Der Letzte macht das Licht aus

Als ich im Vorschulalter war, fehlten alle paar Wochen irgendwelche Nachbarn. „Die sind abgehauen“, wurde den Kindern unter dem Siegel der Verschwiegenheit erklärt. Eines Sonntags wurde die Grenze dichtgemacht und es mußten erst mal alle daheim bleiben. Nur Rentner durften nach wie vor „wegmachen“, wie das im Volksmund so hieß.

1975 tagte in Helsinki eine internationale Konferenz, in deren Schlußakte das Kapitel VII „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit“ enthalten war. Darauf beriefen sich ersten Leute, die einen Ausreiseantrag stellten. Zu Anfang drang nicht viel ins normale Volk durch. Aber seit dem Biermannrausschmiß 1976 sprach sich das rum. Es dauerte nicht lange und ich hatte Bekannte, die so einen Antrag laufen hatten. Es wurden im Laufe der Jahre immer mehr. In manchen Betrieben wurden sogenannte „Sterbezimmer“ eingerichtet, wo die Antragsteller unter sich waren, damit sich der antietatistische Bazillus nicht so schnell ausbreiten sollte.

Hauptgründe mit dem ersten Leben Schluß zu machen waren die extreme Wohnungsnot, familiäre Angelegenheiten, der Wunsch ein Fahrzeug zu kaufen, stinkende und dreckige Gemeinschaftstrockentoiletten, kein Wasseranschluß in der Wohnung, die Steigerungsform Tonnenklo, das Wohnungsamt überhaupt, die Hoffnung auf eine berufliche Verbesserung und Reisewünsche im NSW.

Von einer Kollegin war der Mann schon abgehauen und sie war mit den Kindern sitzengeblieben. Als sie nach fünf Jahren endlich in den Westen kam, stellte sie fest, daß der Alte neu liiert war. Ein Bekannter war schwul und wollte Darkräume besuchen. Nach seiner Ausreise holte er sich umgehend Aids und verstarb. Ein anderer Bekannter war Bauleiter und wollte mal was anderes fahren, als einen Trabant. Er hatte Glück und bekam einen besonders gut bezahlten Job bei der Berufsgenossenschaft und einen Dienstwagen, der noch nicht 200.000 km runter hatte. Ein anderer machte eine Kariere vom Maurer zum Chef eines Luftbildvertriebs.

Der Weg dahin war steinig. Je nach Intelligenz lief so ein Antrag zwei bis fünf Jahre bis zur Ausreise. Man mußte damit rechnen an Feiertagen wie Erster Mai oder Republiksgeburtstag eingelocht zu werden, auf Lohnerhöhungen oder Bananen im Konsum brauchte man nicht mehr zu spekulieren. Nach ein paar Jahren hatte ich raus, daß es schnell ging, wenn man die Arbeit sehr schlecht oder fast überhaupt nicht mehr erledigte. Besenstiele abbrechen, Maschinen beschädigen, Krankschreibungen ohne Ende oder die Radikalmaßnahme Kündigung. Ich hab da so einige Tips gegeben und ein paar Sachen beschleunigt.

Eine erste größere Genehmigungswelle lief 1984, als etwa 29.000 Leute entlassen wurden. Das hatte jedoch zur Folge, daß immer mehr Anträge gestellt wurden.  Die damalige Pseudoelite in Berlin hatte sich vielleicht versprochen, die schlimmsten Wohnungsprobleme loszuwerden und mehr Ruhe in den Laden zu bekommen. Aber es war wie beim Drachen: Aus jedem abgeschlagenen Kopf erwuchsen sofort drei neue Störenfriede. Noch im selben Jahr wurden 57.600 Anträge neu gestellt. Bis 1988 soll die Zahl der Anträge auf 114.000 angewachsen sein, obwohl jedes Jahr „feindlich-negative Kräfte“ in fünfstelliger Zahl verschwanden. Von März bis Mai 1989 verließ wieder ein ganz großer Schub von rund 35.000 Nörglern die Zone. Und ab Herbst kamen mehrere Millionen in Bewegung. Etwa 1992 entspannte sich durch Abwanderung und Neubau die Lage auf dem Wohnungsmarkt und die erste große Auswanderungswelle ging zu Ende.

