Faktencheck zur Novemberrevolution 1918

Vor hundert Jahren brach die Novemberrevolution aus. Sie wird in populären Darstellungen auf die Ausrufung der Republik durch den Sozialdemokraten Scheidemann, die Niederschlagung des kommunistischen Putsches durch Gustav Noske, die Erreichung des Achtstundentags und des Frauenwahlrechts reduziert. Sie war aber vielgestaltiger und oft wurde es zu bunt. Hier ein Blick auf einige Details, ohne die sich das Scheitern der Weimarer Republik nicht erklären läßt.

Immer wieder begegnen sich in Revolutionen Leute, die mental in verschiedenen Geschichtsepochen zu Hause sind. Das zu analysieren macht den intellektuellen Reiz aus. Es führt eine allgemeine Revolutionstheorie, die über Gemeinplätze hinausgeht, ad absurdum.

Pruodhon schrieb über die französische Revolution von 1848, dass sie die Revolution der Intellektuellen, der Professoren, Studenten und Arbeiter gewesen sei; sie wurde von Rechtsanwälten vorbereitet, von Künstlern ausgeführt, von Novelisten und Poeten geleitet. Diese Wertung ist pointierend zugespitzt; ganz so schlimm war es natürlich nicht. Der wahre Kern war, dass die Revolution gleichzeitig völlig divergierende Interessen bedienen sollte.

Das Interesse der deutschen Handwerker nach der Wiederaufrichtung der Zünfte, der Traum der Industriellen von der Schaffung eines ihren Bedürfnissen angepaßten einheitlichen deutschen Wirtschafts- und Rechtsraums, das Streben der Arbeiter nach Organisation in als pressure groups angelegten Gesellenverbänden, der Wunsch der Intellektuellen nach Aufhebung der Zensur und das Interesse der Studenten an einem Krieg gegen Dänemark – das war der Wunschcocktail der deutschen 48er. Es passte fast nichts konsistent zusammen, da verschiedene Zeitalter ihr Recht forderten. Die einen trauerten dem Reichsdeputationshauptschluß hinterher, die anderen wollten ihre Industrieprodukte national als Massenware verkaufen, die einen wollten die französischen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit importieren, die anderen befreiten Schleswig von Fremdherrschaft. Es paßte wie gesagt fast nichts zusammen und so verlief man sich, nachdem man sich in der Frankfurter Nationalversammlung richtig kennengelernt hatte. Erfolgreiche Helden hat diese Revolution in Deutschland nicht produziert, höchstens ein paar Märtyrer und zahlreiche Emigranten. Der glücklichste 48er war Carl Schurz, der in Amerika Staatssekretär wurde.

Auch die Revolution von 1989 versammelte in den verschiedensten Gruppierungen ein Sammelsurium von Ideen, Überzeugungen, Erfahrungen und divergierenden Interessen. Einheitsgegner und Einheitsbefürworter, Planwirtschaftler und Marktwirtschaftler, bärtige Sandalenträger und geleckte Ostberliner Rechtsanwälte mit Pilotenkoffern, FrauenrechtlerInnen und lüsterne Männer, die endlich einen Blick ins St. Pauli-Magazin werfen wollten, Vegetarier und Werktätige aus der Tierproduktion, Schriftsteller, die ihr Monopol auf Westreisen verteidigten und Handwerker, die einmal einen Baumarkt von innen sehen wollten, Musiker, die sich im gesamtdeutschen Markt kein Echo mehr erhoffen durften und Rentner, die von Westmedikamenten ein längeres Leben erwarteten. Es war kaum zu glauben: vom völkischen Zivilisationspessimisten über den Nationalsozialisten bis zum Trotzkisten hatten alle Ideologien die DDR überlebt, wahrscheinlich wie in einem Weckglas nach Konservierung unter Luftabschluß. Charakteristisch war, dass die Revolutionsteilnehmer die dreißig deutlich überschritten hatten. Studenten, Schüler und Soldaten suchte man in den Revolutionsgruppen vergeblich, in den Demonstrationen liefen wenigstens die Lehrlinge und Fußballfreunde von den berühmt-berüchtigten Stehplätzen in den Trommlerkurven voran. In der revolutionären Stimmung liefen insbesondere im Neuen Forum und im Demokratischen Aufbruch, aber auch in der SDP aus jedem ideologischen Dorf die Hunde zusammen. Auffällig ist bei revolutionären Bewegungen genauso wie bei Parteigründungen der Anteil von politikunfähigen Träumern, querulantischen Zauderern, fanatischen Besserwissern und sektiererischen Reißbrettpolitikern. Über Weltkatastrophen und Heilungskonzepte wissen sie theoretisch fast immer sehr viel; in der Praxis ist es ihnen zu mühsam sich in Details zu vertiefen. Das ist die intellektuelle Abneigung gegen Kleinarbeit. Ohne diese ist man jedoch politikunfähig, weil alle großen Resultate in kleinen Schritten erkämpft werden.

