Gastbeitrag: Kevin – nicht allein zu Haus

Modisches und Ernstes zur Anti-Kapitalismusdebatte und zum wirtschaftlichen deutschen Sonderweg, zugleich eine Besprechung der politischen Konzepte von Paul Collier, Antje Hermenau und Björn Höcke, deren Bücher ich zur Lektüre empfehle

Inhaltsübersicht:

  1. Kevin Kühnert, der versuchsweise Denker, und der Sozialismus
  2. Paul Collier, der Volkswirt, und der soziale Kapitalismus
  3. Antje Hermenau, die Abtrünnige, und das Lob des Provinziellen
  4. Björn Höcke, der Buhmann, und der nationale Staat des kleinen Mannes
  5. Kommodes Denken und Kommoden-Denken

In den Ländern der westliche Welt sind die starren Regeln politisch zugelassenen Denkens durcheinandergeraten. Linke äußern Dinge, die ihnen bis gestern unrettbar das Nazi-Etikett eingebracht hätten, und Rechte wagen sich auf ein Territorium vor, das früher den linken Lichtgestalten vorbehalten war. Daneben gibt es viel Traditionelles. Hiermit will ich am Beispiel des SPD-Jungvolkdenkers Kevin Kühnert beginnen, der soeben das Rad des Sozialismus neu erdachte, um dann auf drei ernsthafte politische Konzepte zu sprechen zu kommen: die des englischen Volkswirts Paul Collier, der sächsischen Ex-Abgeordneten der Grünen Antje Hermenau und des thüringischen AfD-Politikers Björn Höcke. Ihnen dreien ist gemeinsam, dass sie aus dem Denken in bekannten Fahrwassern ausgebrochen sind.

  1. Kevin Kühnert, der versuchsweise Denker, und der Sozialismus

Es bedurfte erst des Hinweises von Freunden, dass einer namens Kevin Kühnert ein Programm zum Übergang Deutschlands in den Sozialismus vorgelegt habe. Na endlich, denn darauf sind die Menschen da draußen im Lande seit langem scharf. Das, was kolportiert wird, besteht aus der Enteignung von Konzernen, namentlich von BMW, sowie der Forderung, dass niemand künftig über mehr Wohneigentum verfügen dürfe, als er selbst bewohnt. Wer an die Stelle der Eigentümer tritt, finde ich nicht ausdrücklich ausformuliert, aber es wird wohl der alles lenkende Staat oder ein Surrogat für diesen sein.

An dieser Nachricht interessiert mich: Erstens, dass diese Nachricht überhaupt eine solche ist, denn wen in drei Teufels Namen juckt es im Normalfall, wenn sich ein Kevin über die Zusammenhänge in unserer Gesellschaft äußert. Doch der Kandidat hat eine Position, die ihn aus anderen heraushebt, konkret: er ist Juso-Vorsitzender. Ein zweite Voraussetzung ist die, dass sich ein Medium der Auslassungen von Kevin annimmt und sie zur Nachricht aufpumpt. Ich tippe, ohne mich der Mühe einer einschlägigen Kontrolle unterzogen zu haben, auf eine der Wochenschriften à la Die Zeit oder Der Spiegel. Deren Aufmerksamkeit ist nur zu berechtigt, denn Kevin gehört zu einer bedauerlichen Minderheit, weil seine persönlichen Umstände es nicht zugelassen haben, in seinen ersten drei Lebensjahrzehnten eine gescheite Ausbildung zu absolvieren. Folglich hält er sich dort auf, wo sich Randexistenzen zusammenfinden: in der Politik.

Die Reaktionen auf Kevins Beitrag zur Zukunft des Landes sind, wie ich sie zusammenklaube, wenig schmeichelhaft ausgefallen. Hier wird darauf abgehoben, dass zweifacher sehr kurzfristiger Studienabbruch und Arbeit in einem Call-Center nicht darauf hindeuten, dass dem Kevin eine systematisch geprägte Gedankenwelt nahe liege. Die ausgeübte Tätigkeit sei indessen ein sicheres Indiz dafür, dass der Kandidat sehr spezifische Erfahrungen sammeln durfte. Sie hätten ihn darüber aufgeklärt, dass ungelernte, gemäßigt intelligente Hilfsarbeiter zwar keine Knochenarbeit leisten müssten, andererseits aber auch kein Einkommen erzielen könnten, das ihnen den Bezug einer akzeptablen Wohnung im Großraum Berlin ermöglichen würde, geschweige denn den Kauf eines BMW.

