Die Bundesfinanzreform ist überfällig

Vor hundert Jahren ist der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen. Die Ergebnisse waren furchtbar. Tote Familienväter und solche die es werden wollten, Zerstörungen und zwei Monster-Staaten, die in der Folge entstanden: Jugoslawien und die Sowjetunion. Das sind die bekannten Auswirkungen, an die man denkt. Fast vergessen ist die Finanzreform vom März 1920, unter der die deutschen Städte und Gemeinden noch heute leiden. Das System der Steuererhebung wurde auf den Kopf gestellt und total zentralisiert. Die wichtigsten steuerlichen Einnahmequellen der Länder und Gemeinden wurden diesen entzogen und auf das Reich übertragen. Von nun an war es das Reich, das für eine angemessene Finanzausstattung der Länder und Gemeinden zu sorgen hatte und nicht umgekehrt. Das Reich war jetzt in der starken Position, und nicht mehr die unteren Ebenen. Der Boden für die zentralistischen Diktaturen ab 1933 war bereitet. Die von Hitler vorgenommene politische Gleichschaltung der Länder war auf der Finanzebene schon 1920 erfolgt. Zunächst eine Beschreibung der tristen Gegenwart und dann ein Blick in den Rückspiegel.

Für die Gemeinden nur Taschengeld

Der Bund hatte 2017 Steuereinnahmen von 309 Mrd. €, die Länder von 298 Mrd. € und die Gemeinden bekamen ganze 105 Mrd. €. Die Ausgaben der Gemeinden betrugen jedoch im selben Jahr 229 Mrd. €. Die Gemeinden bekommen Grundsteuern, Gewerbesteuern und Hundesteuern, dazu ein paar Bagatellsteuern wie die Zweitwohnungssteuer, 15 % Anteil an der Einkommenssteuer, 2 % von der Umsatzsteuer und 12 % von der Kapitalertragsteuer. Zwischen den Steuereinnahmen der Gemeinden und den Ausgaben klaffte 2017 ein Loch von 124 Mrd. €. Pro Einwohner sind das immerhin 1.510 € jährlich.

Dieses Loch können die Gemeinden nicht mit Gebühren, Blitzern und der Vermietung von Gemeindewohnungen auffüllen. Es wird im wesentlichen durch Zuweisungen der Länder und des Bundes zugeschmissen. Diese Formulierung ist bewußt gewählt. Denn der Ausgleich des Defizits erfolgt nicht systematisch und aufgabengerecht, sondern willkürlich und nicht selten durch Vermittlung der Landtags- und Bundestagsabgeordneten unter parteitaktischen Erwägungen. Wer verteilt nicht gerne im Blitzlicht der Pressefotografen Förderbescheide oder Lottomittel?

Der finanzielle Bedarf einer Gemeinde wird nicht durch die Entscheidungen dieser Gemeinde bestimmt, sondern durch Gesetze, die in Brüssel, Berlin und den Landeshauptstädten beschlossen werden. Brüssel hat beispielsweise die Wasserrahmenrichtlinie beschlossen und die Gemeinden müssen Kläranlagen bauen und betreiben. In den Landeshauptstädten wurden Kitagesetze mit Personalschlüsseln ausgedacht, die Gemeinden müssen das Geld dafür aufbringen. Das sind für die Gemeinden die sogenannten Pflichtaufgaben. Früher beschlossen die Stadt- und Gemeinderäte noch freiwillige Aufgaben, zum Beispiel den Betrieb eines Schwimmbads, einer Stadtbibliothek, eine Rentnerweihnachtsfeier oder es blieb etwas Geld für die Jugendarbeit übrig. Diese Zeiten sind in vielen Kommunen längst vorbei. Die Gemeinden können nicht einmal ihre Pflichtaufgaben erfüllen.

Die kommunale Infrastruktur verfällt

Die Zuweisungen sind in der Regel für den Verwaltungshaushalt bestimmt, sogenannte Fördergelder für den Vermögenshaushalt. Über den Vermögenshaushalt laufen die Investitionen, zum Beispiel für Straßen, die Straßenbeleuchtung, Kindergärten und Schulen.

