Selbstmord aus Angst vor dem Tod

Die CDU-Delegierten befanden sich heute wie Odysseus zwischen den Ungeheuern Skylla und Charybdis, hatten also keine einfache Entscheidung zu treffen. Zur Wahl stand entweder eine CDU links der Mitte, die solange den Kanzler stellen kann, wie sie die stärkste Partei ist. Dabei ist es völlig egal, ob sie 25 oder 35 % auf die Waage bringt. Oder eine CDU, die eine Position einnimmt, die wieder zur Politik Helmut Kohls zurückkehrt: Rechtes Lager mit CDU/CSU, FDP und – wo sie nun einmal da ist – auch mit der AfD.

Letzteres Modell hat natürlich die Schwäche, daß das rechte Lager Wahlen auch einmal verlieren könnte, so wie es Helmut Kohl 1998 ging. Das Balanzieren links der Mitte ist auch nicht risikofrei: Denn da herrscht im Gegensatz zur konservativ-liberalen Seite Gedrängel und Konkurrenz. Alle buhlen gleichzeitig um den modernen städtischen Citoyen, der irgendwas mit Medien, Gleichstellung oder Feminismus macht. Der Abstand zwischen Grünen und CDU/CSU war in einigen Umfragen auf 3 % zusammengeschmolzen, nicht auszuschließen, daß die CDU eines gräßlichen Tages Juniorpartner der Kanzlerin Annalena würde. So wie es den Christmenschewisten in Baden-Württemberg nach der letzten Landtagswahl 2016 erging.

Ewig werden die Wähler der CDU nicht unbesehen abnehmen, konservative Werte zu vertreten. Jedes jahrzehntelang mühevoll aufgebaute Image wird bei schlechter Markenpflege beschädigt. Nur ein aktuelles Beispiel: Gerade haben die Jusos die Abtreibung bis zur Geburt beschlossen. Immerhin ist das die 70.000 Mitglieder starke Jugendorganisation des Koalitionspartners. Einige besorgte GenossInnen haben sich entsetzt ausgemalt, wie sich das abgetriebene Baby auf dem Operationstisch noch lebend krümmt. Den modernisierten Koalitionspartner CDU läßt das aus machtpolitischem Kalkül völlig kalt. Wegsehen, weghören, abmurksen. Na und?

Auch die Gefahr hinter die AfD zurückzufallen ist real. Bei der letzten Bundestagswahl gab es in Sachsen schon mal einen Vorgeschmack. Die AfD hatte mehr Zweitstimmen wie die CDU erreicht. Insbesondere bei den Landtagswahlen im Osten im kommenden Herbst wird bei der CDU das Dach brennen. Und vorher droht noch die Europawahl im Mai zum Desaster zu werden. Die Europawahl war immer schon die Wahl, wo die Wähler alte Rechnungen mit der Regierung beglichen.

Auch ein Parteivorsitzender Merz hätte bis zum Mai 2019 keine Wunder bewirken können. Zumal die Projektionsfigur allen Abscheus weiterhin Kanzlerin ist. Ihre Beseitigung vor den Wahlen 2019 würde zu viel Unruhe in der CDU und in der Bundesregierung hervorrufen und den Wählern, die Ordnung wie bei den Sieben Zwergen haben wollen, nicht schmecken. Das Gewährenlassen der Kanzlerin würde wiederum das Momentum ruinieren, welches Merz für ein Umsteuern gebraucht hätte.

Alles „hätte“, aber im Grundsatz steht AKK vor demselben Dilemma, falls sie sich von Merkel lösen und Bundeskanzler werden will. Jeder Tag, der ohne Kurskorrekturen vergeht, vermasselt ihr die Tour. Wenn die rasche Trennung der siamesischen Zwillinge Merkel und AKK mißlingt, stünde im Falle einer Regierungskrise wieder Friedrich Merz als Kanzlerkandidat in der Tür.

Seine heutige Rede vor den Delegierten erinnerte etwas an den gefühlten Weltökonomen Helmut Schmidt. Die ausgebreiteten globalen Probleme und durchaus durchdachten Lösungsansätze von Merz überzeugten nur diejenigen Delegierten, die über den S-Bahnring Berlins hinausblicken können. Sie verdeutlichte aber auch den Unterschied zur saarländischen Provinzlerin AKK, die auf die kommenden Krisen schlecht prepariert erscheint. Die Delegierten entschieden sich mit knapper Mehrheit für die Nestwärme einer Glucke, statt für einen fitten Kühlschrank, in dessen Gefrierfächern Altmeier, Grütters und Merkel hätten landen können.

Falls AKK sich nicht unverhofft mausert, und vor der Europawahl noch rasch Aprilfrische daherzaubert, ist der Notausgang für die CDU verpaßt worden. Und die letzte Eisenbahn. Dann wäre heute Selbstmord aus Angst vor dem Tod begangen worden.