Bei solchem Horizont sei womöglich Kevins Unkenntnis darüber verzeihlich, dass genau das über Jahrzehnte erprobt worden ist, was auf andere schlichte Gemüter wie die Neuerfindung des Rades wirken mag. In der 1990 untergegangenen DDR haben nämlich die von Kevin vorgeschlagenen Konzepte 40 Jahre als konkrete Politik real existiert. Sie haben zum Verfall der Altbausubstanz, soweit sie vom alliierten Bombenkrieg verschon worden war („Ruinen schaffen ohne Waffen“), zur Herstellung minderwertiger Neubauten und permanenter Wohnungsnot trotz staatlicher Zwangsbewirtschaftung geführt. Das greifbare Ergebnis der Automobilverstaatlichung waren stinkende funktionsbegrenzte Typen von hoher Reparaturanfälligkeit und extremem Schadstoff-Ausstoß (Trabant und Wartburg). Sie verschwanden nach der Wende wie von selber, da ihnen selbst fragwürdigste Westgebrauchtwagen überlegen erschienen.

Das alles müsse Kevin, Jahrgang 1989, nicht wissen – es war in seinem ersten Lebensjahr, als die Malocher in der DDR das sozialistische Experiment abbrachen. Vielleicht hätten ihm – so die Kritiker – seine Eltern nichts darüber erzählt, so dass er es entbehrlich gefunden habe, sich Gedanken zu machen bezüglich der Ursachen der jetzigen Wohnungsnot in Deutschland durch millionenfache Zuwanderung in eines der am dichtesten besiedelten Gebiete dieser Erde und wegen des Verfalls der deutschen Autoindustrie durch die Exekution sinnwidriger Abgasnormen. Kevins Kritiker, die sich über seine schiere Kenntnislosigkeit ereifern, haben im Grunde recht, aber sie sind nach meinem Geschmack eher harmlos. Sie wären drastischer, wenn sie in ihre Überlegungen einbezogen hätten, dass der Stoff, aus dem die Kevins gewebt sind, derselbe ist, aus dem in Deutschland Minister und Kanzler geschneidert werden. Der Parteienstaat macht’s möglich, und nur er. Wir werden also Kevin noch am Werke sehen. Bevor er ernst machen kann, sollte man ihn und seinesgleichen schleunigst aus dem Tempel jagen.

Nun zu einigen ernsthaften Erwägungen: Während Kevin & Co vor einer Art Kosmos-Kapitalismus-Bastelkasten für Minderbemittelte sitzen, haben sich andere auf unterschiedlichen Ebenen Gedanken darüber gemacht, dass in unserer besten Welt von allen etwas schiefläuft, und vor allem: wie es wieder gerade zu rücken wäre. Ich werde die einschlägigen Vorschläge von Collier, Hermenau und Höcke, die ich nach verbreiteter, indessen fragwürdiger Ansicht unter dem gemeinsamen Dach der Kapitalismuskritik versammelt fand, im Folgenden kurz skizzieren. Insofern sind meine Ausführungen zugleich Besprechungen der einschlägigen Bücher, denen ich solche Gedanken entnommen habe.

  1. Paul Collier, der Volkswirt, und der soziale Kapitalismus

Paul Collier: Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Verfall der Gesellschaft. München, Siedler [Random House], 2019.

Der in Fachkreisen international bekannte englische Ökonom Collier argumentiert mal global, mal national. Er nimmt Maß an dem von ihm als misslich beschriebenen Zustand bestimmter Ballungsräume (z.B. London, San Francisco und New York), die nach seinen Berechnungen im Überfluss leben, während weite Umlandgebiete dem Niedergang preisgegeben sind. Zu seinen Prämissen zählt die Einteilung der Menschen in die Kategorien homo oeconomicus und homo socialis. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn Wirtschaftswissenschaftler neigen nun mal dazu, zunächst das Muster eines Menschen zu konstruieren, und, wenn sie damit fertig sind, diesen Kunstmenschen in Statistiken und mathematischen Formeln agieren zu lassen, um Zustandsbeschreibungen für Gegenwart und Zukunft zu destillieren.

