Quellen der grünrotbraunen Lebensreform

Vor hundert Jahren entstand die Weimarer Republik. Ihre Protagonisten wurden vierzehn Jahre lang von den Lebensreformern aller Couleur gejagt, bis ihnen die Luft ausging. Es folgten in Deutschland 56 Jahre totalitäre Herrschaft. Grund genug einen Blick auf die Quellen der Lebensreform zu werfen.

1834 orakelte der weitsichtige Heinrich Heine:

„Der Gedanke geht der Tat voraus wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein deutscher und nicht sehr gelenkig, und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht.“

Mit der Lebensreformbewegung, die mit vielen Zwischenstationen nach dem Ersten Weltkrieg in Leninismus und Nationalsozialismus mündete, wurde es schwül in Europa, und auf die Schwüle folgte 1933 das klärende Gewitter, welches sich nicht als reinigend erwies.

Der Marxismus hatte, wenn man Friedrich Engels folgen will, drei Quellen: die Hegelsche Philosophie, den utopischen Sozialismus und die klassische englische Ökonomie. Bereits von diesen drei Quellen hatten zwei eine trübe ideologielastige Konsistenz.

Die Lebensreformbewegung hatte wesentlich mehr Zuflüsse: In den Krisenstrom der Jahrhundertwende ergoß die ganze Kanalisation von Weimar, Schwabing, Worpswede, Murnau, Friedrichshagen und Darmstadt ihren stinkenden Unflat. An den insgesamt trüben Quellen der Reformbewegung standen so schillernde Personen wie Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Turnvater Jahn, Ellen Key, Ernst Haeckel und Helena Blavatsky.

Friedrich Ludwig Jahn stand als einer der Turnväter am Beginn einer thematischen Säule, die den Gesundheitskult umfaßte und sich im Laufe der Zeit von Turnen, Vegetarismus, Fasten und Naturheilkunde auf den ganzen Körper ausweitete: Körperreform, Nacktkultur, Leibeserziehung, Reformkleidung und Tanz, Veganismus, Vollkornbrot, Abstinenz.

Jahn war durch die demütigende französische Besatzung zum Wutbürger geworden.

„Die Kleinstaaterei verhindert Deutschlands Größe auf dem Erdenrund. Wer seinen Kindern die französische Sprache lernen läßt, ist ein Irrender, wer darin beharrt, sündigt gegen den heiligen Geist. Wenn er aber seinen Töchtern französisch lehren läßt, ist das ebenso gut, als wenn er ihnen Hurerei lehren läßt. Polen, Franzosen, Pfaffen, Junker und Juden sind Deutschlands Unglück“.

So schrieb er bereits 1810 in seinem Buch „Deutsches Volkstum“. Seine Turnvereine waren patriarchalisch und nicht demokratisch organisiert. Die neun Mitglieder des 1814 gebildeten „Turnraths“ wurden nicht gewählt, sondern von Jahn bestimmt. Weitere 16 Mitglieder wurden wiederum nicht gewählt, sondern kooptiert. Jahn sprach in einem Brief, den er 1817 an Theodor Müller schrieb, von „Worthaltern“ als demokratisches Element. 1817 ließ er eine Bücherverbrennung auf der Wartburg organisieren. 1819 endlich zog ihn die Heilige Allianz im Ergebnis der Karlsbader Beschlüsse aus dem politischen Verkehr, um Europa drei Jahrzehnte Frieden zu bescheren.

Friedrich Nietzsches Gedanken bildeten den Auftakt einer Geistesreformbewegung: Philosophie, religiöse „Erneuerung“, ethische Reform und neue Weltanschauungstheorien. Immer wieder kam er auf das Thema die damals noch fast unerforschte Psychologie zur Herrin der übrigen Wissenschaften zu machen:

„…die Hand fest am Steuer! – wir fahren geradewegs über die Moral weg, wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsern eignen Rest Moralität…“

Das Christentum verwarf Nietzsche als Mitleidsduselei von dekadenten Schwächlingen. Mitleid, Frieden und Solidarität als christliche Tugenden wurden aus dem Reformtempel gejagt, anstelle dessen der Übermensch, die Gesundheit, Schönheit, der Elitegedanke, der Boden, das Blut und der Krieg vergötzt.

Diese Ansätze bildeten den Kern der Jugendbewegung und verbanden sich relativ schnell mit Körper-, Gesundheits- und Erziehungskonzepten.

