Was Merkel beim heutigen Staatsakt verschweigen wird

Heute feiert die Kanzlerin mit ihrem Troß die Weimarer Verfassung. Großer Staatsakt im Weimarer Theater. Die Akteure der 89er Revolution sind bezeichnenderweise nicht geladen. Ich hatte überlegt, ob ich mich mit ein paar Freunden mit einer gelben Weste auf die Straße stelle und ein bißchen randaliere. Ich habe mich für den folgenden Eintrag entschieden, mit dem ich ein Tröpfchen Wahrheit in Dr. Merkels Giftsuppe spucke. Denn Dr. Merkel wird sich die Weimarer Republik und deren Verfassung so zurechtschustern, wie es ihrem eigenen Machterhalt am optimalsten dient.

Alle Revolutionen scheitern, denn mit dem Umsturz ändern sich nicht automatisch die Menschen. Da Revolutionen nie perfekt ablaufen, gibt es regelmäßig Enttäuschung und eine Rückerinnerung an die Zeit vor der Revolution. Die Revolution frißt ihre Kinder, sie ist irgendwann zu Ende. Wenn die in der Revolution geschaffenen Institutionen die Generation derer überleben, die sich noch an die Zeit vor der Revolution erinnern können, dann haben diese geänderten Institutionen eine gewisse Chance, einen längeren Zeitraum zu überdauern.

Das war bei der Weimarer Republik nicht der Fall. Sie wurde von Wandervögeln und Lebensreformern aller Couleur, darunter dichtenden, musizierenden, bauenden und politisierenden Elitaristen zur Stecke gebracht und als politisches System überrannt. Vollkornverzehrende Eigenbrötler, vom schönen Mittelalter träumende Zunftmeister, leninistische Parteiavantgardisten, bizarre aus der Zeit gefallene Germanenschwärmer, kapitalismuskritische Antisemiten, von Blutreinigung und Menschenzucht besessene Landkommunenindianer, Naturschützer die das Arten- und Brauchtumssterben betrauerten, christliche Volksgemeinschaftssoftis und Querulanten in Reformsandalen bildeten eine zivilisationskritische und demokratiefeindliche bunte Vielfalt. Die politischen Arme dieses kulturellen Netzwerks waren elitäre jugendoptimistische Bünde, dem Führerprinzip verpflichtete Vereinigungen, Parteien und Landbünde, die Kommunisten als Elitepartei „Neuen Typus“ und als Erben der meisten dieser Organisationen die Nationalsozialisten, die die Republik mit offenem Visier bekämpften und zusammen mit Stalinisten und linksliberalen Reißbrettpolitikern zerstörten. Die passive Seite bildeten die Weimarer Parteien SPD und Zentrum, die den demokratischen Staat durch eine fehlende ökonomische und kulturelle Fundamentierung dem schnellen Verfall preisgaben.

Spätestens seit 1930 hatten die erklärten Todfeinde und Gegner der parlamentarischen Republik die Mehrheit der Wähler auf ihrer Seite. Nicht durch die Einigkeit der Demokraten, sondern nur bedingt durch die präsidentiale Übermacht und den Immobilismus des uralten Präsidenten Hindenburg konnte die Weimarer Republik als politisches System noch drei Jahre bis 1933 gegen den erklärten Wählerwillen überleben, dann war sie endgültig sturmreif, und ihre Verteidiger hatten keinen Mut, keinen Überlebenswillen und kein Selbstvertrauen mehr. Die parlamentarischen und demokratischen Institutionen der Republik wurden binnen kurzer Zeit abgeschafft, sie waren so wenig im Volk verwurzelt, daß nur eine schwache Erinnerung die zwölf Jahre des tausendjährigen Reichs überdauerte. Meine Großeltern konnten sich um 1960 vor allem an Straßenschlachten am Zahltag – der war meistens freitags – erinnern.