Collier beschreibt den homo oeconomicus als den ichbezogen und strikt aufs eigene Wohl Bedachten, kurzum ein männlicher Typus. Er sagt, dass es diesen seit der Steinzeit nicht mehr in Reinform gegeben habe. Er sei durch den homo socialis abgelöst worden. Dieses sei der arbeitsteilige, gruppenbezogene weibliche Typus, der die menschliche Gesellschaft seitdem dominiere. Der homo oeconomicus sei seinerzeit, wo er dennoch auftrat, aus der Gemeinschaft ausgesondert worden. Diesen Ansatz halte ich für partiell unzutreffend. Es hat – in der Natur des Menschen angelegt – vermutlich immer beide Typen gegeben, und es gibt sie heute noch. Die Frage mag stets gewesen sein, inwieweit es der Horde gelang, den männlichen Typus zu integrieren, weil von ihm Führertum und Innovation ausgingen, die dann ins Hordenverhalten inkorporiert wurden und so zur Überlegenheit gegenüber anderer, äußerer Herausforderung beitrugen. Gelang dies nicht, wurde der Egoist aus der Horde verstoßen, was seinen sicheren Tod bedeutete. Erstaunlich ist, dass Collier, wenn er denn diesem Ansatz folgt, ihn angesichts seiner Kapitalismus-Kritik nicht ins Heute und auf jene Existenzen überträgt, die tagtäglich den kapitalistischen Wildwest aufführen und den Gesellschaften, in denen sie existieren dürfen, massiv schaden.  Heutigen (westlichen) Gesellschaften fehlt offenbar der Biss, diese Typen zu domestizieren, wo nicht auszusondern.

Collier folgt solchem schlichten Ansatz nicht, vielmehr ist sein Credo, dass der Mensch neben selbstsüchtigen Haben-wollen-Gelüsten auch ethischen Normen verpflichtet sei, aus deren Erfüllung er tiefe Befriedigung empfange. Diese zu stimulieren, würde das sich ausbreitende immer schärfere Ungleichgewicht abbremsen können. Um dies zu erreichen, schlägt er das vor, was er eine ethische Besteuerung nennt. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Ballungsräume Mehrwerte (Renten genannt) erzeugten, zu deren Entstehung die Begünstigten nichts beigetragen hätten. Collier nennt hier nicht nur die Grundbesitzer, sondern auch eine Vielzahl hochspezialisierter Berufe – bevorzugt aus dem Dienstleistungssektor (Anwälte, Vermögensberater, Makler, Banker aller Art usw.) –, die er als im Gelde schwimmend bezeichnet. Diesen den nicht erarbeiteten – also nicht verdienten – Wertzuwachs wegzusteuern, sei gerecht. Das Ergebnis eines solchen Tuns wäre, wenn man das Geld aus solcher Steuer mit lokalen oder regionalen Fördermaßnahmen paart, die Entzerrung der Ballungsräume und die Wiederbelebung der verfallenen Provinzen. Konkret soll das Geld zur Ansiedlung startender Unternehmen genutzt werden, aus deren Existenz sich dann sog. Cluster, also örtliche Gewerbe-Anhäufungen, wie von selbst bilden können.

