Reisen mit kleinem Budget

Mit wenig Geld auskommen. Das muß man auch können. Vor 35 Jahren hatten meine immer reiselustige Freundin und ich einen Trip nach Ungarn gemacht. So eine Mischung aus Sightseeing und Survival. Man durfte damals nämlich nur eine bestimmte Menge an Devisen pro Tag umtauschen. Das machte die Sache so spannend und prickelnd. Die Fahrkarte nach Budapest und zurück konnte man noch in Ostmark bezahlen. Auch die ersten vier Tage in der Jugendherberge in Budapest.

Und dann ging das tägliche Rechnen los. Gibt man die getauschten Forinten für eine Unterkunft aus, oder für Essen, für Fahrkarten, für alles oder für nichts? Jeden zweiten Tag wurde Kassensturz gemacht, um auszurechnen, ab wann man hungern oder auf der Straße schlafen muß.

Der Eindruck, den Budapest machte, war etwa derselbe großartige, den Goethe auf der italienischen Reise empfing: Staunen über die ungewohnte Größe und Pracht der Bauten, die enorme Breite der Boulevards, über die Eleganz und den Reichtum vergangener Epochen. Der gebaute Leistungsnachweis der Großväter, wogegen man sich selbst als Teil einer Versager- und Dilettantengeneration vorkam. Und die Leichtigkeit, die entsteht, wenn immer die Sonne scheint. Daneben eben Sorgen, wie sie die Stütze der Gesellschaft, der reisende Don Alphonso, nicht kennt und die auch der Weimarer Geheimrat von Goethe dank prall gefüllter Reiseschatulle nicht hatte: Wie oft kann man sich was Warmes zu essen leisten oder geht man lieber an einen Obststand? In einem Straßenkaffee bestellten wir nach langer Einkehr in uns selbst zwei sündhaft teure Suppen und bekamen zwei Täßchen mit dünner Brühe. Also doch lieber eine nahrhafte Tüte mit Pfirsichen oder Äpfeln. Apropos: Kürzlich warnte der Focus vor Fettleber bei zu viel Obstgenuß. Fettleber 1982 in Ungarn! Sind schon putzig, die Zeitungsschreiber. Den Namen Monika Preuk sollte man sich merken.

Am fünften Tag begann das eigentliche Abenteuer: Die ungarische Reise. Bis zum Künstlerort Szentendre an der Donau kamen wir billig mit der Eisenbahn. Ein sehr romantisches Örtchen, die Gastwirtschaften haben wir uns lieber von außen angesehen, aber wir wollten ja noch weiter. Per Bus kamen wir bis Esztergom und von dort mit einem freundlichen Lkw-Fahrer bis Tata. Es war mittlerweile schon dunkel geworden und es gab damals weder Google maps noch Street wiev. Wir waren an einem Friedhof abgesetzt worden und beschlossen dort zu schlafen. 1982 noch ohne Daunenschlafsack und Isomatte. Es war eine herrlich laue Nacht ohne Mondenschein, aber mit irren Blütendüften. Wir waren leider nicht alleine. Die ganze Zeit feierten ein paar Gleichaltrige ein paar dutzend Gräber weiter und wir waren morgens knülle.

Wir erreichten per Bus Sopron und dort fanden wir ein preislich passendes Fremdenzimmer. Eine bezaubernde Barockstadt. Wir tranken nach der Stadtbesichtigung auf dem Marktplatz einen Kaffee. Am Nebentisch ein paar Österreicher, die mal richtig die Sau rausließen. Zu Hause hatten sie vermutlich nichts zu melden, aber in Ungarn konnte man eine Kellnerin für ein paar Kronen mal richtig rumkommandieren.

Per Anhalter fuhren wir nach Köszeg. Die Hälfte der Strecke am Stacheldrahtzaun entlang, der exklusiv wegen uns errichtet worden war. Für die Ungarn brauchte man den nicht. Die durften ja raus. Wo du hinkamst in Ungarn, immer wurde zuerst gefragt: „Keletnemet?“ oder „Nyugatnemet?“, ostdeutsch oder westdeutsch. Von den Westdeutschen erwartete man richtiges Geld, von den sozialistischen Klassenbrüdern nichts. Wir fühlten uns ständig so, als hätten wir den zweiten Frischegrad.

Auch in der Grenzstadt Köszeg bekamen wir ein Privatzimmer, und zwar bei einer Rentnerin, die vor den Weltkriegen offenbar bessere Zeiten gesehen hatte. Es war mit repräsentativen Möbeln der Donaumonarchie ausgestattet. Die größte Sorge der Vermieterin: Daß wir abhauen. Denn gleich hinter der Stadt verlief der Stacheldraht. Sie hatte wegen Gästen aus Keletnemet schon x-mal Besuch von der Staatssicherheit erhalten, wenn die getürmt waren. Jedes Mal wenn wir bei ihr wieder eintrudelten, bekamen wir aus Dankbarkeit eine große Schale mit überreifen Aprikosen aus ihrem Garten. Eine nahrhafte und leckere Stadt mit einer überdimensionierten Befestigungsanlage (siehe Modell im Beitragsbild), die einer türkischen Belagerung getrotzt hatte. Die Verteidiger hatten sich wohl mit Aprikosen verpflegt, als alles andere alle war.