Von den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur Novemberrevolution hatte es einen Paradigmenwechsel gegeben. Die demokratischen Rauschebärte, die für Deutschland eine parlamentarische Republik erträumten, waren in der Spätkaiserzeit langsam in die Defensive geraten. Mehr und mehr setzte sich beim Bildungsbürgertum der Glaube an die Kraft von Führern durch, die ihre Legitimation nicht durch Wahlen, sondern durch Charisma, Gewalt, Kraft und geistige Überlegenheit bezogen. Der Masse wurde mehr und mehr die Vernunft abgesprochen, diese politischen Titanen zu erkennen und zu wählen. Aus der allgemeinen Wahl würden politische Pygmäen als Sieger hervorgehen. Das demokratische Paradigma befand sich auch deshalb in der Krise, weil die Demokraten es zwischen 1848 und 1914 nicht fertiggebracht hatten, ihre Macht evolutionär zu erweitern. Es blieb in Preußen beim Dreiklassenwahlrecht, es blieb bei der Beherrschung des Reichstags durch den Reichskanzler. Bismarck wurde als Dompteur der Volksvertretung geehrt, und nicht als deren politischer Arm. Die Deutschen Kriege hatte Bismarck gegen das Abgeordnetenhaus vorbereitet und nicht mit den Mehrheitsliberalen.

Die älteren Jahrgänge hielten noch an demokratischen Leitbildern und Vorstellungen fest, die jüngere Generation neigte zur elitaristischen Gewaltspolitik, wie sie von Nietzsche mit dem „Zarathustra“ propagiert worden war. In dieser Situation des labilen Gleichgewichts der Generationen und deren Lieblingskonzeptionen begann der Erste Weltkrieg als Erfolg der Kriegs- und Gewaltspropheten in Medien und Kultur. Er endete nicht wirklich mit einer Krise des Paradigmas vom überlegenen fröhlichen Krieger und von der Sieghaftigkeit des idealistischen deutschen Weges über den materialistischen britischen Kraken.

Bei den Intellektuellen gab es nach dem verlorenen Krieg eine ideologische Verunsicherung. Der Elitarismus, die Gewaltsphilosophie und der Führerglaube wurden nach dem Ersten Weltkrieg jedoch nicht verworfen, auch von denen nicht, die sich von Kriegstreibern zu Pazifisten gewendet hatten. Kurt Tucholsky und sein Autorenkollektiv beispielsweise bewunderte Mussolini und Stalin.

Entsprechend wurde die neue Weimarer Verfassung eine Wiedererfindung der Institutionen des Kaiserreichs. Neben einer geringen Verbesserung gab es viele Verschlechterungen gegenüber der alten Reichsordnung.

Die geringe Verbesserung bestand daraus, daß der neue Kaiser ab nun gewählt wurde und Reichspräsident hieß. Er war jedoch mit etwa denselben Vollmachten ausgestattet, als vordem der Kaiser, ja in einigen Bereichen mit mehr. Von Anfang an wurde deshalb von einem Ersatzkaisertum gesprochen und später, daß der Souverän der Herr des Ausnahmezustands sei. Im Wesentlichen waren die Ausnahmebefugnisse des Reichspräsidenten im § 48 verankert. Das Notverordnungsrecht, das Auflösungsrecht des Reichstags, das Ernennungs- und Entlassungsrecht des Reichskanzlers, der Oberbefehl über die Reichswehr und die Befugnis, direkt den Volkswillen zu befragen, stellten eine ungeheure Machtfülle dar.

Die Verschlechterung bestand in der unklaren Machtbalance zwischen Reich und Ländern. Das Recht der Steuererhebung ging von den Ländern an das Reich über, den Kommunen wurden die Finanzgrundlagen fast vollständig entzogen und Bayern wurde die eigene Armee weggenommen. Mit der Machtfülle des Reichspräsidenten verband sich nun eine in ihrer Bedeutung geschwächte Ländervertretung, die dem Reich nichts entgegenzusetzen hatte. Die Gleichschaltung war eigentlich schon 1919 erfolgt.

Die Lösungen der Weimarer Verfassung entbehrten nicht einer inneren Logik. Das Kaiserreich beschritt nach einem marktwirtschaftlichen Beginn einen langen Weg in die Planwirtschaft. Nach dem deutsch-französischen Krieg mit französischen Reparationsmilliarden aufgepumpt, marschierte die Wirtschaft mit vielen Zwischenstationen in die zwangs- und planwirtschaftliche Zentralverwaltungswirtschaft des Weltkriegs. Die Tendenz zur Monopolisierung der wirtschaftlichen Entscheidungen ließ sich besonders in der Endphase, dem Weltkrieg, nicht mehr bestreiten. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn auf der Basis dieser über Jahrzehnte gewachsenen strammstehenden und grüßenden Kriegs- und Planwirtschaft ein pluralistischer Bürgerstaat errichtet worden wäre.