Typisch für einen professionellen Volkswirt, der sich zudem zu dem vergangenen Erfolg der Sozialdemokratie bekennt, ist das Operieren des Autors mit großen Einheiten, also mit Konzernen, die sehr oft mit öffentlichen Strukturen vergleichbar sind. Das ist in der Tat typisch für die Sozialdemokratie. Es wäre indessen zu bedenken: Der Misserfolg solcher Einschätzung lässt sich an der Industriepolitik der letzten 50 Jahre in Nordrhein-Westfalen wie bei einem Lehrstück nachvollziehen. Mit dem Verfall der großen Einheiten des Kohle- und Stahlbereichs setzten die sozialdemokratischen Industriepolitiker auf die nächsten Industriegiganten, in diesem Fall die der Autoproduktion, wie zum Beispiel Opel in Bochum. Antriebselement für solch fehlerhaftes Handeln war  die Verlockung der – von Collier ausdrücklich als beispielhaft gelobten – deutschen Mitbestimmung in der Großindustrie. Diese führte indessen nicht nur dazu, die Kleinen zu ignorieren, sondern geradewegs durch Maßnahmen der Ansiedlungsfeindlichkeit zu behindern. Die Klein- und Mittelunternehmer wurden dank ideologischer Scheuklappen als klassische Kapitalisten denunziert. Die Rolle dieser Unternehmerschicht als Motor der deutschen Beschäftigungs- und Innovationspolitik wurde souverän ignoriert. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei ergänzt, dass Collier den Kapitalismus jedoch nicht beseitigen will, sondern einem lenkenden Staat unterwerfen – auch das spricht für große Einheiten.

Bei solchen Überzeugungen springt ins Auge, dass Collier seine Industriepolitik national organisieren will, was in der Realität mit den wirklich großen Einheiten kollidieren muss, da es sich hierbei um weltweit agierende Giganten handelt. Wie er diese domestizieren will, bleibt vage. Immerhin fällt auf, dass auch Collier das Tun solcher Giganten anprangert, die Globalisierung im Eigeninteresse so verstehen, dass sie nicht irgendwo, sondern nirgendwo Steuern zahlen und aufgrund dieses Wettbewerbsvorteils an Gigantismus weiter zunehmen, wobei sie Konkurrenten vom Markt zu verdrängen vermögen. Typisch britisch, fordert Collier, dass die existierenden Clubs (G7, G8 oder G-was-auch-immer) neu zu organisieren seien. Deren Aufgabe solle es u.a. sein, gegen Abweichler moralischen Druck aufzubauen. Solchen Vorschlägen grinst Pressure-Club-Vormann George Soros über die Schulter, den Collier ausdrücklich als seinen Freund bezeichnet. Da schaudert es einen schon ein wenig.

Was Collier an den herrschenden Verhältnissen mit gutem Grund zu kritisieren weiß, er bringt das Eigentliche nicht auf den Punkt, nämlich dass Unternehmertum und Geldbesitz per se nichts miteinander zu tun haben. Beide sind ein aliud, das nicht besser beschrieben werden kann als durch den Umstand, dass das umsatzstärkste Gewerbe in England die Finanzindustrie ist. Schon deren Titel führt in die Irre, denn hier wird nichts produziert, sondern ausschließlich Kontenbestände hin und her gezockt. Das ist komplett unproduktiv und bringt der Gesellschaft, in der es stattfindet, nicht nur nichts, sondern es ist ihr zutiefst schädlich.

An Collier ist in diesem Zusammenhang auch die im anglo-amerikanischen Kulturraum zu beobachtende schiere Unkenntnis preußisch-deutscher Geschichte nachzuvollziehen. Eine Koryphäe der Volkswirtschaftslehre hat offenbar keine Ahnung davon, dass die Hauptgedanken seiner Kritik gut hundert Jahre zuvor von Walther Rathenau bereits formuliert worden sind (Von kommenden Dingen, 1916). So kommt es auch, dass er in ein allzu simples Strickmuster verfällt, wonach preußisch-deutscher Nationalismus für die Weltkriege und damit so für mancherlei Übel allein-verantwortlich war. Das lässt mageres Wissen auf einem Gebiet vermuten, das über britische Kriegspropaganda nicht hinausgelangt ist, denn man muss kein Sozialist sein, um in den Kriegsauslösungsgründen starke Motive der britischen Geld- und Macht-Aristokratie zu entdecken. Dieses eingestreut, lasse ich die weiteren Vorschläge, wie die zur Kindererziehung, zur Sozialfürsorge und zur Stützung von Familien einmal beiseite.

