Die Kolonialwirtschaft im Osten

Am 1. Mai 2004 traten Tschechien, Ungarn Polen, die baltischen Staaten, Slowenien und die Slowakei der EU bei. Das ist inzwischen also 14 Jahre her. Der Beitritt der Neuen Länder zur EU erfolgte sogar schon 1990, also vor 28 Jahren.

Die neuen Länder haben es in diesem Zeitraum noch nicht einmal geschafft, eine einzige Firma im DAX zu etablieren. Auch große Markennamen aus Polen, Tschechien oder Ungarn vermißt man im europäischen Wettbewerb. Der tschechische Autobauer Skoda gehört beispielsweise dem VW-Konzern. Gut, die ungarische Salamifabrik Pick ist ein Familienbetrieb, aber der Umsatz ist mit 200 Mio € doch recht bescheiden. Auch den polnischen Mineralölhändler PKN Orlen kann man als nationales Unternehmen bezeichnen, aber das Pilsener Urquell gehört einem japanischen Brauereikonzern. Dem Eisenacher OPEL-Werk als verlängerte Werkbank droht schon wieder einmal die Schließung. Der SIEMENS-Kraftwerksanlagenbau in Görlitz wird dichtgemacht, die morbiden Grünen werkeln am Tod des Braunkohleabbaus in der Lausitz. Außenstellenwirtschaft eben, koloniale Verhältnisse.

Am 16.2.2018 hatte die WELT unter der Überschrift „Warschau hat für Merkel eine harte Nuss im Gepäck“ über diesen Mißstand berichtet:

Premier Mateusz Morawiecki braucht Unterstützung für Polens Wirtschaft und sucht sie in Berlin. Doch seine Forderung nach einem echten europäischen Binnenmarkt für den Mittelstand kann Deutschland nicht gefallen.
Polen habe sich nach 1990 für ausländische Investoren komplett geöffnet. Die Folge sei, dass Polens Wirtschaft heute fast vollständig in ausländischer Hand sei. Morawiecki benutzte sogar den Begriff „Kolonisierung“. Polen zahle jährlich rund 25 Milliarden Euro an Dividenden, fünf Prozent des Bruttosozialprodukts, erhalte jährlich aber nur zwischen fünf und sechs Milliarden Euro EU-Zuschüsse. „Das Verhältnis würde ich gerne umkehren.“ Dafür müsse die EU wirkliche Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gewähren, denn Polens Hauptexportartikel seien derzeit Dienstleistungen.

Merkel sagte, Deutschland wolle „gewisse Standards wahren“, wehrte den polnischen Wunsch also ab.

Es gibt viele Ursachen für den Rückstand der osteuropäischen Wirtschaft. Natürlich gehört dazu die lange russische Herrschaft in weiten Teilen des Ostens, die zu Kapitalmangel, Wissensdefiziten und technischer Rückständigkeit geführt hat. Aber es sind auch die hohen Markteintrittsbarrieren, für die die EU als Institution durch kleinteilige Verordnungswut selbst verantwortlich ist. Nicht mal eine Türklinke geht ohne ein ausuferndes Regelwerk herzustellen. In einem schwach regulierten marktwirtschaftlichen System würden sich die Unterschiede nicht sofort, aber deutlich schneller ausgleichen.

Die EU hat bei der Integration und Entwicklung der Ostwirtschaft – egal ob in Sachsen, Mecklenburg, Polen oder Ungarn – auf der ganzen Linie versagt. Noch am Anfang des 19. Jahrhunderts schossen in Sachsen und Böhmen neue Industriebetriebe wie Pilze aus dem Boden. Audi und BMW haben beispielsweise ihren Ursprung in Sachsen. Die Gründung neuer Autofirmen ist heute undenkbar, weil die umfangreichen technischen, arbeits- und verbraucherschutzspezifischen Vorschriften, Emissionsspezifikationen, Qualitätssicherungskorsetts und dergleichen von Anfang an Unsummen verschlingen. Es ist fast undenkbar, daß in Europa eine neue Fahrzeugmarke entsteht, die Manager der bestehenden Firmen stehen am Rande des Nervenzusammenbruchs und deren Ingenieure mit einem Bein im Knast.