Vielmehr erforderte und gebar die Kriegswirtschaft ein zentralistisches und bürokratisches Monstrum als Staatsüberbau. Es gab in der Nachkriegszeit (und die ganze Weimarer Republik war Nachkriegszeit) kaum ernsthafte Versuche der Demokratisierung, Dezentralisierung und Entmonopolisierung.

Ganz anders waren die Notwendigkeiten. Erforderlich wäre ein Bruch mit den Institutionen des Kaiserreichs gewesen, um die Weltkriegsfolgen zu überwinden, etwa wie später nach dem zweiten Weltkrieg, als die Planwirtschaft von Ludwig Erhard etwas abgemildert wurde.

Diese Notwendigkeiten sahen die großen Parteien nicht. MSPD und USPD hatten vom Marxismus inspirierte Programme und dachten eher an Vergesellschaftung und zentrale Steuerung, als an marktwirtschaftliche Impulse. In der DDP gaben die Verfechter der planwirtschaftlichen Gemeinwirtschaft unter Einschluß des Genossenschaftsgedankens den Ton an. Im Zentrum führte die Betrachtung der Wirtschaft unter den Aspekten der Soziallehre ebenfalls zu unklaren Positionen, denn die Soziallehre hatte ein durchaus kritisches Verhältnis zur Marktwirtschaft und idealisierte die kleinen überschaubaren Wirtschaftskreisläufe und korporatistische Wirtschaftsweisen. Für die Verhältnisse der Großindustrie war das unpassend.

Eigentlich gab es keine kompakte Kraft, die gegen das gesellschaftliche System der Kaiserzeit energisch oder auch nur zögerlich aufmuckte. Es war wie zur Zeit von Merkels Nationaler Front in den Jahren 2009 bis 2013, als es keinen Opposition mehr gab. „Ich kenne keine Parteien mehr“ sprach der Kaiser. Ergebnis der Verhandlungen zwischen den Verfassungsparteien MSPD, Zentrum und DDP war 1919 der kleinste gemeinsame Nenner: Alle größeren Veränderungen in die eine oder in die andere Richtung wurden verhindert, der Status Quo war das überwiegende Maß der Dinge. Ergebnis war eine monarchische Republik mit einem Wahlkaiser, der sich Reichspräsident nannte. Ergebnis auf wirtschaftspolitischem Gebiet war die Schaffung des Reichswirtschaftsrats, einer planwirtschaftlich denkenden Ständevertretung.

Die Revolution von 1918 nahm keinen Bezug auf die Kulturrevolution der Jahrhundertwende. Allenfalls ihre Plakate waren expressionistisch.

Mit der Abschaffung der Monarchie, der Stärkung der Rechte der Frau und der Arbeiterklasse erfüllten die Novemberrevolution und die Nationalversammlung sozialdemokratische und demokratische Forderungen aus dem 19. Jahrhundert. Die antichristlichen, antidemokratisch-elitären, bündischen, ästhetizistischen, antisemitischen, biologistischen, vitalistischen, antropologischen, antiwestlichen, futuristischen, antikapitalistischen, rassistischen und nationalistischen Ideen des endenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts wurden kaum beachtet und in der neuen republikanischen Ordnung nicht umgesetzt. Sie waren aber in der Gesellschaft der Weimarer Zeit vorhanden, egal ob sie sich avantgardistisch, neokonservativ, demokratisch, antisemitisch, bolschewistisch oder bündisch verbrämten. Sie scheuten am Anfang der Republik das politische Licht, sie agierten in der Subkultur oder sie gaben sich noch gemäßigt. Die Weimarer Verfassung war insofern eine verspätete Verfassung, als sie Forderungen erfüllte, die 1919 für die intellektuellen Eliten schon zum alten Eisen gehörten, die neuen Ideen der Jahrhundertwende kamen nicht vordergründig zum Tragen.