„Ich gehe nicht euren Weg, ihr Verächter des Leibes! Ihr seid keine Brücken zum Übermenschen!“

Seine Abneigung gegen die Frauen folgte offensichtlich der Erkenntnis, daß Frauen und die Familie der wirksamste Damm gegen pubertierende und mordende Männerbünde sind, und pubertierende Männer waren nun einmal seine Zielgruppe.

„Noch ist das Weib nicht der Freundschaft fähig: Katzen sind immer noch die Weiber, und Vögel. Oder besten Falles, Kühe.“

Friedrich Nietzsche geißelte die Herdenpsychologie der Demokratie und der modernen Massengesellschaft. Den „Willen zur Macht“ verstand er als Urinstinkt, genauso wie die Herrschaft „gesunden“ Gefühls und Instinkts. Ziel war der „Übermensch“, ein höheres Wesen, das die Herrschaft über sich selbst und damit eine höhere Sittlichkeit erreichen sollte. Er leitete eine Revolte gegen den Empirismus und Rationalismus ein, die besonders in den deutschsprachigen Ländern, Paris, Rußland, Katalanien und Norditalien Einfluß gewann.

Helena Blavatsky schöpfte aus dem Okkultismus und verhalf der Seelenreform zum Durchbruch, indem sie die Theosophie begründete, aus der sich später die Anthroposophie und die Ariosophie entwickelten. Auch diese Lehren verbanden sich mit anderen, zum Beispiel mit der Naturschutzbewegung, mit Erziehungskonzepten und Siedlungsexperimenten. Okkultismus, Anthroposophie und Ariosophie hatten nur eine geringe Distanz zu rassistischen und antisemitischen Konzepten, teilweise waren letztere aus ersteren herausdestilliert worden. Beispielhaft dafür ist Helena Blavatskys Wurzelrassenlehre, die auch von den Anthroposophen übernommen wurde. Polarier, Hyperboreer, Lemurier, Atlantier und Arier, die sich in indische, persische, ägyptisch-chaldäische, römisch-griechische angelsächsische-germanische unterteilten und denen der Jude als Verkörperung des Tierischen gegenüberstand.

Richard Wagner war der Kunstreformer. Seine Gesamtkunstwerke aus Musik, Sprache, Kostüm und Bühnenbild stellten alle bisherige Dramaturgie in den Schatten, denn die Dramaturgie rankte sich nicht mehr um die Musik, sondern die Musik um das Drama. Als Schöpfer von dramatischen Massenaufläufen und von pathetischen Affekten wurde Wagner ein Ideengeber für Hitlers Massenaufmärsche, er schuf neben D´Annunzio die Grundlagen für die Ästhetisierung der Politik und war ein recht gehässiger und eifriger Judenhasser. Bereits als Kind hatte er ein „großes“ Trauerspiel entworfen, eine Mischung aus Hamlet und Lear:

„der Plan war äußerst großartig; zweiundvierzig Leute starben im Verlauf des Stückes, und ich sah mich in der Ausführung genötigt, die meisten als Geister wiederkommen zu lassen, weil mir sonst in den letzten Akten die Personen ausgegangen wären.“

Nachdem er Beethovens Musik zu „Egmont“ gehört hatte, faßte er den Gedanken, sein dramatisch verbrämtes Konjunkturprogramm für die Sargmacherzunft mit selbstgemachter Musik zu umfloren. Es folgte heftiges Pubertieren mit studentischen Ausschweifungen und revolutionäre Attacken in der Julirevolution 1830 und im Mai 1849, wo er mit dem Dresdner Zunfthandwerk an den barocken Toren der sächsischen Macht rüttelte. Der königliche Kapellmeister wurde daraufhin von der Dresdner Stadtpolizeideputation gesucht und entzog sich der Festsetzung durch Flucht. „Lohengrin“ (1850), der „Tannhäuser“ (1861), „Tristan und Isolde“ (1865), die „Meistersinger“ (1868), „Rheingold“ (1869), „Die Walküre“ (1870), der „Ring der Nibelungen“ (1876) sowie der „Parsival“ (1882) zehren an der Mythologie verschiedener Germanenreiche bzw. am schönen Mittelalter der Nürnberger Zünfte.