Die deutsche Novemberrevolution war kein politischer, kein kultureller und kein ökonomischer Bruch, sondern vor allem das Absetzen des Kaisers. Das Auswechseln der Regierungsform, die Herstellung der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Reichstag, hatte bereits im Frühherbst 1918 stattgefunden. Die Novemberrevolution nahm auf die kulturelle Reformbewegung der Jahrhundertwende keinen Bezug, sie ignorierte den stürmischen Aufbruch der Jugend zur Sonne und zu neuen Ufern. Sie ignorierte den abgrundtiefen Haß der gesamten Jugendbewegung auf den Parlamentarismus und auf Frauenrechte.

Normale Revolutionen wurden durch eine Kulturrevolution vorbereitet. Das war vor 1789 in Frankreich so, das war auch vor 1989 in Osteuropa noch so. Die Novemberrevolution kam mit der Einführung der Republik einer liberalen Überzeugung von 1848 nach, sie erfüllte mit dem 8-Stunden-Tag eine sozialdemokratische Forderung der 60er Jahre des vorhergehenden Jahrhunderts. Und sie erfüllte mit dem Frauenwahlrecht einen Traum August Bebels aus dem Bestseller „Die Frau und der Sozialismus“, erschienen war das Buch 1878.

Die mit dem allgemeinen Wahlrecht verbundene parlamentarische Demokratie widersprach diametral der avantgardistischen Haltung der Reformkräfte der Spätkaiserzeit, die am liebsten eine Erziehungsdiktatur entweder als okkulte Priesterherrschaft, als elitäre Herrschaft der Geistigen oder als Diktatur von Berufsrevolutionären errichtet hätten. Insofern lief die Weimarer Republik als parlamentarisches und demokratisches Projekt der vorhergehenden elitären jugendbündlerischen Kulturwende geradezu zuwider. Wehler bemerkt in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte durchaus zutreffend, daß die Novemberrevolution ohne studentische Mitwirkung stattfand, in den Freikorps, die die Revolution beendeten, seien die Studenten dagegen zahlreich vertreten gewesen. Bezeichnenderweise hielten sich Studenten auch von der Revolution von 1989 fern, mit der die nietzscheanische Erziehungsdiktatur wieder einmal, aber leider nicht endgültig zu Grabe getragen wurde.

Kulturell und wirtschaftlich wurde nach dem Ersten Weltkrieg das fortgeführt, was vor dem Krieg begonnen hatte: elitäre, antidemokratische und diktatorische Strukturen triumphierten in den Medien, im Kulturbetrieb und in der Wirtschaft. Insofern ist die Weimarer Republik keine gesonderte Epoche, sondern sie fügt sich in das Vorher und Nachher nahtlos ein. Die Änderung der Regierungsform in eine parlamentarische war nicht nur kulturell, sondern auch in Bezug auf die Wirtschaftsverfassung ein Anachronismus. Die verzunftete und kartellierte Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegswirtschaft wäre mit dem Kaiserreich besser klargekommen, und sie sollte zukünftig mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus besser harmonieren, als mit einer parlamentarischen Republik. Es wird immer behauptet, die Revolution von 1918 wäre verspätet gewesen: Hätte sie rechtzeitig vor Friedrich Nietzsche und Friedrich Naumann stattgefunden, zu Lebzeiten von Friedrich Engels? Auch vor der elitaristischen Kulturrevolution hätte sie sich mit dem Romantizismus und seinem ökonomischen Fundament, dem Zunft- und Kartellsystem, den umfangreichen Überbleibseln des korporatistischen Mittelalters auseinandersetzten müssen, und wäre an diesen „Resten“ mit hoher Wahrscheinlichkeit gescheitert oder auf das Maß an Resultaten zurechtgestutzt worden, welche sich mit den Tricks des tapferen Schneiderleins erreichen ließen.