Zusammengefasst kann gesagt werden: Das ganze im Buch präsentierte Gedankengebäude gleicht einer merkwürdigen ärztlichen Handlung. Einer erkennt das Vorliegen einer tödlichen Seuche, macht eine vielfach fehlerhafte Diagnose und unterbreitet bedeutsame Behandlungsvorschläge, von denen einige so unrealistisch sind, das sie nicht einmal in die Nähe der Umsetzung gelangen werden. Also: ein interessantes Buch, das zum Nachdenken anregt.

  1. Antje Hermenau, die Abtrünnige, und das Lob des Provinziellen

Antje Hermenau: Ansichten aus der Mitte Europas. Wie Sachsen die Welt sehn. Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2019.

Es gibt Leute, die im Buch von Hermenau ein Kleinformat von Paul Colliers Fundamentalkritik erblicken, doch führt eine solche Annahme nach meiner Beurteilung in die Irre, denn das Buch enthält eine ganze Reihe unerwarteter Perspektiven, vor allem ist es, wie die Autorin in ihrem Vorwort anmerkt, eine Liebeserklärung an Sachsen. Wer nun – wiederum irrtümlich – eine Art Wanderführer durch das Elbsandsteingebirge für kulturell Fortgeschrittene erwartet, wird enttäuscht werden, denn das Buch ist durch und durch politisch. Kein Wunder, denn die Autorin hat trotz ihrer noch nicht sehr weit fortgeschrittenen Lebensjahre ein viertel Jahrhundert Berufspolitiker-Karriere hinter sich gebracht. Diese begann 1990 im Wendegeschehen der DDR und endete nach Landtags- und Bundestagsmandaten im Jahre 2015. Ihre Partei war die der Grünen. Dies ist – erstaunlich genug – kein Grund, vor der Lektüre zurückzuzucken.

Was macht nun den Reiz des Hermenau-Buches aus? Es ist ein Blick auf Gott und die Welt, nach Aufsetzen der weiß-grünen, der sächsischen Brille. Es ist die erstaunliche Erkenntnis, dass Weltsicht einen provinziellen Fixpunkt hat, und die weitere Erkenntnis, dass Sachsen eigenständige und eigenwillige Leute auf hohem kulturellen Niveau und mit einem erstaunlichen Arbeitsethos sind. Zu den sächsischen Besonderheiten gehört offenbar, sich auf der Welt umzutun und an Land zu ziehen, was des Übernehmens wert erscheint, der Kaffee lässt grüßen. Auch zählt dazu, Nicht-sächsisches mit unterschwelligem Humor zu ertragen, bis, na ja, bis es den Sachsen irgendwann reicht, weswegen sie dann ungemietlich werden. Zwar wurden in der sächsischen Geschichte die Sachsen mit polnischen Herrschern fertig, aber diese nicht mit jenen. So nimmt es denn auch kaum Wunder, dass in der DDR der Widerstand gegen Berlin, wie es so schön hieß, aus Sachsen kam, und nochmals dezidiert aus dessen südöstlichem Teil, dem Tal der Ahnungslosen. Ein Vorgang, der sich jetzt wiederholt, wenn er denn seither je ganz eingeschlafen gewesen sein sollte. Die Autorin räumt selbstkritisch ein, dass man nach der Wende zunächst von den westlichen Errungenschaften geblendet gewesen sei, bis, ja bis sich herausstellte, dass vieles Bewundernswerte reines Blendwerk war.

Bei solchen Gedankengängen liegt es nahe, dass Hermenau auf die Massenzuwanderung zu sprechen kommt. Sie begegnet dem vor allem in ihrer Partei, den Grünen, gern verwendeten Totschlagsargument, der Osten könne gar nicht mitreden, da es dort kaum Zuwanderer aus dem Orient und Afrika gebe, mit dem spitzen Hinweis, dass man aus westlichen Städten und Berlin genügend viele Negativbeispiele kenne, um sich derartige Übel nicht ins Land zu holen. Die Autorin denkt diesen Gedanken in origineller Weise zu Ende: Wenn denn die Vernunftlösung mit Westdeutschland zusammen nicht machbar sei, müsse man nach anderen Partnern Umschau halten, als das wären Polen, Tschechien, Österreich und Ungarn. Das sind interessante Perspektiven, denn sie würden – zu Ende gedacht – auf eine Sezession Sachsens von Deutschland hinauslaufen. Ich nehme an, dass solch ein Verhalten einen Rutsch auslösen würde, dem sich Thüringen (mindestens dessen östlicher Teil um Gera und Altenburg), das südliche Brandenburg (um Cottbus) und das südliche, wenn nicht das ganz Sachsen-Anhalt leicht anschließen könnten. Ob das realistisch ist? Ich vermag es nicht zu sagen, doch man sollte nie „nie“ sagen.