Damals dachte ich, daß sich das nicht wiederholen würde. Die Zeitungen berichteten vom Ende der Geschichte, woran ich gleich Zweifel hatte. Da waren ein paar Redakteure im Vollrausch. Im Gegenteil: Inzwischen ist klar, alles wiederholt sich. Die Ausreisewelle 2.0 beginnt gerade.

Seit der Grenzöffnung von 2015 begann zunächst eine massive Binnenwanderung aus den durch Clans und messernde Merkelgäste belasteten Städten aufs Land. Binnen weniger Monate waren in meiner ländlichen Umgebung fünf seit Jahren erfolglos angebotene Grundstücke verkauft. Inzwischen sind die Preise deutlich gestiegen und der Markt gibt kaum noch was her. Immer mehr Grundstückssuchende finden nichts mehr. In Deutschland ist eine Umsiedlung zu vernünftigen Preisen immer schwieriger machbar.

Zudem sind die Mietpreise in den Städten durch die ungeregelte Zuwanderung aus Asien und Afrika explodiert. Durch die sogenannte „Energiewende“ haben sich auch die Strompreise verdoppelt. Viele Rentner und kleine Leute können sich die Mieten und Nebenkosten nicht mehr leisten.

Es beginnt gerade die Abwanderung in freiere und günstigere Länder. Die befinden sich überwiegend im Osten. Den offiziellen Zahlen der Statistiker zur Auswanderung darf man nicht trauen. Viele Leute kaufen jetzt erst mal auf Vorrat, um mit Renteneintritt zu verschwinden. Viele haben auch noch einen Koffer in Berlin und sind derzeit nicht abgemeldet. Das wahre Ausmaß erkennt man an den Grundstückskäufen in Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien und anderen Oststaaten. Da ist derzeit der Teufel los.

Die Gründe sind wieder sehr vielschichtig: Zu hohe Kosten der Lebenshaltung, Mobbingprobleme deutscher Kinder in Schulen, mangelnde Meinungsfreiheit, Zensur, Berufsverbote, der Wunsch eine landwirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, sich auch in der Dunkelheit noch frei bewegen zu können, die Energiepreise und die Grundstückspreise sind die häufigsten. Meine Freundin hatte sich in zwei Auswandererforen angemeldet, um diese Interna zu recherchieren.

Es gibt auch eine überschaubare Rückwanderung. Meistens sind Sprachbarrieren und falsche Vorstellungen über geschäftliche Perspektiven im Ausland die Gründe. Pferde-, Künstler- und Kreativhöfe beispielsweise gibt es schon überall genug. Da gibt es auch im Osten das Phänomen der Marktsättigung. Überall händeringend gesucht sind dagegen Handwerker. Allerdings nicht zu deutschen Preisen. Vor der Ausreise sollte man sich über das Zielland, die Preise und die beruflichen Perspektiven gründlich informieren. Auch mit der Sprache sollte man sich befassen. Mindestens so, daß man Einkaufen oder eine Fahrkarte lösen kann und ein Schreiben des Stromversorgers versteht. Auch nicht schlecht, wenn man sich mit Nachbarn verständigen kann. Die Ossis haben jetzt einen riesigen Vorteil. Durch die begrenzten Reisemöglichkeiten der Vergangenheit und die sowjetische Fremdherrschaft haben sie einen leichteren Zugang zu slawischen Sprachen und ungarisch. Rumänisch dürften dagegen wieder die Wessis besser können, denn es ist dem Italienischen sehr nahe.

Viele Leute sind auch nach Jahren noch glücklich mit ihrer Entscheidung, Deutschland den Rücken gekehrt zu haben. Derzeit sind immer mehr persönliche Bekannte von mir auf der Flucht. Ausreise ist wieder ansteckend wie in den 80er Jahren. Wie sagte man vor dreißig Jahren? Der Letzte macht das Licht aus.