Halt die Klappe, aber die Gedanken sind frei

Kürzlich beklagte sich die Schülerin eines Gymnasiums darüber, daß man sich vor den Lehrern nicht ohne Nachteile frei äußern kann. Auch einige meist tonangebende Schüler wären intolerant. Es würde im Klassenzimmer wieder mal der totale PC-Krieg herrschen. Schon kleine Abweichungen könnten zu unverhältnismäßigem Ärger führen. Sie würde eisern die Klappe halten und sich den Redefluß für die Zeit nach der Schule aufsparen. Also sich mit Freunden und Freundinnen von außerhalb der Schule austauschen.

Das Problem ist nicht neu. Ich habe einen Schulaufsatz von meiner Großmutter aus der Kaiserzeit gefunden, der meinem eigenen aus der Russenzeit bis auf Punkt und Komma glich. Die Großmutter schrieb von der Lehrerschaft gewünschtes Zeugs, wie sie sich für Gott, Kaiser und Vaterland aufopfern würde, ich fabulierte siebzig Jahre später über meinen eigenen Nutzen für den Aufbau des Sozialismus. Es gab nur einen Unterschied: Die Großmutter hatte eisern geglaubt was sie schrieb, ich nicht.

Ich wäre sofort von der Schule geflogen, wenn ich auch nur einmal behauptet hätte, daß die Marktwirtschaft effizienter ist, als die sozialistische Planwirtschaft. In zwölf Schul- und vier Hochschuljahren habe ich so einen libertären Gedanken in einem Schulgebäude nicht ein einziges Mal gehört. Es wurde in manchen Fragen (nicht in allen) wirklich zu 100,0 % gelogen. Warum soll das heute besser sein?

Von den Eltern wurde man fast täglich darauf eingeschworen, ja nicht die Wahrheit zu sagen, sondern den Lehrern jeden Tag dick und fett zuzureden. „Die rote Fahne schwenken“, hieß diese Disziplin im Volksmund.

Mindestens einmal in der Woche wurde „Ich trage eine Fahne, und diehiese Fahne ist rot, es ist die Arbeiterfahne, die Vater trug durch die Not.“ gesungen. Es stimmte fast, in der Mitte von der Arbeiterfahne war allerdings ein Kreuz mit verbogenen Enden gewesen. Darüber sprach man nicht.

Einmal träumte ich im Staatsbürgerkundeunterricht so vor mich hin. Vielleicht vom Kapitalismus oder von schönen Mädchen oder vom Schokopudding zum Mittagessen. Der Lehrer fragte mich irgendwas und ich hatte die Frage verpennt. Ich erzählte ihm kurzentschlossen ein Märchen über das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln und bekam eine Eins. Ich wußte nicht wöfür und weswegen, aber so funktioniert eben das System Schule. Schönreden von morgens bis Mittag. Und nun wollen die auch noch die Ganztagsschule!

Die letzten Schulwochen hatte ich ein Bandmaß und schnitt jeden Tag eine Zahl ab. Die letzten Wochen zogen sich wie Gummi. Der Albtraum wollte und wollte nicht enden. Das blöde war: Als die Schule aus war, kamen die meisten Leutchen vom Regen in die Traufe. Nationale Volksarmee und/oder Hochschule. Wieder intensive Politbeschulung.

Mein Freund Dirk lotete in der Hochschule mal aus, wie weit man im ML-Unterricht gehen konnte. Er provozierte den ML-Lehrer Elchner – einen Choleriker mit Blutdruck 300 – mit trotzkistischen Phrasen, an die er selbst nicht glaubte: Die französische Arbeiterklasse wäre unfähig die Macht zu erobern und so einen krausen Schmarrn. Diese Seminare fanden im Nachbarzimmer statt, das nur durch eine Holztür abgetrennt war. Elchner fing fürchterlich zu schreien an und erregte sich über die Maaßen. Aber Dirk überlebte die Ausraster, weil seine Kritik von Linksaußen kam.

In meiner Seminargruppe diesseits der Holztür nahm ML-Lehrer Karsten Bund sein Lieblingsthema, die „Gärtnerischen Produktionsgenossenschaften“ durch. Das erinnerte an Biermanns Verszeile: „Blümchen nur besing ich“. Mit etwas Glück befand man sich auch in einer weiterbildenden Einrichtung im sozialistischen Biedermeier. Ich habe Bund nach dreißig Jahren in einem OPEL-Autohaus wiedergesehen. Paßt!

Wenn mir besonders scharfe Genossen begegneten, grinste ich vor mich hin und summte „Die hab ich satt.“ Ich war schon in den Siebzigern sicher, daß die sich selbst zugrunde richten, ohne daß man ihnen die Wahrheit mit dem Nürnberger Trichter verabreichen muß. Das kann ich auch der jungen Dame aus dem Gymnasium raten.

Der Merkelfaschismus wird auch bald enden, aber daß dann in den Schulen gleich Meinungsfreiheit herrschen wird, daran glaube ich nicht. Man müßte das Schulwesen entstaatlichen und dezentralisieren. Wenn die Eltern die Lehrer selbst bestellen und auch entlassen dürften, dann gäbe es nach dem eisigen Merkelwinter Chancen auf ein Tauwetter im Bildungswesen.

Noch ein Wort zur Effizienz von Meinungsunterdrückung: Der Westen der Bundesrepublik disfunktioniert mehr auf Grund der von der Regierung organisierten  Zahlungsströme, als auf Grund von in der Schule eingehämmerten Überzeugungen. Noch rollt der Rubel zu NGOs, Beamten, Fördergeldeinstreichern, Staatskünstlern und sonstigen Nettoempfängern von Steuergeld. Die zur Geschichte geronnene Erfahrung zeigt allerdings immer wieder wie illoyal die Nutznießer von Staatsknete werden können, wenn die Zahlung auch nur ein bißchen ins Stocken kommt.

Das Merkelsystem hat wie der Expressionismus, der Nationalsozialismus und der Stalinismus wegen Horizontlosigkeit und Voluntunarismus (wir schaffen das) etwas Selbstzerstörerisches. Das werden wir die nächsten Jahre sehen. Wo es genau krachen wird, das wissen wir noch nicht. Ob es ein Blackout, ein monströser Anschlag, das Ende der Kohle, des Diesels oder ob es der Euro ist, der uns um die Ohren fliegt. Bin mal gespannt. Man soll nicht mehr drüber sprechen, man soll nicht drüber nachdenken, aber es wird doch passieren. Im ML-Kurs Philosophie hieß das Phänomen, daß etwas anders läuft, als das Kopfkino von Künstlern, Pfarrern, Politikern und Journalisten „objektive Realität“.