Die Bekanntschaft mit Friedrich Nietzsche datierte bereits aus dem Jahr 1868. Nach 1849 begann Wagner kunsttheoretisch zu arbeiten. In seiner Abhandlung „Oper und Drama“ begann er seinen Kampf gegen die Musik als Unterhaltung und die Oper als Unterhaltungsindustrie. In den Mittelpunkt seiner Arbeit rückte das Drama, dem sich die Musik unterzuordnen hatte. Nicht der verderbte Geschmack des Publikums, sondern das Kunstwerk als Selbstzweck und der Künstler als solcher rückten in den Mittelpunkt des theatralischen Olymps. Der Opernbesucher sollte nicht nach einem Tag der Arbeit, der Mühe und des Stresses zur Zerstreuung in die Oper eilen, sondern eigens eingeladene, in Bayreuth verweilende Sommerfrischler sollte nach den Zerstreuungen des Tages abends im Festspielhaus den Eindruck der Aufführung empfangen.

„So mit frischen, leicht anzuregenden Kräften, wird ihn der erste mystische Klang des unsichtbaren Orchesters zu der Andacht stimmen, ohne die kein wirklicher Kunsteindruck möglich ist.“

Es ist unschwer zu erkennen, und so ist es bis heute, daß der Unterhaltungsanspruch für ein breites Publikum bewußt aufgegeben wurde und eine elitäre Bande mit hohem Aufwand bespielt wurde. Der Ersatz der Unterhaltungsmusik durch die E-musik und das Primat des Dramas über die Musik ebneten den Weg in einige elitäre Jahrzehnte.

Ernst Haeckel als forscher Popularisierer von Darwin übertrug die Selektionstheorie aus dem Tierreich in die menschliche Gesellschaft und schlug damit das Tor in den Sozialdarwinismus weit auf. Eugenische Konzepte des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Hitlers Vorstellungen vom Vorrecht des Stärkeren, sind kaum begreifbar ohne das Herüberschwappen des Biologismus in die Politik.

Ab 1900 nahm die Reformpädagogik ihren Lauf. Da der Verstand als Quelle allen Übels gerade unter Beobachtung stand, triumphierte notwendig auch in der Erziehungswissenschaft das Gefühl. Dem Kinde sollte idealtypisch nichts beigebracht werden, sondern das dem Kinde vermeintlich inhärente „eigene Wesen“ sollte entwickelt, das „volle starke persönliche Kinderleben“ forderte sein Recht.

Auslöser war das 1899 erschienene „Jahrhundert des Kindes“ von Ellen Key. 1905 war es in Deutschland bereits 26.000 mal verkauft worden. Die Schule sollte Gesamtschule sein, das Prinzip der Ganzheitlichkeit des Lernens mit Herz, Gefühl, Kopf und Hand verkörpern. Bereits 1899 wollte Key auf Zensuren und Belohnungen verzichten und den obligatorischen Stoff gegenüber den Wahlfächern einschränken. Mythisierung und Romantisierung des Kindes, das Dogma des „Wachsenlassens“ nahmen breiten Raum ein, in die Kinderseele wurde mehr hineingedeutet, als von Natur aus drin war. Sie wurde leicht zum Zerrspiegel reformpädagogischer Wünsche, was man an in die Schule mitgebrachtem Wesen zu erkennen wünschte, fand man irgendwie auch, oder man projizierte es in das Kind. Bereits in den dreißiger Jahren kritisierte Heydorn:

„Mit der Befreiung der schöpferischen Natur des Kindes sollte der Mensch befreit werden. Der Angriff richtete sich gegen das Erstarrte, die Buch- und Formenschule, in der Tiefe aber nicht nur gegen das Absterbende, manieristisch-brutale Bewußtsein, sondern gegen alle Bewusstmachung überhaupt, alles Licht; eine magische Welt des Kindes wird der Welt des produktiven Bewusstseins gegenübergestellt, eine vorbewusste Welt, die den Menschen vor Eintritt in seine Geschichte zeigt und ihn dort festhalten will…“

Als Hermann Hesse 1901 über seine Kindheit schrieb, schien er Ellen Key bereits gelesen zu haben:

„Ich wage nicht, von meinen Kinderspielen viel zu reden. Es gibt nichts Wunderbareres und Unbegreiflicheres und nichts, was uns fremder wird und gründlicher verloren geht als die Seele des spielenden Kindes.“

Natürlich war Ellen Key, ganz Kind ihrer Zeit, auch Anhängerin der Euthanasie und sie warb für die Rassenhygiene. Der Reformpädagoge Hermann Lietz, der die ersten deutschen Landerziehungsheime gründete, war darüber hinaus auch Antisemit. Im Heim Haubinda kam es vor dem Weltkrieg zum „Haubindaer Judenkrach“, als die Juden aus dem Heim ausgeschlossen wurden. 1919 veröffentlichte Lietz die Schrift „Des Vaterlandes Not und Hoffnung“, in dem er ein Einwanderungsverbot für Juden und ihren Ausschluß aus der deutschen Gesellschaft empfahl.