Diese Ideen und ihre Träger warteten auf eine neue antidemokratisch-elitäre, antiwestliche, bündische, antichristliche, antisemitische oder elitaristisch-leninistische Revolution. Das bedeutet nicht, daß alle von Anfang an auf die Offenbarung des Programms der NSDAP warteten; ein deutlicher Paradigmenwechsel, ein deutsches New age schwebte jedoch in der Luft. Die Bedingungen für die nationalsozialistische Machtübernahme reiften erst. Die nationalsozialistische Variante der Lebensreform kam zum Tragen, weil Hitler es verstand, bizarre reformatorische Inhalte in für die Massen vermittelbare und nicht vermittelbare zu selektieren, das „Brauchbare“ massenverträglich in glatte Tüten zu verpacken und die Lebensreform mit der Technik zu versöhnen. Während eine schmale Parteielite von Supergermanen, Heldenzüchtung, Blutreinigung und erobertem Boden träumte, opferte die von Goebbels gesteuerte Filmindustrie auf dem Altar des Egalitarismus, nuschelte sich der kleine Rühmann an den elitaristischen Sirenen vorbei. Adolf Hitler löste das alte lebensreformatorische Dilemma: populär, aber nicht elitär; elitär, aber nicht populär endlich auf. Das Elitäre wurde populär.

Ein Wort noch zum Frauenwahlrecht. Es wurde zu einer Zeit eingeführt, als die Frauen im kulturellen und politischen Leben den Tiefpunkt ihrer Achtung erreicht hatten. Friedrich Nietzsche hat folgende Stichworte hinterlassen:

Ach, diese Armuth der Seele zu Zweien! Ach, dieser Schmutz der Seele zu Zweien! Ach, dieses erbärmliche Behagen zu Zweien!

Katzen sind immer noch die Weiber, und Vögel. Oder besten Falles, Kühe.

Ehe nennen sie diess Alles; und sie sagen, ihre Ehen seien im Himmel geschlossen.
Nun, ich mag ihn nicht, diesen Himmel der Überflüssigen! Nein, ich mag sie nicht, diese im himmlischen Netz verschlungenen Thiere!

Ferne bleibe mir auch der Gott, der heranhinkt, zu segnen, was er nicht zusammenfügte!

Lacht mir nicht über solche Ehen! Welches Kind hätte nicht Grund über seine Eltern zu weinen?

Würdig schien mir dieser Mann und reif für den Sinn der Erde: aber als ich sein Weib sah, schien mir die Erde ein Haus für Unsinnige.

Ja, ich wollte, dass die Erde in Krämpfen bebte, wenn sich ein Heiliger und eine Gans mit einander paaren.

Dieser ging wie ein Held auf Wahrheiten aus und endlich erbeutete er sich eine kleine geputzte Lüge. Seine Ehe nennt er´s.

Jener war spröde im Verkehre und wählte wählerisch. Aber mit einem Male verdarb er für alle Male seine Gesellschaft: seine Ehe nennt er´s.

Jener suchte eine Magd mit den Tugenden eines Engels. Aber mit einem Male wurde er die Magd eines Weibes, und nun thäte es Noth, dass er darüber noch zum Engel werde.

Die Männerbünde hatten in den zwanziger Jahren ihre Hochkonjunktur: Wandervogel, Burschenschaften, Stahlhelm, Sturmabteilungen, Rotfrontkämpferbund, Vereine von ehemaligen Maschinengewehrschützen. In allen diesen Vereinigungen konnte man seiner schönen, leidenschaftlichen und auf ihre Art sehr intelligenten Frau entkommen. In nicht wenigen dieser Organisationen bildeten sich schwule Netzwerke. Besonders davon betroffen waren naturgemäß die Bünde und die SA. Nicht nur im George-Kreis knisterte es homoerotisch, auch an allen Fronten des Ersten Weltkriegs.

Freud vermutete, dass sich Homosexualität mit Massenbindungen besser verträgt, auch wenn sie als ungehemmte Sexualstrebung auftrete. Adorno behauptete gar „Totalität und Homosexualität gehören zusammen“.