Früher gab es zum Durchführen von Investitionen Fördergelder der Bundesländer für die Gemeinden. Diese Fördergelder werden immer rarer. Viele Gemeinden können sie wenn sie noch fließen nicht mehr in Anspruch nehmen, weil der zugehörige Eigenanteil nicht erbracht werden kann. In Thüringen beispielsweise ist der Investitionsanteil an den Ausgaben der Städte und Gemeinden 2016 auf 11,5 % der Gesamtausgaben gesunken. Um die Jahrtausendwende waren es noch 25 %. Mit 11,5 %  ist nicht einmal der Erhalt vorhandener Substanz möglich.

Die Landeszuweisungen für den Verwaltungshaushalt decken nicht einmal ansatzweise die Personalkosten der Gemeinden, insbesondere die ausufernden Kosten für Kindergärten.  Mehrere hundert Gemeinden in Deutschland können seit Jahren keine genehmigungsfähigen Haushalte mehr aufstellen, obwohl sie nur Pflichtaufgaben erfüllen und sparsam wirtschaften.

In meiner Zeit als Bürgermeister (1999 bis 2016) hatte ich folgende Erlebnisse: Für Sanierungsmaßnahmen am Kindergarten gab es in der ganzen Zeit kein Förderprogramm. Als endlich gefördert wurde, hatte die Gemeinde den Eigenanteil nicht. Außerdem waren die Baumaßnahmen zu diesem Zeitpunkt bereits erledigt worden. Für die Hebung der Gräben in der Feldflur gab es auch nichts. Einmal hatte ich einen Förderantrag gestellt, der abschlägig beschieden wurde. Außer Kosten für den Antrag nichts gewesen. Nach einem größeren Hochwasser gab es dann doch Fördergelder. Das war Kampagnenwirtschaft wie in der Russenzeit. Damals mußte die LPG nach jedem Hochwasser auf Anweisung des Rates des Kreise drei Wochen lang mit sämtlicher verfügbarer Technik die Gräben in Ordnung bringen. Dann wurde das Thema wieder weggeschoben, bis zum nächsten Hochwasser.

Die goldene Zeit der Kommunen

Vor 1914 war die Gemeindefinanzierung im wesentlichen gesichert. Brüssel hatte noch keine Bedeutung als Kostenfaktor, mit Berlin hatten die Gemeinden finanziell wenig zu tun. Die Gemeinden konnten ihren Finanzbedarf durch direkte und indirekte Steuern decken, die sie selbst nach Bedarf im Rahmen von Kommunalabgabengesetzen erheben konnten. Fördergelder gab es nur wenn ein Ort abgebrannt war. Die Investitionen der Gemeinden liefen nicht durch das Umverteilungskarussel der damaligen deutschen Bundesstaaten. Wenn man heute Schulen, Straßen, Abwasseranlagen, Krankenhäuser und Rathäuser aus der Kaiserzeit anschaut, ist man über den Weitblick der damaligen kommunalen Bauherren verwundert. Viele Gebäude können noch heute problemlos genutzt werden, obwohl die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer schon dreimal abgelaufen ist. Und man staunt darüber, daß der kommunale Investitionsbedarf damals offenbar  gedeckt werden konnte.

Die Steuern kamen vor dem Ersten Weltkrieg überwiegend den Städten und Gemeinden zugute. Das Reich mußte mit Zöllen, einigen Verbrauchssteuern und  dem Ertrag der Reichsbahn auskommen. Das Reich hatte 1903 Steuereinnahmen von 1,044 Mrd. Reichsmark, die Bundesstaaten erzielten zusammen 0,611 Mrd. RM. Die Gemeinden in Deutschland hatten etwa 1,1 Mrd. € Steuereinnahmen. Das bedeutet, daß auf die Städte und Gemeinden rund 40 % der Steuereinnahmen entfielen, auf die Länder 22 % und auf das Reich etwa 38 %.

Natürlich war die Aufgabenverteilung damals nicht ganz identisch mit der heutigen. Auf den Kommunen lastete die Armenpflege, was heute nur noch teilweise der Fall ist. Allerdings muß man bedenken, daß die Arbeitslosenrate im Kaiserreich um nur 3 % schwankte. Bestimmte Polizeiaufgaben waren von den Städten zu erfüllen. Aber sonst hatten die Kommunen im wesentlichen die gleichen Aufgaben wie heute.