Bis zum ersten Weltkrieg verbandelten sich die genannten thematischen Säulen häufig miteinander, sie nahmen gegenseitig Inhalte auf. Das lag vor allem daran, daß die Menschheit alles abschreibt, auswendig lernt und nachplappert. Der heute vergessene Popularisierer Norbert Grabowsky als produktivster zeitgenössischer Kompilator und Kompendienschreiber beispielsweise betrieb von 1903 bis 1922 eine regelrechte Bücherfabrik, um jede neue Volte der Reformbewegung unverzüglich unters Volk zu bringen. „Durch Entsagung und Vergeistigung zum jenseitigen Leben, ein Führer für nach Vervollkommnung Strebende“ (1903), „Die verkehrte Geschlechtsempfindung “ (1904), „Die höchsten Ziele des Menschen“ (1905), „Der Naturgenuß und sein Wesen“ (1905), „Das Recht der geistigen Bahnbrecher“ (1906), „Der Innenmensch: ein Schauspiel philosophischen Erkenntnisgehalts in zwei Aufzügen“ (1909), „Privatbibliotheken volksthümlicher Werke philosophischer Erkenntnis und die außerordentliche Bedeutung solcher Bibliotheken für den Geistesfortschritt der Menschen“ (1911), „Die Anschauungen übersinnlicher Wirklichkeit (1911), „Wahre Bildung: ein Handbuch innerer Höherentwicklung“ (1911), „Die Geheimnisse des Übersinnlichen“ (1922). Die Vielfalt der in den Buchüberschriften behandelten Themenkreise zeigt, daß Grabowsky relativ unkritisch und zeitnah auf jedes neue Reformbedürfnis einging. Eine anderes Ideologievermanschungsforum entstand um 1900 mit Wilhelm Schwaners „Volkserzieher“, einer Zeitschrift, die lebensreformerischen und jugendbündlerischen Strömungen eine recht gut beachtete und breit angelegte Bühne bot und damit dafür sorgte, daß im Reformlager keine Langeweile aufkam. „Der Volkserzieher“, „Die Tat“ und andere Monatsschriften fungierten wie ein reformatorisches Tischleindeckdich beim Ausbrüten immer neuer Konzeptionen.

Aus der gegenseitigen Beeinflussung der Modeströmungen entstand im allgemeinen keine Konvergenz der Meinungen, trotzdem wurde gelegentlich aus der Vermengung zweier Heilslehren eine dritte gezeugt. Ein Beispiel für die Breite der Diskussion läßt sich anhand des Themas „Siedlungsbewegung“ erkennen: Die SPD gab die Broschüre „Sozialdemokratie, Landwirtschaft und Bodenreform“ mit sozialistischen Parolen heraus, Reinhold Hülsen publizierte „Heim-Land: Zum Eigenheim mit Garten, zu schuldfreiem Erbgut mit zinsfreiem Gelde“ (offenbar antikapitalistisch-judenfeindlich), der Werkbündler Hermann Muthesius schrieb unter gestalterischen Aspekten „Kleinhaus und Kleinsiedlung“, Franz Oppenheimer begeisterte sich unter ökonomisch-historischen Aspekten für „Die Siedlungsgenossenschaft: Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage“ und Rudolf Richter hatte einen ökologischen Aspekt im Auge, als er „Der neue Obstbau, einfaches, streng naturgemäßes Verfahren“ publizierte. Diese aspektgebundenen Betrachtungen wurden von anderen Autoren aufgebrochen: Heinrich Driesmann glaubte den Zusammenhang zwischen „Menschenreform und Bodenreform“ entdeckt zu haben und der bereits erwähnte Grabowsky verband die Siedlungsfrage mit Geschlechtsempfindungen, dem seelischen Innenleben, dem Naturgenuß und der Kunst glücklich zu werden.