Es waren weniger libidinöse Wünsche, als eine Gewalts- und Männlichkeitsreligion, die den Zusammenhang von Schwulheit und Reformismus schuf. Im Zarathustra gehören Gewalt gegen Schwache, Vergötterung des Gesunden, Verachtung für die Frau und Kult der Gewalt und des Krieges in einen elitaristischen Zusammenhang. Diese Vergötzung des Männlichen, Fröhlichen und Gewalttätigen, diese dezidierte Herabwürdigung der Frau musste auf Dauer die Ausbreitung der Homoerotik fördern. In dem Moment, wo sich die Kulturbeflissenheit bewusst in Männerfreundschaften und Männerbünden entlud, wuchs die Gefahr, dass es zu körperlichen Kontakten der Geistigen käme. Von den Orten, wo Frauen fehlten, von Schiffen, Kasernen und Zuchthäusern ganz zu schweigen.

Wo war die Madame de Stael, wo waren Charlotte von Stein, Angelika Kaufmann, Anna Amalia, Maria Theresia, die Günderode, Bettina von Arnim, Annette von Droste-Hülshoff, Marie-Antoinette, die Frau von Göchhausen des 20. Jahrhunderts? Wo waren um die Jahrhundertwende die selbstbewussten Frauen geblieben? In einem Moment, wo das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, war der Einfluß von Frauen im deutschen Politik- und Kulturbetrieb auf den historischen Tiefpunkt gesunken. Rosa Luxemburg wurde noch schnell ermordet, so dass Käthe Kollwitz, Clara Vieweg, Clara Zetkin, Else Lasker-Schüler und Ricarda Huch in einem sich ständig ausdehnenden Meere von dichtenden, politisierenden, malenden und komponierenden Männern fast allein zurückblieben. Die Tendenz der zurückgehenden Zahl von Frauen als Dichterinnen, Politikerinnen und Schriftstellerinnen hatte sich bereits im ganzen 19. Jahrhundert verstärkt; als Nietzsche die Frau endlich in den Kuhstall stellte, hatte sie den Zenit ihres Einflusses längst überschritten. In der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde ihre Rolle neu definiert: Wedekind beschreibt seine Lulu als wildes schönes Tier, und Clara Vieweg biologisierte die werktätige Frau bis zur animalischen Stilisierung:

„Ihre Pupillen vergrößerten sich, ihre geschmeidigen Glieder duckten sich zum Sprung, nun tauchte ihr Gesicht mit den zitternden Nasenflügeln dicht vor dem seinen auf – ein Kuß und ein Biß brannten auf der Wange…“

Eine ähnliche Rolle spielte die fünfzehnjährige Marcella im Kreis der „Brücke“-Kommunarden. Wenigstens wurden Frauen im biologistischen Milieu nicht ignoriert, aber das ihnen zugestandene Aktionsfeld lag zweifelsfrei nicht auf intellektuellem Gebiet. Dem gefühlsbetonten Geist der Zeit entsprechend wurde die weibliche Lust aus ihrem natürlichen nervlichen Zusammenhang mit dem Gehirn herausdestilliert, verselbständigt, aufgebauscht und überhöht. Das waren wohl die Katzen, die Nietzsche erwähnte.

George Grosz stellte in „Der Schuldige bleibt unerkannt“ die Frau als Täterin dar, die als Prostituierte ihre Macht über die Freier ausspielt, seine Frau stellte er in „Daum marries her pedantic automation george in may 1920, john heartfield is very glad of it“ als aufreizende sexuelle Provokateurin dar, sie schaut im wahrsten Sinne des Wortes etwas blöd aus der Wäsche. Geil und möglichst doof, so wollte das der reformistische Mann.