Ein grelles Schlaglicht auf den ideologischen Zustand der USPD und der links von der Sozialdemokratie stehenden Revolutionäre wirft die Münchner Räterepublik. Noch heute ist Schwabing der ungläubigste bayrische Wahlkreis. Nach dem Ersten Weltkrieg war fast ganz München ein einziges Schwabing. Das reformistische USPD-Mitglied Kurt Eisner, ein Student von Kant und Nietzsche, bärtiger Theaterkritiker der „Münchner Post“ wurde Ministerpräsident der Räterepublik. Die Münchner wurden von glühenden Reden vom Reich des Lichts, der Schönheit und der Vernunft genervt, sie antworteten mit dem Spottlied „Revoluzilazilizilazi hollaradium, alls drah ma um, alls kehr ma um, alls scheiß ma um, bum, bum!“ Der nach 1945 als Vorzeigebürger gehandelte Thomas Mann schrieb am 16. November 1918 in sein Tagebuch:

„Der eigentliche Proletarier-Terrorismus droht. (…) Andererseits Progrom-Stimmung in München, Widersetzlichkeit gegen das Judenregiment.“

Bei den Parlamentswahlen im Januar 1919 erlitt die USPD eine vernichtende Niederlage. Als Eisner gerade im Begriff war zurückzutreten, wurde er vom Grafen Arco-Valley ermordet. Nach Eisners Tod errichtete der Zentralrat unter dem Sozialdemokraten und späteren Nationalbolschewisten Ernst Niekisch eine Diktatur, bis der anarchistische Schriftsteller und Schwärmer Erich Mühsam sowie der expressionistische Kriegsverherrlichungsliterat Ernst Toller die Welt per Erlaß in eine Wiese voller Blumen, in der jeder sein Teil pflücken könne verwandelten.

Sie befahlen den Zeitungen auf der Titelseite Gedichte von Hölderlin und Schiller zu publizieren, neben den neuesten Revolutionsdekreten. Mühsams politischer Beitrag beschränkte sich im wesentlichen darauf, unter dem Titel „Der Lampenputzer“ die Mehrheitssozialdemokraten zu attackieren.

Der revolutionäre Außenminister Dr. Franz Lipp schrieb ein Telegramm an den „Genossen Papst, Peter-Kathedrale, Rom“, in welchem er den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hoffmann beschuldigte, mit den Schlüsseln zur Toilette durchgebrannt zu sein.

Nach dem durch diese und weitere kindischen Eskapaden provozierten Rücktritt von Niekisch und den meisten Ministern ergriff im entstandenen geistigen und personellen Vakuum auf Geheiß Moskaus eine Gruppe von elitaristischen Berufsrevolutionären um Max Lewien, Eugen Leviné und Paul Borissowitsch Axelrod, die letzteren beiden russische Geheimagenten, die Macht. Beschlagnahmekommissionen, Geiselverhaftungen, Geiselerschießungen, revolutionäre Willkür und der Hunger gewannen die Oberhand. Von expressionistischen Bohèmiens bis zu leninistischen Berufsrevolutionären war nacheinander alles, was die Lebensreform ausgebrütet hatte, als heterodoxes Allerlei an die Hebel der Münchner Ohnmacht geraten. Fast überflüssig zu erwähnen, daß sich der Gefreite Adolf Hitler der Roten Armee unterstellte, Quartier in der Kaserne in Oberwiesenfeld nahm und bis zu seiner Verhaftung durch das in München einrückende Freikorps Epp Träger der roten Armbinde war. Er ließ sich mehrfach zu einem der Vertrauensleute seines Regiments wählen. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt Hitler im Trauerzug für den ermordeten Kurt Eisner. Hunderte Revolutionsteilnehmer wurden bei der Wiederherstellung der Ordnung in überschießendem Eifer erschossen, Hitler überlebte leider. Vor diesem Hintergrund erscheint die Räterepublik im Gegensatz zur politischen Klasse der frühen Weimarer Republik als konzentrierter Ausfluß der Reform- und Jugendbewegung. Elitarismus, Expressionismus, Vagabundismus waren die Bausteine und das faszinierende und eigentlich logische ist: die durch die dekadente Spätkaiserzeit vorgeprägten Massen folgten den amorphen Ideen der Revolutionsführer eine Weile lang. Zumindest solange es nicht lästig wurde, erschien dem Volk die bunte Republik als ein natürliches Glied in der geschichtlichen Abfolge. Links und Rechts hatten sich vor 1945 nie endgültig geschieden, gerade in der Revolution zeichnet die simple Links-Rechts-Schablone kein zutreffendes Lagerpanorama. Die Räterepublik stand unter dem unausgesprochenen Motto: „Elitaristen aller Richtungen, vereinigt Euch!“