Atheismus, Idealismus, Nacktkultur, Rassismus, Vegetarismus und andere Reformimpulse verbanden sich schnell zu einem reformistisch-elitaristischen Brei: Mit dem traditionell kirchengebundenen Christentum nämlich wurde auch dessen transzendente Gottesvorstellung verabschiedet, damit aber auch jeder Glaube an eine Erlösung jenseits der individuellen und volklichen Existenz. Otger Gräff, völkischer Aktivist und Kriegsteilnehmer, der während des Krieges bereits einen gewichtigen Beitrag zur Gründung völkisch-religiöser Gemeinden und Siedlungsprojekte geleistet hatte, formulierte:

„So ist deutscher Glaube ein lebendiger Diesseitsglaube, `deutscher Idealismus‘, der die schöne reiche Erde, insonderheit die liebe Heimat nicht als ein Jammertal ansieht und auf ein angeblich besseres Jenseits hofft, über das wir nichts wissen können, der vielmehr vor allem hier auf Erden das Gottesreich aufrichten will, das Höhere Reich der Deutschen.“

Diesseitig-religiös orientiert war das Selbstverständnis und die Praxis der meisten bürgerlichen Reformbewegungen (Nacktkultur, Kleiderreform, Antialkoholbewegung, Vegetarismus, Naturheilverfahren, Landkommunen etc.), an deren Erlösungsversprechen man durch die Befolgung der richtigen Kleider- oder Essensordnung partizipieren konnte. Die Vergottung des gesunden Leibes, greifbar im quasi-religiösen Schrifttum der Nackt- und Körperkultur und wiederum angeregt durch Nietzsches Denken, ist ein weiteres Indiz für die Enttranszendierung zeitgenössischer Erlösungshoffnungen. Damals ebenso zeitgemäß wie heute waren völkische Spielarten der Gymnastik- und Tanzbewegung wie etwa Friedrich Bernhard Marbys (1882-1966) „Runengymnastik“ oder „Runen-Yoga“, durch deren Übungen man im Kontakt mit dem Kosmischen auf den „Germanischen Einweihungsweg“ geriet, der geradewegs zur vermeintlichen Selbsterlösung führte.“

Am Ende der Friedensperiode 1914 hatte sich die Lebensreform in ernährungs- und gesundheitsbezogene, siedlungs- und wohnreformerische, körperbezogene, sexualreformerische, jugendbündische, frauenrechtliche, sozialreformatorische, erzieherische, rassistische und antisemitische, völkische, okkulte, religionskritische, philosophische und formgestalterisch-ästetische Kolumnen zerteilt, aber der größte Teil dieser Themenangebote war wieder durch Unterthemen zerfasert und atomisiert, bzw. durch teils skurrile Lehrangebote miteinander verwoben worden. Worüber man sich bei allem Streit, bei aller Abgrenzung und bei aller Konvergenz der Theorien einig war: „Alles muß anders werden“ und: man suchte den Neuen Menschen.

Die Genese der Lebensreform gleicht nicht einem Baum, wo aus einem Ideenstamm durch Verzweigung immer ausgefeiltere und differenziertere Ideen herauswuchsen; da neben dem nietzscheanischen Hauptbaum noch andere Bäume wuchsen, wie der des Okkultismus und der des Darwinismus. Ein verwilderter Garten mit mehreren Bäumen, die ungenießbare Früchte trugen, kommt der Realität jener bunten Vielfalt schon näher, auch wenn man annimmt, daß Sprosse von verschiedenen Bäumen auf andere aufgepfropft wurden. Am Schluß der Reformgeschichte ist ein Flussgleichnis angemessener, wo viele Reformbäche in Flüsse und die großen Flüsse in den roten Fluß Stalins und den braunen Strom Hitlers mündeten. Ab 1900 ergossen sich beispielsweise Nebenarme des Marxismus und des Nietzscheanismus in den Strom des Leninismus, der Leninismus verband sich ein Jahrzehnt später mit dem traditionellen orthodoxen Etatismus zum Stalinismus. Der völkisch-ökologische, der vitalistisch-biologistische, der zünftig-korporative und der rassistisch-teutonische Waggon wurden in einem ideologischen Rangierbahnhof zum NS-Zug zusammengestellt, dessen Lokomotive mit Juden gefeuert wurde und dessen Räder auf den Schienen des Jugend- und Schönheitskults sowie des Biologismus rollten. Es bedurfte eklektizistischer Konstrukte, um zu heterodoxen Systemen zu kommen. Gerade durch den Antiempirismus, den Kult des Willens und des Gefühls wurden diese Auswüchse des Zeitgeistes erst ermöglicht.