  1. Björn Höcke, der Buhmann, und der nationale Staat des kleinen Mannes

Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig. Mit einem Vorwort von Frank Böckelmann. Politische Bühne Originalton. Lüdinghausen/Berlin, Manuscriptum Thomas Hoof KG, 2018.

Mir ist in letzter Zeit kaum ein Buch untergekommen, das in so vernichtender und für den Autor so verletzender Form kritisiert worden ist. Soweit diese Kritik bei Mainstream geäußert wurde, lohnt die Befassung damit kaum, denn dort geht es nicht um das Buch, sondern um Ressentiment, die Attacke ad hominem, den Angriff auf den Mann, der für die völlig sachfrei berichtende Publizistik zum deutschen Rechtsaußen schlechthin avanciert ist. In deren Denkwelt ziemt es sich nicht, Gedanken auf das geschriebene Wort des Gescholtenen zu verschwenden. Denn, wie heißt es so schön: Wir dürfen Nazis kein Podium bieten.

Von etwas anderer Güte sind die Attacken aus dem sog. nationalen Lager. Für dieses ist der Mann, Ohgottohgott, ein böser Linksabweichler, dem man mit Jünger-, Heidegger-, Schmitt- und weiteren Säulenheiligen-Zitaten zu Leibe rückt und so den argumentativen Garaus zu bescheren trachtet. Das mag alles mit spitzester Feder trefflich bemerkt sein, wiewohl aller Wahrscheinlichkeit nur für eine schwindsüchtige Leserschaft, jedenfalls kein solches Massen-Publikum, wie es der böse Höcke bei Veranstaltungen zu mobilisieren weiß. Was also redet der Kerl, und was schreibt er? Nun gut, greifen wir zu einer antiquierten Methode, und sehen selber nach.

Formal gesehen handelt es sich bei dem Text um ein Zwiegespräch zwischen dem sächsischen Publizisten Sebastian Hennig und dem thüringischen Politiker Björn Höcke, wobei die Rollenverteilung klar ist: Es geht zuvörderst um die Darstellung der Ansichten von Höcke. Hennig ist mehr oder weniger als ordnender Stichwortgeber tätig. Manchmal treibt es ihn jedoch, auch eigene Gedanken zu präsentieren – nie jedoch in einer Schärfe, die Höcke drängen würde, scharf zu reagieren. Das ist ein klein wenig bedauerlich, denn man fragt sich die ganze Zeit bei der Lektüre: Wo bleibt denn hier das Giftige, was den Politiker, wenn man seinem Ruf Glauben schenken will, ausmacht. Man sucht es vergeblich. Der Höcke, der sich in dem Buch präsentiert, wirkt vielmehr erstaunlich vorsichtig, an einigen wenigen Stellen verspüre ich einen Hauch von Unsicherheit, oder besser noch: Unfertigkeit der Gedanken und das Wissen darum, dass es so ist. Das muss kein Nachteil sein, nur ist es ungewohnt in einer Gegenwart, in welcher Politikeraussagen für gewöhnlich von anderer Strickart sind, nämlich dem Abschießen von Leerhülsen im Brustton der Überzeugung.

Inhaltlich lässt sich das Buch in mehrere Blöcke unterteilen. Meine Unterteilung entspricht nicht der formalen Gliederung des Buches, und sie ist diese hier: Breiten Raum nehmen die Herkunft und der anschließende Wunsch, Lehrer zu werden, und die Tätigkeit als Lehrer ein. Das mag für Leute, die das Lob der Herkunft singen wollen, von Bedeutung sein. In Wirklichkeit ist nichts Erstaunliches passiert, und ich habe diese Teile als notwendige Zutat eines Polit-Newcomers, der sein Woher und Wohin begründen muss, abgehakt. Der eigentlich bedeutende Teil ist der politisch-inhaltliche.