Auch im ach so progressiven Bauhaus herrschte dank den dort zelebrierten Werten von Friedrich Nietzsche reformistische Frauenfeindlichkeit. Gropius verortete in seiner allgemeinen ahistorischen Formen- und Raumlehre das Dreieck, die Farbe rot und den Geist bei der Männlichkeit, das Quadtrat, die Farbe blau und die Materie bei den Weibern. „Klee definierte das Genie selbstverständlich als männlich, als er es 1928 in der Zeitschrift „bauhaus“ mit „zeugung“ verglich. Er stand damit in einer Denktradition für die, ausgehend von Nietzsche, Schöpfertum und Männlichkeit weitgehend identisch waren.“ In Weimar und Dessau waren Männer Kulturwesen und Frauen Naturwesen. Folglich verfrachtete der Meisterrat die Frauen in die Webereiwerkstatt, die als „Frauenabteilung“ geführt wurde. Aus dieser Rollenverteilung kam man als Frau nur – typisch für sozialistische Systeme – mit Protektion heraus. Im Bereich Bau und Ausbau gab es unter den Absolventen folglich nur vier Schneewittchens unter hunderten Zwergen.

Sigmund Freud setzte das Tüpfelchen auf das i des männergesellschaftlichen Denkens, als er fehlgeleitete Handlungen von Frauen auf ihren Penisneid zurückführte, auf die mangelnde psychische Verarbeitung des Fehlens dieses Tools.

Ein weiterer Zweifler an der Gleichberechtigung und der Intelligenz der Frauen war Otto Weininger. Wie die meisten frauenkritischen Autoren der Zeit um 1900 war ein unselbständiger Nachbeter Friedrich Nietzsches, der dessen Vorurteile mit Freuds Theorien vermengte.

In seinem Hauptwerk „Geschlecht und Charakter“ zeigte er sich als Verfechter einer frauen- und körperfeindlichen Geisteshaltung.

„Die Werte höheren Lebens seien, behauptete der eigenwillige Philosoph, der Frau ebenso unzugänglich wie die Welt der Ideen. Je weiblicher das Weib, desto mehr verkörpere es eine reine geistlose Geilheit. Erst durch den Mann empfange die Frau ein Leben aus zweiter Hand. Nicht von ungefähr nannte Ernst Bloch Weiningers Abhandlung „eine einzige Anti-Utopie des Weibes“.

Das Judentum wiederum schien Weininger durchtränkt von Weiblichkeit. Daraus leitete er die paranoide Gleichung ab, dass „der Jude“ (Weininger sprach von Juden durchweg im Singular und dann auch immer nur vom männlichen Juden) ein Weib sei, eine kommunistische Kupplerin. Da beide, Frauen und Juden, nur Sexualität, nur Körper und Materie seien, bar jeden Geistes, jeder Seele und jeder Sittlichkeit und unfähig zur sexuellen Askese, stellten sie eine Bedrohung dar.

Seiner Meinung nach denken Frauen nicht logisch, eher in Assoziationen. Instinktiv sagten sie nie die Wahrheit und neigten von Natur aus zu Krankheiten und zur Hysterie. Aber auch die Logik von Juden sei mangelhaft. Sie stützten sich vor allem auf den „Pilpul“, einer von hebräisch ‚Pfeffer‘ abgeleiteten scharfen Dialektik, die auf reiner Assoziation beruhe und, laut Weininger, nur ein weiteres intuitives Mittel zur Lüge darstelle. Im Grunde sei der Jude noch verderblicher als das Weib und habe wie das Weib keinen „Schwerpunkt“ innerhalb seiner Auffassung von der Welt. Darüber hinaus gäbe es für Juden auch keinen Schwerpunkt in der Welt selbst, während für die Frau dieser Schwerpunkt immerhin der Mann sei. Der Jude sei nichts anderes als eine degenerierte Frau. Gleichwohl stellten beide, Juden und Frauen, universelle Möglichkeitsformen menschlicher Existenz dar. Sie seien Erscheinungsformen, die in jedem beliebigen Individuum auftreten könnten. „Der Jude“ wie „das Weib“ hätten ferner eine materialistische Gesinnung. Beiden fehle der Sinn für Humor, ihre Ausdrucksform sei die Satire. Ferner zeigten beide einen Mangel an Tiefe wie etwa auch der „fast jede Größe entbehrende Dichter Heine.“ Aber:

„Der tiefstehende Mann steht noch unendlich hoch über dem höchststehenden Weibe, so hoch, dass Vergleich und Rangordnung hier kaum mehr statthaft scheinen.“