Das ist übrigens auch der Grund, warum die wissenschaftsfeindliche grüne Ideologie von Frau Dr. Merkel so gefährlich ist.

Stanley Payne hat die lebensreformerische Kulturkrise des Fin de siècle vorrangig in den Kernländern Mitteleuropas ausgemacht: in Deutschland, Österreich-Ungarn, Norditalien und Frankreich. Ergänzen muß man Rußland, wo Symbolismus, Brutalismus, Funktionalismus, Jugendstil und andere Ismen in die Metropolen eindrangen. Der deutschsprachige Raum litt an Nietzsche und der Jugendbewegung; in Italien waren Gabriele d´Annuncio und die Futuristen aktiv, Frankreich litt spiegelbildlich am Antirationalismus und Vitalismus a la Bergson, der „violence“ eines Sorel, am Kult der Erde und des Todes (Barrès) und am Bonapartismus als frühe Führerphantasie. Deutschland, die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns und Italien entwickelten faschistische, nationalsozialistische und rechtsautoritäre Regierungssysteme, in Rußland kam es zum totalen Führerstaat, in Frankreich siegte in den 30er Jahren die elitistische Volksfront.

Eric J. Hobsbawn beschrieb die USA der Jahrhundertwende als kulturelles Entwicklungsland: Mark Twain und Walt Whitmann mussten ausreichen, Henry James wäre wegen der dünnen geistigen Atmosphäre aus Amerika ausgewandert. Der diagnostizierte kulturelle Notstand hatte natürlich den Vorteil, dass keine Kulturkrise ausbrechen konnte wie in Europa. So wie die Lebensreform sich in den USA nur punktuell ausbreiten konnte, so der Marxismus und die Arbeiterbewegung. Es fehlte in Amerika die Tradition der Gesellenvereine und der Zünfte, deren Fortentwicklung die Verkammerung der Wirtschaft sowie die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung war. Es fehlte alles traditionelle. Erst mit der deutschen Emigration nach 1933 kam ein Schwall von erfolgreichen Zerstörern in die Neue Welt. Von der Frankfurter Schule über Bertold Brecht bis zu den Bauhäuslern

Wenn man den Marxismus und die Lebensreform strukturell vergleicht, so kann man das an den Quellen und Bestandteilen festmachen: Der Marxismus hatte angeblich drei Quellen und drei Bestandteile. Die Lebensreform hatte wesentlich mehr Quellen und wesentlich mehr Bestandteile. Sie war wesentlich heterodoxer und wandlungsfähiger. Das verlieh ihr gegenüber dem Marxismus den Vorteil, den Viren gegenüber Bazillen haben. Sie sind wandelbarer, unberechenbarer und ekelhafter. Der bakterielle Marxismus kam nirgends auf der Welt jemals zum Zug, der virale Leninismus, Stalinismus, Maoismus, Faschismus und Nationalsozialismus schon.

Über die Charakteristika der „wahren“ Lebensreform konnte man im Reformlager durchaus uneins sein, um doch einige griffige Grundgedanken – zum Beispiel die Überlegenheit von Eliten, den Kult der Gesundheit oder die Präferenz für die Jugend – miteinander zu teilen. Thomas S. Kuhn hat für Wissenschaftler festgestellt, dass sie in der Identifizierung eines Paradigmas übereinstimmen können, ohne sich über seine vollständige Interpretation oder abstrakte Formulierungen einig zu sein. Das Fehlen einer Standardinterpretation oder einer anerkannten Reduzierung auf Regeln hindere ein Paradigma nicht daran die Forschung zu führen.

Ideologen, Künstler und Politiker sind auch nur Menschen. Ihre Wahrnehmung unterliegt ähnlichen Eindrücken und Täuschungen, wie diejenige der Wissenschaftler. Auch die Lebensreform oder die Jugendbewegung haben niemals eine einheitliche Interpretation der Welt zustande gebracht. Trotzdem beherrschten die Gebetsformeln der Lebensreform die geistige Auseinandersetzung im Spätkaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und Spätstalinismus, ja sie hatten in ihrer Vielfalt eine ideologische Monopolstellung errungen.

Mit der Renaissance der Themen der Lebensreform seit den 60er Jahren erleben wir derzeit die Vorstufe für einen erneuten Ausbruch des Totalitarismus.