Der harte gewerkschaftlich organisierte Kern der SPD blieb explizit elitaristischen Überzeugungen unzugänglich, am intellektuellen Rand bröckelte die Führung wie auch die Basis. Neben Parteiintellektuellen wurden beim Auseinanderbrechen der SPD auch viele Arbeiter zur USPD und KPD mitgerissen. Viele Mitglieder der frühen KPD waren vorher Mitglieder der SPD gewesen. Thälmann trat 1903 in die SPD ein, 1918 in die USPD und 1920 in die KPD. Wilhelm Pieck war seit 1895 SPD-Mitglied, 1916 USPD- und Spartacus-Mitglied, 1918 erfolgte der KPD-Beitritt. Franz Dahlem war seit 1910 in der SPD aktiv, seit 1917 Mitglied der USPD und seit 1920 der KPD. Ideologisch kam es zwischen 1900 und 1920 zu einem Paradigmenwechsel auf beiden SPD-Flügeln. Der eine wurde egalitär-revisionistisch und ließ sich auf das parlamentarische System Weimars ein, der andere elitaristisch, antiparlamentarisch und wanderte nach Moskau ab.

Der Übertritt von der SPD zur USPD war ein Massenphänomen; Ein besonders interessantes Detail ist jedoch, dass fast alle Parteiintellektuellen zu den Unabhängigen übertraten, während die gewerkschaftsnahen „Ökonomisten“ in der SPD verblieben. Zu den zur USPD übergetretenen Intellektuellen gehörten Karl Kautsky, der trotzdem 1920 von Lenin heruntergeputzt wurde (Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky), Eduard Bernstein, der 1920 aus der USPD ausgeschlossen wurde und wieder in die SPD eintrat, Rudolf Breitscheid, der ebenfalls zur SPD zurückkehrte, der Theaterkritiker Kurt Eisner, Rosa Luxemburg, die zu den Spartakisten abdriftete und Georg Ledebour. Letzterer brachte es zum Vorsitzenden der USPD.

Wir hatten eben die sehr unterschiedlichen Temperamente der Münchner Räterepublikaner erwähnt. Eisner, Mühsam, Dr. Lipp, Gesell, Axelrod, Hitler, Niekisch, Lewien und Toller verband nur eine sehr verschwommene Vorstellung vom neuen Menschen und einer neuen Zeit und der Wunsch in diese neue Menschheitsperiode einzutauchen. Wenn man letzteres nicht versteht, so versteht man weder die Novemberrevolution noch die Weimarer Republik. Die von der Front und von den Schlachtschiffen nach Hause strebenden Soldaten waren naturgemäß soziologisch bunt zusammengewürfelt. Diese Männer kamen nun nachdem sie des langen Kriegs müde geworden, auf dem Wege nach Hause an einer Revolution von Literaten, Theaterkritikern, Malern und Poeten vorbei. Die Hoffnung dieser Kunstbeflissenen: Vielleicht ließ sich neben Russland wenigstens Deutschland auf den Pfad des Idealismus, einer ganzheitlich geistigen Gesellschaft trimmen, wenn dieser Versuch auch zunächst militärisch gescheitert war.

Vernünftige Analytiker hätten sich natürlich gefragt, ob vielleicht alles mit der Vorkriegsideologie gestimmt hätte, ob der deutsche Weg nicht manchmal gescheitert sei, weil er historisch unmodern und kulturell wie wirtschaftlich minder erfolgreich war. Aber es waren keine Analytiker, es waren Vulgäridealisten, die wie Roboter bei ihrer Programmierung blieben. Wenn der Krieg verloren war, so lag das nicht an einer falschen Theorie, sondern an der schlechten Umsetzung in der Praxis. Gerade konservative Ideologen waren begeistert über den Zusammenbruch eines Regimes, das nicht idealistisch genug gewesen war, um echte Kraft zu entfalten.

Die Vertreter der Jugendbewegung sowie die an der Front mit ihnen in Berührung gekommenen Jungbauern und Handelsgehilfen trafen auf die von der SPD abgesplitterten Intellektuellen, die sich in der USPD versammelt hatten, marxistisch orientierte sozialdemokratische Arbeiter und Gewerkschafter sowie ein Häuflein Spartakisten. Karl Liebknecht, Muck Lamberty, Kurt Eisner, Emil Nolde, Friedrich Ebert, Mario Gesell, Paul Borissowitsch Axelrod, Heinrich Freisler, Philipp Scheidemann, Lujo Brentano, Rosa Luxemburg, Adolf Hitler, Heinrich Mann, Hugo Haase und Karl Radek gehörten alle zum Personal der Revolution; sofort und auch auf Dauer hatten sie unterschiedliche Prägungen und Vorstellungen.