Dem Tod Weiningers folgte schnell posthumer Nachruhm. „Geschlecht und Charakter“ wurde zum begehrten Kultbuch und der Autor zur Legende. Sein Weltkonzept faszinierte und beeinflusste nachhaltig nicht nur seine Zeitgenossen, sondern auch die nachfolgende Generation. Kaum einer konnte sich dem entziehen. Unbestritten war Weininger ein Modedenker seiner Zeit. Lieferte er doch der vorherrschenden Meinung ein kühnes metaphysisches und zugleich philosophisch-psychologisches Amalgam, das er sogar mit dem hohen sittlichen Ideal Kants krönte. Jedermann konnte sich da nach Belieben bedienen.

Mit ihm geistesverwandt erwies sich alsbald der Leipziger Arzt Paul Julius Möbius, dessen bekanntestes Werk „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ sich ebenfalls als überaus erfolgreicher Publikumsrenner herausstellte. Der treueste unter Weiningers Epigonen, der Schriftsteller Arthur Trebitsch, war stolz auf sein „arisches“ Erscheinungsbild und biederte sich bei Erich von Ludendorff und Ernst von Salomon an, mit denen er die Welt vor der „semitischen“ Gefahr retten wollte. Wie Otto Weininger wollte auch Trebitsch das die Welt bedrohende Unheil an der Wurzel packen, deswegen konnte er Weiber und Juden nicht ausstehen.

Die Liste illustrer Verehrer und Bewunderer ist lang. August Strindberg ehrte „sein Gedächtnis als das eines tapferen männlichen Kämpfers“ und sprach von dem unverrückbaren Faktum, dass das Weib nichts als ein rudimentärer Mann sei.
Doch hat Weiningers asketischer Reinlichkeitswahn nicht nur Moralisten wie Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein und Adolf Schönberg im Fin de siècle angezogen, sondern auch auf Adolf Hitler und Benito Mussolini gewirkt, nicht zuletzt deshalb weil sich aus seiner Theorie von der menschlichen Bisexualität leicht eine manichäische Weltanschauung vom Kampf der Geschlechter zimmern ließ, der angeblich dem Kampf der Arier gegen das Judentum entspricht. Damit hat Weininger, gewollt oder ungewollt, dem faschistischen Männlichkeitskult Tür und Tor geöffnet.

In den langen Monologen im Führerhauptquartier Wolfsschanze erzählt Hitler eines Abends, sein väterlicher Freund Dietrich Eckart habe ihm versichert es gebe „einen anständigen Juden…, den Otto Weininger, der sich das Leben genommen hat, als er erkannte, dass der Jude von der Zersetzung anderen Volkstums lebt“ berichtet Joachim Riedel und bemerkt weiter: „Doch Weininger übte indirekt auch folgenschweren Einfluss auf Hitler aus. Während seiner „Wiener Lehrjahre“ war der meist mittellose Kunstmaler ein emsiger Leser der wütend-antisemitischen Zeitschrift „Ostara“, die ein grotesker Weininger-Epigone edierte. Georg Lanz von Liebenfels (ein Künstlername) war ein abgefallener Zisterzienser-Mönch, der 1905 begonnen hatte, seine wahnwitzige Rassenideologie zu publizieren. Seine wesentliche programmatische Schrift ‚Theozoologie‘ liest sich wie eine von den letzten logischen Ankern befreite Kopie der Weiningerschen Lehre.“ Er war der Mann, „der Hitler die Ideen gab.“ (Gerald Stieg mit Hinweis auf das gleichnamige von ihm und Wilfried Daim verfasste Buch, München 1958.)

Fast entbehrlich zu erwähnen ist, dass der elitaristische Zusammenhang zwischen Männlichkeitswahn und Antisemitismus durch den Vergleich von Frauen und Juden mit Engländern zum ideologischen Bermudadreieck erweitert wurde, welches den Kapitalismus in eine verächtliche Lage brachte. Engländer hätten keine hervorragenden geistigen Leistungen vollbracht, William Shakespeare wurde zum zweitrangigen Stückeschreiber herabgewürdigt. Mit der Einbeziehung Englands wurden die Marktwirtschaft und das parlamentarische System zu eines Mannes unwürdigen Unternehmungen stilisiert.