Das Subsidiaritätsprinzip steht nur auf dem Papier

Die gleichen Aufgaben. Nur daß heute der Bund 43,4 % der Steuern einnimmt, die Länder 41,9 % und die Gemeinden äußerst lächerliche 14,7 %.

Im Grundgesetz steht, daß die jeweils unterste Ebene die Aufgaben erfüllen soll, soweit sie dazu in der Lage ist. Wenn man den Gemeinden dafür nicht die Mittel zugesteht, ist das nicht machbar. Gegen den Verfassungsgrundsatz der Subsidiarität wird deshalb systematisch verstoßen.

Die Städte und Gemeinden brauchen mindestens 35 % der Gesamtsteuereinnahmen, annähernd wie vor dem Ersten Weltkrieg. Dann können sie auf Fördermittel und Zuweisungen verzichten und über einen vernünftigen Zeitraum planen. Jawohl, der Erhalt der kommunalen Infrastruktur ist Planwirtschaft! Eine Stadt oder eine Gemeinde ist nicht Coca-Cola oder Daimler mit Marktpreisen und weltweiten Verknüpfungen. Infrastruktur muß erhalten und ersetzt werden und das kann eine Kommune mittelfristig exakt planen. Aber nur, wenn nicht ständig eine fatale Abhängigkeit von der chaotischen Landes- und Bundesebene besteht und nur von Astrologen vorhergesagt werden kann, ob der Haushalt im kommenden Jahr aufgeht.

Korrektur von Fehlentscheidungen erforderlich

Kaiser Wilhelm brauchen wir nicht wieder. Aber die alte Reichsordnung der Finanzen. Und die alte Aufgabenteilung zwischen den staatlichen Ebenen. Sie war dem  jetzigen Durcheinander stark überlegen. Früher war jede politische Ebene für ein Aufgabengebiet verantwortlich. Es gab keine Mischverantwortung. Der Bürger konnte erkennen, ob ein Politiker fähig war, seine Aufgaben zu erfüllen und  seine Wahlentscheidung danach ausrichten. Die neue Ordnung der Mischverantwortung ist für den Bürger intransparent und hat nie funktioniert.

Das derzeitige Finanzsystem ist im Grundgesetz in den Artikeln 104a bis 115 geregelt. Die Väter des Grundgesetzes waren überwiegend ältere Herren, die schon die Weimarer Republik an die Wand gefahren hatten. Sie übernahmen im Kern die Regeln der Reichsfinanzreform von 1920. Ohne zu bedenken, daß sie ein zentralistisches System weiterführten, welches dem Subsidiaritätsprinzip zuwiderläuft.

Mischverantwortung am Beispiel der Schulen: Das Land macht die Bildungspläne, konzipiert Dildospiele für Grundschüler und setzt Schulleiter und Lehrer ein. Die Gemeinden bezahlen Hausmeister und Sekretärinnen, organisieren die Horte und passen auf, daß das Dach nicht einstürzt. Der Bund stellte seit 2017 Fördergelder für Schulsanierungen bereit. Als Notmaßnahme, weil die kommunalen Mittel einfach hinten und vorne nicht reichen. Zur Kaiserzeit konnte die Gemeinde auch die Lehrer anstellen und hatte damit Einfluß auf die Qualität der Schule. Es war eine bürgernahe ganzheitliche Verantwortung.

Das Scheitern der 100jährigen Unordnung der Nachkriegszeit beweisen die Hyperinflation von 1923, der Übergang zum Nationalsozialismus und Stalinismus sowie die aktuell wütende Finanzkrise mit Nullzins. Der Rückblick auf die Zeit nach dem  Ersten Weltkrieg und die Folgen ist auch Gelegenheit zur Besinnung, zur Überprüfung und Korrektur damals getroffener Fehlentscheidungen.

Quelle Steuern 1903: Erich Trescher: Die Entwicklung des Steuerwesens im Herzogtum Sachsen-Gotha, Tabellenanhang