Selbst bei simplen Nahrungsmitteln bekommen nationale Firmen aus dem Osten kaum einen Fuß auf den Boden. Kürzlich habe ich einen Tescomarkt in Ungarn besucht, um mal den Versuch zu machen ungarische Ware zu kaufen. Als ich nach dem Einkauf die Herstellerangaben etwas genauer geprüft habe, gab es manche Enttäuschung. Die Sio-Saftfabrik, die hervorragende Getränke produziert, gehört Eckes aus Nieder-Olm. Das Köbànyai Bier (Jutalom a nap végén, die Belohnung am Ende des Tages) gehört zur österreichischen Dreher-Brauerei. Von den vielen Danone- und Nestle-Produkten ganz zu schweigen. Vor dem Butterpult liest man sich in einer nicht ganz einfachen Sprache fast drei Minuten dumm, bis man endlich eine zweifelsfrei ungarische Packung gefunden hat. Dasselbe am Joghurt-Regal. Die hartnäckige Suche wurde allerdings durch guten Geschmack (ein Produkt mit Bratäpfeln) belohnt. Auch beim Bier brauchts Geduld. Das Soproni ist eines der wenigen nationalen Biere. Bei den Limonaden die Firma Marka, die sich allerdings durch guten Zuckergehalt auszeichnet. Wenn man davon in der Hitze eine 2-Liter-Flasche getrunken hat, brauchts kein Abendbrot mehr.

Wenn die Brüsseler Kommissare nicht nach Hause geschickt werden, wird sich am wirtschaftlichen Rückstand Ostdeutschlands und der ehemaligen RGW-Länder nichts ändern. Es braucht eine grundlegende Neukonzeption der EU-Regularien mit dem klaren Ziel im Osten nationale Wirtschaften aufzubauen. Der Weg dahin wird sicher umstritten sein.

Konsequente Marktwirtschaft mit totaler Deregulierung würde sicher helfen, andererseits sind aber auch die zeitweise Anwendung von Schutzzöllen und Steuerfreiheit für Neustarter relevante Lösungen.

In Deutschland hat es die Kontroverse um den richtigen Weg in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben, als der Rückstand gegenüber England aufgeholt werden sollte. Der Unternehmer und Eisenbahnpionier Friedrich List (1789 – 1846) formulierte in seinem Buch Das nationale System der politischen Ökonomie als Erster ein systematisches Strategiemodell einer „nachholenden“ Entwicklung, durch das vor allem die großen „nachstrebenden“ Nationen – Deutschland, Frankreich und die USA – den englischen Entwicklungsvorsprung aufholen sollten. Er forderte Erziehungszölle. Einen völlig anderen Weg schlug Reichskanzler von Bismarck ein. Er deregulierte um 1870 die deutsche Wirtschaft und verordnete die völlige Gewerbefreiheit. Mit Erfolg, wie man rückblickend erkennt. Zwischen 1870 und 1890 wurde der Rückstand gegenüber England weitgehend aufgeholt. Um 1890 wurden Schutzzölle eingeführt, allerdings nicht zugunsten der Industrie, sondern auf Druck der Junker für die Landwirtschaft.

Diese Strategiediskussion über den richtigen Weg zu nationalen Industrien fehlt in der intellektuell derb heruntergekommenen EU. Es wurden immer nur Blödmänner nach Brüssel geschickt, die man zu Hause nicht gebrauchen konnte. Wie Martin Schulz. Man setzt in Brüssel einseitig auf die unwirksamen Instrumente von Fördergeldern und Infrastrukturaufbau. Das sind Mittel, die in Süditalien schon vor fünfzig Jahren versagt haben. Man fährt zum Beispiel in der Basilikata über leere vierbahnige Schnellstraßen, ohne daß sich dort industriell etwas bewegt. Dagegen ist Osteuropa mit seinen deutschen und österreichischen Zweigstellen noch ein Glücksfall. Wenigstens helfen die ausländischen Betriebe gegen Arbeitslosigkeit. Sie können das Wohlstandsgefälle jedoch nicht einebnen, weil immer wieder die Sahne des Gewinns weitgehend ins Ausland bzw. in Ostdeutschland in die alten Länder abgesahnt wird.

Der nicht reformierbare Brüsseler Moloch muß weg, eine neu zu schaffende europäische Handelsbehörde dürfte nicht mehr als 100 Mitarbeiter haben, um den Wildwuchs von Vorschriften ein für alle Male zu verhindern. Denn die überbordenden europäischen Regulierungen helfen nur den wenigen Monopolisten, die sich im System eingerichtet haben, um sich die Konkurrenz vom Leibe zu halten. Das betrifft neue Marktteilnehmer im Westen übrigens auch.

Die osteuropäischen Staaten einschließlich der neuen Länder in Deutschland sollten sich zur Erreichung wirtschaftlicher Expansion und zum Aufbau nationaler Betriebe stärker koordinieren und zusammenschließen. Wenn Mateusz Morawiecki in Berlin isoliert insistiert, reicht das nicht. Die Visegradstaaten, die Balten, die fünf deutschen Ostländer, Kroatien, Slowenien, Rumänien und Bulgarien müssen gemeinsam auf der Matte stehen, um im europäischen Rat etwas zu erreichen. Brüssel und Berlin heben völlig versagt, eine Strategiediskussion und daraus entwickelte neue Konzepte gehören auf den Tisch des europäischen und des deutschen Hauses.