf der Welt weitverbreitete metaphysische Ehrfurcht vor der Natur und die kehrseitige Abwertung des menschlichen Lebens hat hier scheinbar ihre Wurzel. Nietzsche orakelte:

„Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde opfern, dass die Erde einst der Übermenschen werde.“

Ein weiteres Tummelfeld der Gefühls- und Willensmenschen war der Expressionismus. Der Gegensatz zwischen dem Impressionismus und dem Expressionismus liegt vor allem darin, dass die Impressionisten malten, was sie sahen, während die Expressionisten malten, was sie fühlten, und damit die Provokation und den Tabubruch verschärften.

Die Primitivität der Formensprache, die grellen schwarzen, gelben und roten Ornamente wie auch die naiven Vorstellungen von den Fortpflanzungsvorbereitungen der Naturkinder lieferten den Dresdner Malern der „Brücke“ eine perfekte antibürgerliche und antiakademische Plattform zum Bruch mit der Konvention und zur Provokation der materialistischen Philister. Farben und Maltechnik pappten die nackten Figuren mit dem Hintergrund in einer Ebene zusammen. Die Erde war eine Scheibe. Der glatte Hintergrund erzeugte ein zweidimensionales Raumgefühl, die Körper hatten ornamentale eckige Umrisse und wirkten hölzern, wie mit der Laubsäge aus Sperrholz gefertigt und hinterher rosa oder grünlich angelegt.

Nach dem in die Hose gegangene Ersten Weltkrieg fanden die Intellektuellen umgehend eine neue Projektionsfläche ihrer Wünsche und Fantasien. Im Osten war mit der Oktoberrevolution eine neue intellektuelle Verlockung entstanden: der alten Welt Europas einen jungen verheißungsvollen, kraftvollen und antibürgerlichen Gegenpol zu präsentieren, der in der Anfangsphase konstruktivistische und expressionistische Experimente zuließ und den durch die Kriegsniederlage verzweifelten deutschen Expressionisten ein geistiges Shangri La bescherte. Nichts wollte man mehr mit der deutschen Niederlage zu tun haben, das Heil lag im Osten.

Es waren nicht Lenins langweilige Schriften, welche die deutschen Expressionisten als Botschaften der Oktoberrevolution zur Kenntnis nahmen. Solche wolkigen Sentenzen wie die folgende aus dem Artikel „Catilina“ von Alexander Blok begeisterten eher und stellten die Brüderschaft im Geiste her:

„Man muss starke Schwanenschwingen haben, um emporzuschweben, lange in der Luft zu verweilen, um dann unversehrt zurückzukehren, ohne von jenem Weltbrand versengt zu werden, dessen Zeugen und Zeitgenossen wir sind; dieser Brand wächst und wird sich noch lange und unaufhaltsam verbreiten, wird seine Feuerherde von Ost nach West und von West nach Ost jagen, bis endlich die gesamte alte, morsche Welt zu Schutt verbrennt.“

Das war Nietzsche vom reinsten Wasser; diese duftigen Wölkchen hatten mit Marx und Engels nicht das Geringste zu tun.

In der Kaiserzeit gab es auch schon eine Alternative für Deutschland. Es waren, was die Affinität zur Wissenschaft und zur Technik betrifft, ausgerechnet die Sozialdemokraten. Um die Rolle der Sozialdemokratie zu verstehen, muß ein Blick auf das unterschiedliche Verhältnis der Reformsandalen und der Sozialdemokraten zum technischen Fortschritt geworfen werden. Aus dem Industrialismus von Marx ergibt sich logisch ein entspanntes Verhältnis der SPD zu Maschinen, Bauten und modernen Verkehrsmitteln.

In ihrer kindlichen Einfalt sehr zum Herzen gehende Beschreibungen der sozialdemokratischen Reformvorstellungen findet man in „Die Frau und der Sozialismus“ von August Bebel. Die erste Auflage erschien bereits 1878. Die sozialdemokratischen Vorstellungen sind älter als die der Lebensreform und sie gehen oft in eine völlig andere Richtung. Während die saturierte Lebensreform die vollkommene Natur in den Gegensatz zum sinnlosen Fortschritt setzte, hatte die Sozialdemokratie ein naiveres Bild.