Im Kontext des zeitgenössischen Männlichkeitswahns erregten exhibitionistische Männer die sexuellen Phantasien. Stefan Zweig schrieb:

„Berlin verwandelte sich in das Babel der Welt. Bars, Rummelplätze und Schnapsbuden schossen auf wie die Pilze. Was wir in Österreich gesehen, erwies sich nur als mildes und schüchternes Vorspiel dieses Hexensabbats, denn die Deutschen brachten ihre ganze Vehemenz und Systematik in die Perversion. Den Kurfürstendamm entlang promenierten geschminkte Jungen mit künstlichen Taillen und nicht nur Professionelle; jeder Gymnasiast wollte sich etwas verdienen, und in den verdunkelten Bars sah man Staatssekretäre und hohe Finanzleute ohne Scham betrunkene Matrosen zärtlich hofieren. Selbst das Rom des Sueton hatte keine solchen Orgien gekannt wie die Berliner Transvestitenbälle, wo Hunderte von Männern in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung unter den wohlwollenden Blicken der Polizei tanzten. Eine Art Irrsinn ergriff im Sturz aller Werte gerade die in ihrer Ordnung bisher unerschütterlichen bürgerlichen Kreise.“

Die Väter der Weimarer Verfassung waren Großväter. Alle waren aus der gefährlichen Pubertät raus, als die Reformbewegung ihren Lauf nahm, viele waren schon fertige Erwachsene. Im Jahr 1900, als der Jugendstil gerade seinen Siegeszug begann, hatten die wichtigsten Politiker der Weimarer Republik folgendes Alter: Konstantin Fehrenbach 48, Hugo Preuß 40, Hugo Haase 37, Wilhelm Marx 37, Philipp Scheidemann 35, Hans von Seeckt 34, Wilhelm Groener 33, Gustav Bauer 30, Friedrich Ebert 29, Otto Wels 27, Matthias Erzberger 25, Otto Geßler 25, Wilhelm Cuno 24, Hermann Müller 24, Gustav Stresemann 22, Gustav Radbruch 22 und Hans Luther 21. Und der Methusalem von allen, Hindenburg war 52 Jahre alt, als zur Jahrhundertwende die Sektkorken knallten. Wie sollten diejenigen, die 1900 älter als 25 waren die Reformbewegung verkörpern? Sie wurden eher von Fürst Bismarck und August Bebel geprägt, als von Wilhelm II. oder Friedrich Nietzsche. Ihre Stehkrägen und Bratenröcke entsprachen am Ende der zwanziger Jahre nicht mehr dem Zeitgeist.

Die Reform mußte noch warten, bis ihr Personal ministrabel wurde. Aber die neue Generation wuchs heran. Die Autoren der Weltbühne wollten schneidige junge Leute in modernen Uniformen sehen. Die bekamen sie dann auch.

Das Personal der Nationalsozialisten war 1900 wesentlich jünger: Streicher 15, Hitler 11, Göring 7, Goebbels 3, Höß und Frank noch nicht geboren. Es handelte sich auch soziologisch um typische Reformkinder. Julius Streicher war Lehrer, Rudolf Heß Student, Dietrich Eckardt Dichter und Dramatiker, Max Ammann Feldwebel, Hermann Esser Zeitungsredakteur, Hermann Göring Fliegerhauptmann, Alfred Rosenberg Schriftsteller und Architekt, Hans Frank Dichter, Baldur v. Schirach Dichter, Albert Speer Architekt, Max Erwin v. Scheubner-Richter Student, Joseph Goebbels Redakteur und Schriftsteller, Heinrich Himmler Landkommunarde, Walter Darré Student, Walther Funk Musiker. In der Führung überwogen Vertreter einer romantischen Großstadtbohème. Die jüngere Generation übernahm 1933 das Ruder. Die Kulturrevolution von 1880 bis 1933 war ja jugendbewegt.

Die Väter der Weimarer Verfassung setzten die rationalistischen Träume des 19. Jahrhunderts in Buchstaben um. Das Papier der Weimarer Verfassung war geduldig, der elitäre Geist der Jugendbewegung war 1919 längst aus der Flasche.