Die Revolution musste sehr fix über die Bühne gehen, denn die Massen waren auf dem Weg nach Hause. 14 Divisionen des Feldheers lösten sich nach Berlin einmarschiert innerhalb von nur 2 Tagen bis auf 800 Mann auf. Hartnäckig wurden die Arbeiter- und Soldatenräte von den Heidenpriestern des Marxismus-Leninismus als proletarische Massenbewegung gepriesen. Wenn aber der leninistische Geist die Frontrückkehrer ergriffen hatte, warum liefen die Leute so schnell auseinander, wie sie zusammengeströmt waren? Wodurch war die geringe Halbwertszeit der revolutionären Isotopen bedingt?

Es waren in der Masse eben keine marxistischen Proletarier, die sich zum Klassenkampf mit einem Generalstreik für bessere Lebensbedingungen formierten, denn die Forderungen nach Einführung der Republik, dem 8-Stunden-Tag, der Anerkennung der Gewerkschaften und dem Frauenwahlrecht waren in den ersten 14 Revolutionstagen alle erreicht worden.

In den verbleibenden Arbeiter- und Soldatenräten trafen völlig widerstreitende Fraktionen der Reformbewegung aufeinander. Eine Ahnung von den Ursachen der Kurzatmigkeit der Revolution erhält man, wenn man in Biografien und Verlautbarungen stöbert: Muck Lamberty, Johannes R. Becher und Hugo Ball haben die Revolutionsstimmung in Flugblättern, Gedichten und Stücken sowie einer Broschüre gerinnen lassen. Ein Blick auf drei exemplarische Personen.

Kriegsende und Revolution erlebte Lamberty im Lazarett. In der Revolution sah er eine Chance zur Verjüngung und Erneuerung des deutschen Volkes. Er war begeistert und wollte das Werden der Volksgemeinschaft mitgestalten. Muck gab sein Erspartes für den Druck von Flugblättern aus. Im Soldatenrat fehlte ihm die Solidarität unter den Revolutionären. Muck wendet sich von den konservativen und sozialistischen Kontrahenten ab. In seinem Flugblatt an die Freideutschen griff er viele zeitgenössische reformistisch geprägte Vorstellungen auf:

„… Wir sind uns über das Wesen der geistig Alten schon lange klar und hoffen unter den vielen lebendigen Deutschen der anderen Gemeinschaften, Freunde zu finden. – Es wird ein frisches Ringen sein mit den Altnaturen, die ihre Interessen und den Wert des Menschen erst in zweiter Linie stellen.
Die zuschauenden Altdingsnaturen und die ‚Bürgerlichen‘ sie haben kein Heimatschwingen, haben kein junges Klingen mehr im Blute. Sie sind von den Ereignissen überrascht worden; fast scheints, als ob sie den Kopf verloren haben. Sie waren am Tage des Umsturzes nicht zur Stelle, sie waren nicht unter den Soldatenräten, standen nicht vor der großen Schaar der Unzufriedenen, weil sie die Revolution fürchteten als eine Parteisache der Unzufriedenen und Gewalttätigen. Sie wußten ja nicht, daß so viele junge deutsche Gemeinschaften schon lange die Auseinandersetzung mit den starren Formen wünschten. Die Alten nahmen die Revolution – das Jüngerwerden, als eine unbequeme Erscheinung; wurden sie doch in ihrer Behaglichkeit gestört. Mit guter Miene fügten sie sich und glauben noch immer, daß alles so bliebe. Auch ihr jetziger Ruf nach Nationalversammlung entspricht nicht immer dem Willen, Gerechtigkeit in allen Dingen zu schaffen; sie haben oft nicht den Mut, die kleinlichen Interessen aufzugeben, den Menschen und das Werk wieder an erster Stelle zu setzen.
… Schon schauen die echten Menschen nach neuen Männern aus, nach jungen heimatstarken Mannen, zu denen sie Vertrauen haben können. Und wir jungen Heimatsucher, Heimatgestalter, und -Erhalter müssen zur Stelle sein, um in dieser Stunde vorzuschnellen, anzutreten als eine Gemeinschaft von Führern aller aufsteigenden, verjüngenden Ideen der Heimatgenesung; einer aus dem Boden, unserer Art, aufsteigenden Kultur.
… Aller innere Hader in den vielen Zeitschriften unserer Bewegung muß den neuen Aufgaben weichen. Wir stehen im neuen Kriege – die geistigen Kämpfe werden geschlagen, von den Alten mit dem Gift der Berechnung und scheinbaren Menschenliebe, von den Jungen mit der Glut zur Heimat und mit dem vollem Herzen.
Weil wir anspruchslos sind, – sind wir stark. Kein wirtschaftliches Durcheinander kann uns kommen, da wir der Sache uns hingeben. Ein Weiterwachsen wird sein, ein Aufsteigen des jungen deutschen Volkes, und, hoffen wir, ein Gleichklang mit den vielen jungen Bestrebungen in den anderen Ländern, mit denen wir bereits vor dem Kanonenmessen in Fühlung standen. Dann erst kann für Europa die Grundlage für eine neue Kulturstufe gelegt werden.
Lernen wir erkennen, daß sich jetzt die Jungnaturen als eine Tatgemeinschaft zeigen können; als eine Gemeinschaft, die Lebenskraft aus den Wellen der Heimat gewann, die aus sich schafft, Opfer bringen kann, keine Not fürchtet und gewillt ist, alles in den Dienst der Heimatgenesung zu stellen. In mir ist ein feines Klingen mit den alten hungernden Bachanten vor 1914. Ueberall in deutschen Landen trafen wir diese jungen rotbackigen Denker. In Deutschland, Oesterreich, Schweiz, Holland, Nordstaaten usw. Kommt auf den Hohen Meißner wieder. Laßt uns dort aus der Not der Zeit heraus den Bund der Freideutschen zur Volksgemeinschaft erweitern.“