„Es müßten großartige und umfassende Bodenmeliorationen, Bewaldungen und Entwaldungen, Be- und Entwässerungen, Bodenmischungen, Terrainänderungen, Anpflanzungen usw. vorgenommen werden, um den Boden zu höchster Ertragsfähigkeit zu bringen.“

„Der Weinbau der Zukunft“ ist ein ganzes Kapitel genannt, das vorschlägt, in großen geschützten Hallen die Gemüse-, Beeren- und Obstproduktion sowie den Weinbau ganzjährig voranzutreiben. Ausdrücklich zitiert Bebel das Gedicht „Irland“ von Ferdinand Freiligrath, um den Naturschutz, der der Volksernährung im Wege stand, an den Pranger zu stellen:

So sorgt der Herr, daß Hirsch und Ochs,
Das heißt: daß ihn sein Bauer mäste,
Statt auszutrocknen seine Bogs –
Ihr kennt sie ja: Irlands Moräste!
Er läßt den Boden nutzlos ruhn,
Drauf Halm an Halm sich wiegen könnte;
Er läßt ihn schnöd dem Wasserhuhn,
Dem Kiebitz und der wilden Ente.

Goethe´s „Faust“ läßt grüßen: den faulen Sumpf auch abzuziehn wäre das Höchsterreichte. Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Natur war bis zum Godesberger Programm ein eher praktisches, das vom Glauben an die Machbarkeit der Umgestaltung durchdrungen war. Selten haben Arbeiter, die körperlich arbeiten mussten, oder Landwirte die Technik verflucht.

August Bebel hatte auf manche Dinge einen klaren Blick:

„Deutschland ist das klassische Land, das diese Überproduktion an Intelligenz, welche die bürgerliche Welt nicht zu verwerten weiß, auf großer Stufenleiter schafft.“

Wie wahr! Das trifft nicht nur auf unsere zahlreichen Politikstudenten zu, sondern betraf auch eine ganze Alterskohorte von Reformisten, die etwa 1885 bis 1910 geboren wurden. Adolf Hitler war einer von ihnen.

1905 hatte er die Realschule abgebrochen. Er war kein Einzelfall. Nach der Jahrhundertwende häuften sich die Schulabbrüche in der Literatur: „Freund Hein“ von Emil Strauss (1901), „Traumstunde“ von Rainer Maria Rilke (1902), „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind (1906), „Der junge Törless“ von Robert Musil (1906), „Unterm Rad“ von Hermann Hesse (1906) und „Mao“ von Friedrich Huch (1907). In Künstlerkreisen war es augenscheinlich angesagt, die Schule zu schmeißen, Thomas und Heinrich Mann, Gerhard Hauptmann, Carl von Ossietzky und Hermann Hesse gehörten zu den prominenten Abbrechern. Dahinter mag sich auch der durchaus logische Gedanke der Schüler verborgen haben, daß man in einer Welt des sublimierten Gefühls, wie es von der Jugendbewegung seit Friedrich Nietzsche verfochten worden war, eingepaukte Schulbildung nicht mehr benötigte. Was sollten Physik und Mathematik in einer Welt, in der die Naturwissenschaft verteufelt wurde? Reichte es nicht, sich seinen Ambitionen hinzugeben und sein edles Leben auf den Altärchen der Kunst und der Natur zu opfern?

Ganz Kind des fin de siécle ließ sich Hitler in Wien treiben. Herr seiner eigenen Zeit stand er erst gegen Mittag auf, schlenderte durch Gärten, Parks und Museen, besuchte Büchereien und sehr oft die Oper. Allein „Tristan und Isolde“ soll er dreißig bis vierzig Mal gesehen haben. Er entwarf Theaterbauten, Schlösser, Ausstellungshallen, selbst Abriß und Neubau der Hofburg beschäftigten ihn ernsthaft, ohne daß er ein Gefühl für die Realitätsferne dieser Planung entwickelt hätte. Neben Reformplänen für den Schulbetrieb entwarf er im Vorübergehn auch den deutschen Idealstaat und arbeitete an der Oper „Wieland der Schmied“ weiter, die Richard Wagner hatte fallenlassen. Auch die Rechtschreibung war vor dem jungen Lebensreformer nicht mehr sicher, ganz im Zeitgeist schrieb er statt Theater „Teater“ und statt Idee „Iede“.