Höcke gehört nach seinen Aussagen – das ist wenig überraschend – ins nationale Lager. Er hält national-deutsche Lösungen für den richtigen Weg, wohl auch für den einzig richtigen. Doch dann kommen seine eigentlich wichtigen Einlassungen zur Kritik der herrschenden Verhältnisse und wie er diese zu verändern gedenkt. Der Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation ist der sog. kleine Mann, dessen Anwalt er sein will, da dieser, der kleine Mann, im parteipolitischen Bauchladen der Republik sich von niemandem mehr vertreten fühlen könne. Das klingt ein bisserl nach Sozialpolitik, hundert-und-so-und-sovielte Auflage, doch das ist es bei genauerem Hinsehen gerade nicht. Höckes kleiner Mann ist nicht der staatliche Almosenempfänger, denn der hat wahrlich genügend viele Politanwälte, sondern gemeint ist der Mann, der sich heutzutage seinen Lebensunterhalt selbst verdienen müsse. Gemeint sind auch die vielen kleinen Unternehmer, die nicht als Finanzjongleure, sondern als Werte- und Arbeitsplätze-Schaffende in diesem Land unterwegs sind. Nun gut, wenn das die kleinen Leute in diesem Lande sind, dann liegt Höcke mit dem Nicht-vertreten-sein dieses Klientel insofern goldrichtig, als hier die Mainstreamparteien jeglicher Couleur einen seit Jahren wachsenden Freiraum hinterlassen haben.

Was also will er tun, um seinem Anliegen gerecht zu werden? Hier scheinen mir die Aussagen eher vage. Immerhin bekennt sich Höcke, ein Anti-Kapitalist in dem Sinne zu sein, dass zwischen dem Kapitalismus, als der alles bestimmenden Geldwirtschaft, und der Marktwirtschaft klar zu unterscheidet sei, und er letztere, die begrenzte Marktwirtschaft, für das wirtschaftliche Wohlergehen des Volkes für unabdingbar hält. Mit solchen Aussagen wird klar, dass und warum Höcke selbst innerhalb der AfD einer der Flügelmänner ist, zumal wenn man addiert, dass er die Schädlichkeit des Kapitalismus den einschlägigen Fehlentwicklungen in den USA und der parallel verlaufenden und von dort ausgehenden Seuche der Globalisierung zuweist (Da jaulen die blauen Atlantiker auf). Aus der Feindschaft zum Globalismus macht Höcke keinen Hehl, ebensowenig aus der zugehörigen, von internationalen Gremien befürworteten und angestoßenen Massenimmigration aus dem Orient und Afrika. Die illegale Einwanderung will er unterbinden und rückdrehen, womit er sich auf einem Spezialfeld der Politik befindet, wo es innerhalb der AfD in ihrer jetzigen Formation offenbar keine ernstgemeinte Gegenbewegung gibt.

Inhaltlich erwähnenswert schließlich erscheint mir Höckes Position zu den christlichen Kirchen. Der christliche Glaube bildet für ihn keinen persönlichen Antrieb. Er hat, wie so viele seiner Generation, frühzeitig im Kindesalter hiermit abgeschlossen. Für den bekennend katholischen Teil des sog. nationalen Lagers scheint dies ein besonderer Affront zu sein. Schrill klingt mir Belehrendes im Ohr, dass schließlich die Ikone Ernst Jünger noch zu seinem hundert-und-neunzigsten Geburtstag (oder war’s der hundert-und-einundneunzigste?) der katholischen Kirche beigetreten sei. Wie auch immer, jedenfalls hält Höcke das christliche Erbe für ein prägendes und zu erhaltendes Wesensmerkmal der abendländischen Kultur. Fast unnütz zu erwähnen, dass er, soweit ich verstehe, den Islam hiermit nicht für kompatibel hält. Erstaunlich mag sein, dass sein Interview-Partner, der meines Wissens insoweit anderer Auffassung ist, dies nicht zum Anlass für eine Intervention genutzt hat. Weitere Gesprächsgegengegenstände, wie den über die politische Romantik, halte ich hier nicht für erörterungsbedürftig. Anderes, wie politische Führungsauswahl und Unterbinden des politischen Opportunistentums, wäre einen eigenen Aufsatz wert.