Lambertys Vorstellungswelt war überhaupt nicht durch Karl Marx und Rosa Luxemburg geprägt, viel stärker durch die Jugendbewegung. Es ging ihm nicht um eine politische, sondern eine Kulturrevolution.

Ein anderes Beispiel für diese idealistische Aufbruchsstimmung lieferte Johannes R. Becher. Er schloß sich wie viele Expressionisten der neu gegründeten KPD an, ohne eine konsequent marxistische Herangehensweise an die Nöte der Arbeiterklasse zu entwickeln. Eher war sein Gestus expressionistisch-pseudoreligiös. Auf Hiddensee schrieb er das Festspiel

„Arbeiter, Bauern, Soldaten – der Aufbruch eines Volkes zu Gott“. „Wandelt euch, zerschlagt eure Götzen, brecht, Sklaven, auf aus der Wüste, aus trüber Verlassenheit eigener Knechtschaft.“

Gerd Koenen hat den Weg Bechers vom schwärmerischen Germanophilen zum Kommunisten nachgespürt: 1914 hatte Becher patriotische Kleist-Hymnen verfasst, in denen Preußen verklärt wurde, 1916 drechselte er an Dostojewski-Hymnen, 1917 phantasierte er bereits von Aljoscha, der Gott tötet, und sich über ihn setzt; der der Armut Land und Hermelin reicht. 1919 war es endlich so weit, dass er den „Gruß des deutschen Dichters an die russische föderative Sowjet-Republik“ verfasste:

Der Dichter grüßt dich -: Sowjet-Republik.
Zertrümmert westliche Demokratien!
Schon sternt ein Beil ob Albions Stier-Genick.
Dein Sieg, oh Frankreich, muß dich niederziehn!

Reim dich, oder ich preß dich! Der Haß auf Marktwirtschaft und Demokratie war die Konstante im Leben Bechers, die Verkleidung dieser Abneigung wurde in einem opportunistischen Prozeß je nach Kräfteverhältnis gewechselt. Nachdem Deutschland als Speerspitze des Kampfes gegen den Westen versagt hatte, wurde ohne zu zögern auf Russland gesetzt. Während des Stalin-Hitlerpaktes besang er das Freundschaftsband, welches sich zwischen dem Kreml und der Reichskanzlei spannte. Später dichtete er den Text der Nationalhymne, die ab 1967 wegen „Deutschland einig Vaterland“ nicht mehr gesungen werden durfte.

Hugo Ball war 1915 nach Zürich emigriert, um sich der Wehrpflicht zu entziehen und war im Kabarett Voltaire 1916 zum Vater des Dadaismus geworden. Etwa 1918 schrieb er die Broschüre „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“, die Anfang 1919 erschien und den „Führern der moralischen Revolution“ gewidmet war.