Alle Eigenheiten der seelischen Überspanntheit, des sozialwissenschaftlichen Sektierertums, des lebensreformerischen Obskurantismus und der durchaus zeitgemäßen Besserwisserei und Verbohrtheit, die sich bei der Jugend der Mittelschichten in der Reformzeit immer wieder beobachten lassen, trafen auch auf Hitler zu. Mit Richard Wagner verbanden ihn das Schulversagen, die Flucht vor dem Militärdienst, der krankhafte Judenhaß, ebenso wie der Vegetarismus und nicht zuletzt die Vorliebe für eine „unverwechselbare Mischung von Walhall, Revue und Tempeldienst“. Joachim Fest bemerkte zutreffend:

„…es war die gänzliche Ästhetisierung des Lebens unter Führerschaft der Kunst (…). Auf diese Weise sollte der Staat zur Höhe eines Kunstwerks erhoben und die Politik aus dem Geist der Kunst vollendet und erneuert werden. In der Theatralisierung des öffentlichen Lebens im Dritten Reich, der inszenatorischen Passion des Regimes, der Dramaturgie seiner politischen Praxis, die nicht selten zum Zweck der Politik zu werden schien, sind Elemente dieser Programmatik unschwer feststellbar.“

Im Oktober 1913 fand der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner bei Kassel statt. Bei dieser Gelegenheit trafen sich 2-3000 Aktivisten der auf über 60.000 Mitglieder angeschwollenen organisierten Jugendbewegung, um ihr gewachsenes Selbstbewußtsein zu demonstrieren und sich über ihre Ziele zu vergewissern. Der Ton wurde von Kulturkritikern angegeben. Das Grußwort des Lebensphilosophen Ludwig Klages an den Jugendtag ist entsprechend eine einzige Jeremiade gegen das industrielle Zeitalter. Überflüssig zu erwähnen, daß Klages dem Schwabinger Kreis um den Dichter Stefan George nahestand. „Anarchisten, Bohemiens, Weltverbesserer, Künstler und krause Apostel neuer Werte“ trafen sich an den Schwabinger Kaffeehaustischen, „bleiche junge Genies träumten von einer elitären Erneuerung der Welt, von Erlösungen, Blutleuchten, Reinigungskatastrophen und barbarischen Verjüngungskuren für die degenerierte Menschheit.“ So Joachim Fest in seiner Hitler-Biografie. Um die Ecke wohnte vom September 1900 bis April 1901 Lenin, der ausgerechnet in Schwabing  die Handlungsanleitung der Revolution „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“ mit dem Konzept der elitären Kaderpartei als Avantgarde der Arbeiterbewegung schrieb. Ludwig Klages Anklagen begannen ähnlich wie auf einer grünen Bundesversammlung der achtziger Jahre:

„Wir täuschen uns nicht, als wir den ´Fortschritt´ leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, daß Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von ´Nutzen´, ´wirtschaftlicher Entwicklung´, ´Kultur´ geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die primitiven Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis des Industrialismus die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch übrig läßt gleich dem ´Schlachtvieh´ zur bloßen Ware, zum vogelfreien Objekt ´rationeller´Ausbeutung. In diesem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft.“

Es ist kaum verwunderlich, dass Klages nach 1933 versuchte, die Gunst der Stunde zu nutzen, um eine geistige Führungsrolle in Deutschland einzunehmen. Er scheiterte in der nationalsozialistischen Ideologiekonkurrenz nicht an fehlendem antisemitischen Eifer, sondern an seinen zivilisationskritischen technikfeindlichen Ansätzen. Die Germanenschwärmer der NSDAP waren sich darüber im Klaren, dass Naturwissenschaft und Technik für die Umsetzung imperialer Großmachtsfantasien unverzichtbar wären.

Nach diesem opulenten Ausflug in die deutsche Geschichte steht natürlich die Forderung aus ihr zu lernen. Eine zweite Offensive der grünen Ideologie, wie sie seit der Mitte der 70er Jahre vorgetragen wird, braucht Deutschland so wenig wie einen Fußpilz oder ein Furunkel. Wir brauchen eine ideologiefreie Wissenschaft. Postfaktische Politik führt notwendig ins Verderben. Es riecht heute mehr nach „1984“ und einer ökologischen Gesinnungsdiktatur als nach Adolfs Gaskammern. Wir brauchen deshalb keinen Kampf gegen Rechts, sondern den konsequenten Kampf gegen Grün. Denn der Kampf gegen die Grünen ist umfassender und schließt braunen Obskurantismus mit ein.

Der Eintrag ist teilweise dem eBook Der Bausatz des Dritten Reiches entnommen.