Meine Freundin war als Kind ein Fan der Fernsehserie mit dem heldenhaften magyarischen Freiheitskämpfer, dem Kapitän vom Tenkesberg gewesen. Ein scharfer Trompetenstoß und der laute Ruf „Die Lavanzen kommen“ war das Erkennungsmotiv des Films. Also mußten wir nach Szigetvar, wo die Burg stand, in der das gedreht worden war. Als wir auf dem Bahnhof ankamen, hatte zufällig gerade die Gaststätte auf. Es gab gemäß einer Werbetafel Suppe. Trotz der Befürchtung wieder ein kleines gehaltloses Täßlein serviert zu bekommen, bestellten wir. Der Kellner hatte aber geahnt, daß wir Keletnemet und schon halb verhungert waren und brachte für billiges Geld eine riesige Glasterrine mit dampfender Nudelsuppe. Ein unvergeßliches Erlebnis! Für zwei Tage waren wir den Hunger los. Vergelts Gott!

Der Film über den Kapitän vom Tenkesberg war ausländerfeindlich und die Exponate im Burgmuseum waren es auch. Der Freiheitskampf des ungarischen Volkes gegen die österreichischen und russischen Unterdrücker. Der österreichische Oberst Eberstein aus dem Film war geistig arg unterbelichtet und sagte immer wieder denselben Satz zu seinen Offizieren. „Sie haften mir mit ihrem Kopf“. Es ging bei den Ösis zwar permanent alles schief, aber es gab im Film nie eine Kopfabtrennung.  Nach dieser intensiven antikolonialen Gehirnwäsche durch Film und Museum wundern sich Brüsseler Politiker, daß die Ungarn keine Ausländer reinlassen wollen.

Keine Ungarnreise ohne Balaton. Wir landeten am billigen Südufer im Häuschen von Oma Theresa. Ihr größeres Zimmer hatte sie an den rundlichen, gemütvollen und kahlköpfigen Wiener Müllmann „Kurtschi“ und seine große dunkelhaarige Frau vermietet, wegen der Bestimmtheit von deren Auftreten stammte sie wohl aus einer kroatischen Seeräuberdynastie oder von den serbischen Scharfschützen ab. Das kleinere Zimmerchen wurde uns bereitgestellt. Kurtschi zahlte in stahlharten Kronen und benahm sich uns gegenüber entsprechend generös und herablassend. Theresa selbst schlief, bescheiden und sparsam wie sie war, in der Besenkammer. Sie hatte einen wunderbaren Sitzplatz unter Weintrauben hergerichtet. Jedes Mal wenn sie in die Kirche ging – sie zog dann einmal täglich ihre Kittelschürze aus und warf sich in Schale – zählte sie vorher die Trauben. Aber jedes Mal stahl Kurtschi ein Paar. Es war ihm egal, daß der Liebe Gott alles sieht und im großen Buch notiert. Vor seiner Abreise ließ er sich von Theresas Freund Josef einen großen Weinballon mit hausgemachtem Palinka füllen und nahm den mit nach Wien. Eine kleine Neige war nicht in den Ballon gegangen und die hatte er uns großzügig wie er war dagelassen. Wir haben uns mit dem Feuerwasser zwei Abende den Hals verbrannt. Der ganze Ballon wird in der österreichischen Metropole dazu geführt haben, daß die städtische Müllabfuhr eine Woche lang nicht handlungsfähig war.

Am Balaton gab es Stände, in denen preiswert frisch gefangene Fische gebraten wurden. Das rettete uns wieder einmal vor dem großen Hunger. Einmal kamen wir mit einer Lehrerfamilie aus dem Ruhrgebiet ins Gespräch, als die grade auf dem Weg in ihr Hotel war, um zu speisen. Sie luden uns ein mitzukommen, weil sie mehr über die DDR wissen wollten. Wir waren in einem Zwiespalt: Sich einladen lassen und durchnassauern? Der Stolz siegte über den Hunger. Mit der dicken Lüge, daß wir gerade vom Essen aufgestanden seien wurden wir die guten Leute wieder los und damit die Peinlichkeit zwei stinknormale Essensportionen nicht bezahlen zu können.

Wir hatten es tatsächlich geschafft, noch ein paar Forint für die Verpflegung auf der Rückreise zu sparen. Aber wir hatte an ein Detail nicht gedacht. Es war just am Rückreisetag Nationalfeiertag und alle Geschäfte und Kioske hatten zu. Auf dem Keleti-Bahnhof bekamen wir noch zwei Flaschen Apfelsaft. Das war der Proviant für die Bahnfahrt. Heute wäre das kein Problem. Aber damals dauerte die Reise, als würde man mit der Postkutsche fahren, denn jeder Güterzug wurde vorgelassen.

Man war auf dem Balkan und die Slowaken können die Ungarn nicht leiden. An der Grenzstation wurde der Zug angehalten und alle Ungarn mußten mit ihren Koffern aussteigen und ihre Sachen auf dem Bahnsteig auspacken. Dann wieder einpacken und rein in den Zug. Nach einer halben Stunde Pause für die Grenzsoldaten mußten sie mit ihren Koffern nochmal aussteigen und dieselben Sachen zum zweiten Male aus- und wieder einpacken. Weil es so schön war, mußten sie noch ein drittes Mal hinaus. So vergingen Stunden um Stunden. Und der Magen knurrte dazu. An der deutschen Grenze hatten wir Glück. Es lief gerade ein wichtiges Fußballspiel und die Grenzwachteln faßten sich kurz. Trotzdem: Am Samstagvormittag waren wir gegen 10 Uhr in Budapest losgefahren und Montag früh um 11 Uhr kamen wir in Dresden an. Hungrig wie die Wölfe. Für die ganze Strecke braucht es mit meinem Pickup heutzutage acht Stunden.

Ja, liebe Leser, es ist in den letzten 35 Jahren nicht alles schlechter geworden. Für Survival muß man heutzutage woanders hinfahren. Zu Sylvester oder zum AfD-Parteitag nach Köln zum Beispiel…