Bereits der Titel ließ erahnen, dass keine politische, sondern eine moralische Revolution auf der Tagesordnung stünde. Die ganze Studie wirkt vom logischen Aufbau etwa so, als wäre sie auf ihre Schlussfolgerung hingeschrieben worden, denn der rote Faden von der Diagnose zum Rezept weist zahlreich Knoten und ins Leere laufende Enden auf. In der Einleitung zeigte Ball durchaus treffend einige typisch deutsche Schwächen:

„Sie protestierten, sie erfanden jene »sittliche Weltordnung«, von der sie behaupten, daß sie von ihnen bewahrt und gerettet werden müsse; sie nannten sich das auserwählte, das Gottesvolk, ohne doch sagen zu können, weshalb sie es seien; sie verdrehten die Werte, suchten ihren Stolz im Widerspruch und spielten einen Heroismus aus, vor dessen hochtrabender und auf Schrauben ruhender Pose die übrige Welt in Gelächter ausbrach. Sie rühmten alle ihre Schwächen, ja ihre Laster und Verbrechen als Vorzüge und Tugenden und travestierten damit die Moralität der andern, denen sie sich überlegen fühlten.“ (…) „Nie verliebte man sich in andere Nationen, stets fühlte man sich als Richter, Rächer und Vormund.“

Die Diagnose Hugo Ball´s war eine überwiegend moralisch-philosophische, die ökonomische, politische und kulturelle Aspekte weitgehend aussparte. Immer waren es die Totengräber der Moral, die für alle Missgeschicke verantwortlich waren: Die Verhandlungen zwischen Ferdinand Lassalle und Otto von Bismarck wurden als „deutsch-jüdische Konspiration zur Zerstörung der Moral“ gegeißelt.

Hugo Ball betonte genau wie die von ihm bekämpften Hohenzollern seinen Abstand zur parlamentarischen Demokratie und strebte trotz der Verantwortung der deutschen Intellektuellen für den Ausbruch des Weltkriegs nach der Schöpfung einer demokratischen Kirche der Intelligenz:

„Eine Syntax freier Gottes- und Menschenrechte aber wird die demokratische Kirche der Intelligenz konstituieren, an die die Verwaltung der Heiligtümer und des Gewissens übergeht.“

Mit der Verwaltung der Heiligtümer des Gewissens waren im „Rat der geistigen Arbeit“, welcher der Räteherrschaft assistierte, so unterschiedliche Persönlichkeiten wie der spätere Mussolini-Verehrer Rainer Maria Rilke, der Expressionist Arthur Holitscher, der Autor des „Untertan“ Heinrich Mann, der Ökonomieprofessor Lujo Brentano und der Dirigent Bruno Walter vertreten. In Berlin gehörten dem Arbeitsrat für Kunst der Maler Otto Müller, das spätere NSDAP-Mitglied Emil Nolde, der Brückenkommunarde Karl Schmidt-Rottluff sowie die Werkbündler Bruno Taut und Walter Gropius an. Die Intellektuellen standen auf dem revolutionären Gaspedal, die in der SPD organisierten gewerkschaftlichen Ökonomisten hatten ihr Schäfchen mit dem im Stinnes-Legien-Abkommen erreichten 8-Stunden-Tag bereits am 15. November 1918 ins Trockene gebracht und traten energisch die konterrevolutionäre Bremse. Die revolutionäre Luft war aus den Großbetrieben kurz und schmerzlos entwichen.

Wie abgefahren die Mitglieder des Arbeitsrates waren, kann man daran erkennen, womit sie sich gerade beschäftigten. Es waren nicht die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, sondern der Bau von Pyramiden, der Bruno Taut umtrieb. Er hatte gerade sein Buch über die Stadtkrone vollendet, worin er für die jeweilige Stadtmitte die Errichtung einer Kathedrale der Sinnlosigkeit vorschlug. Von dort aus sollte die Geschossigkeit zum Stadtrand hin abnehmen. Nicht ein kommerzieller oder religiöser Zweck sollte das Stadtzentrum dominieren, sondern ein Tempel der reinen Schönheit.

Bruno Taut schrieb nach dem verlorenen Krieg so naßforsch, als hätte die deutsche Intelligenz den Eliten der Siegermächte und anderen Völkern noch irgend etwas mitzuteilen:

„Völker Europas! Bildet Euch die Heiligen Güter – Baut! Seid ein Gedanke Eures Sterns, der Erde, die sich schmücken will durch Euch! Ja unpraktisch und ohne Nutzen! Aber sind wir vom Nutzen glücklich geworden? Immer Nutzen: Comfort, Bequemlichkeit, – gutes Essen, Bildung – Messer, Gabel, Eisenbahnen, Closets und doch auch – Kanonen, Bomben, Mordgeräte! Bloß Nützliches und Bequemes wollen ohne höhere Ideen ist Langeweile. Langeweile bringt Zank, Streit und Krieg: Lüge, Raub, Mord, Elend, millionenfach fließendes Blut. Predigt: Seid friedfertig! predigt die soziale Idee: Ihr seid alle Brüder, organisiert Euch, ihr könnt alle gut leben, gut gebildet sein und in Frieden leben. Eure Predigt verhallt, solange Aufgaben fehlen, Aufgaben, die die Kräfte bis zum Äußersten, aufs Blut anspannen. Spannt die Masse in eine große Aufgabe ein, die sie alle erfüllt, vom Geringsten bis zum Ersten, die ungeheure Opfer, Mut, Kraft und Blut von Milliarden verlangt. Die aber sinnfällig deutlich für alle in der Vollendung ist…. Alle dienen der Idee, der Schönheit – als Gedanke der Erde, die sie trägt. Die Langeweile verschwindet und mit ihr der Zank, die Politik und das verruchte Gespenst Krieg…. Vom Frieden braucht niemand mehr zu sprechen, wenn es nicht mehr Krieg gibt. Es gibt nur noch rastloses, mutiges Arbeiten im Dienste der Schönheit, im Unterordnen unter das Höhere.“

Selbst Regierungskader strömten in die Räte. Quasi die ganze Führung der kaiserlichen Kriegsrohstoffabteilung war auf dem Marsch in die neue Administration. Am 10. November 1918 als es aus der Moskauer Perspektive so aussah, als habe in Deutschland die Räterevolution gesiegt, bat auch der Mitarbeiter des Auswärtigen Amts Alfons Paquet dem im Aufbruch nach Berlin begriffenen Kommissar Karl Radek, in Berlin mitzuteilen, daß sich Paquet dem deutschen Arbeiter- und Soldatenrat zur Verfügung stelle.

Die deutsche Arbeiterklasse ließ die Bewutseinsrevolutionäre, die als kriegsbegeisterte Intellektuelle die Arbeiter erst gegen England und Frankreich in den Schützengraben gehetzt hatten, und nun schon wieder neue Opfer im Dienste des Idealismus forderten, im Stich. Die Ökonomisten in der SPD hatten statt des Baus von innerstädtischen Tempeln zunächst materielle Verbesserungen für die Arbeiter anvisiert. Die ökonomischen Veränderungen, die neue Macht der Gewerkschaften als exklusiver Tarifpartner, der 8-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich, die Bildung von Arbeiterausschüssen in den Betrieben und das Recht der überlebenden Kriegsteilnehmer auf ihren verwaisten Arbeitsplatz waren ohne nennenswerten Widerstand und ohne Aufhebens erreichte Ziele, die Bewußtseinsrevolution blieb den Avantgardisten übrig; sie war bei den jugendlichen Mitläufern der Räte oft angesagter, als der Kampf um Lohnerhöhungen, den sozialdemokratischen Zukunftsstaat oder ein demokratisches Palaver von bärtigen Demokraten der älteren Jahrgänge. Wegen diesen grundlegenden Divergenzen zwischen gewerkschaftlichen Ökonomisten und intellektuellen Träumern liefen die Räte auseinander; bzw. sie wurden durch Noskes Freischärler auseinandergetrieben.

Im demokratischen Nest der Nationalversammlung, das von den politisierenden Vätern und Großvätern vor allem der SPD und des Zentrums gebaut wurde, lag von Beginn an ein kulturrevolutionäres antidemokratisches grünbraunes Kuckucksei. Der Nationalsozialismus war kein Unfall, sondern ein logisches Produkt der Kulturrevolution der Jahrhundertwende. Alles Ungemach auf Versailles und die Weltwirtschaftskrise zurückzuführen ist Unsinn. Im Gegenteil waren der Erste Weltkrieg Ergebnis der  Kulturrevolution der Jahrhundertwende und die Weltwitschaftskrise wiederum ein Resultat des Ersten Weltkrieges .