Wie eingangs bemerkt, legt eine Gesamtschau des Buches den Verdacht nahe, dass der Mann, der aus dessen Zeilen spricht, nicht derjenige ist, über den die Qualitätsmedien in so furchteinflößender Manier berichten, dass selbst krawallgewohnte Kölner Hoteliers bei seinem Herannahen die Hochwasserbarrieren aus dem Keller holen, an die sie Hausverbote nageln. Oder aber es handelt sich um zwei Leute. Da ich für eine gespaltene Persönlichkeit bei Höcke keine belastbaren Indizien vorfinde, bleibt wohl nur die Lösung, dass er ein herbeiphantasierter Buhmann ist. Das indessen sagt weniger über die Person des Gescholtenen aus als über den selbstherrlichen, riskanten Zustand, in dem sich unsere Meinungsbildungs-Institute befinden.

  1. Kommodes Denken und Kommoden-Denken

Das Unbehagen über die Wirtschaftsentwicklung Deutschlands hat mittlerweile auch diejenigen erreicht, deren Stärke es nicht ist, im politischen Alltag das Maul aufzutun. Man mag es kaum noch glauben: Mit dem Linde AG-Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle spricht Anfang Mai 2019 erstmals ein Topmanager Klartext zum Wahnsinn der sog. Energiewende. Dass er zugleich die Wiedereinführung der Wehrpflicht als einer Kaderschmiede der Nation fordert, macht seine Ausführungen umso bemerkenswerter. Das Beispiel lehrt: Wer jetzt den Mund aufmacht, um der nationalen Vernunft das Wort zu reden, begeht (immer noch) ein Sakrileg, wenn auch der Kreis derjenigen zunimmt, welche die mittlerweile offensichtlich Geschädigten des Dilettantenwahnsinns der Volksfront von CDU-CSU-SPD-FDP-Linke-Grüne sind. Diese benennen inzwischen auch die Verursacher des Desasters und sind bereit, Konsequenzen zu ziehen.

Bei aller Hoffnung auf Besserung: Die Primitivität der Argumentation nimmt zu. Die politischen Figuren, welche uns als Aushängeschilder präsentiert werden, verstärken diesen Befund. Man nehme nur einen gewissen Altmeier, der den Staatsplanwirtschaftler gibt, oder dessen angeblichen Antipoden, König-Merz-ohne-Land, den Repräsentanten aus dem Bankensektor. Man vergleiche beide mit Ludwig Ehrhard, dann wird klar, was gemeint ist.

Kapitalismus und (Staats)-Sozialismus sind eben nicht die einzigen ernstzunehmenden Antipoden. Es hat in Deutschland seit vielen Jahrzehnten einen durch die Schranken der Sozialverträglichkeit gebremsten privatwirtschaftlichen Ansatz, ergänzt um einen öffentlichen, dem Gemeinwohl dienenden Sektor gegeben. Hierauf beruhte der geradezu unglaubliche wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands während der letzten 150 Jahre, der auch durch zwei verlorene Weltkriege nicht dauerhaft beschädigt werden konnte. Das, was jetzt zerstört wird, machen wir selbst, und die Vernunft gebietet es, politisches Führungspersonal auszusuchen, das den Zug wieder aufs Gleis zurücksetzt, damit er rollen kann.

Der Orientierungsrahmen ist denkbar einfach: Der Motor von Deutschlands Wirtschaft sind kleine und mittlere Unternehmen, die nicht kapitalisiert wurden – sprich: Unternehmen, die von ihren Unternehmern geführt werden. Sie schaffen Innovation, Ausbildungs- und Arbeitsplätze, Wohlstand und Steueraufkommen. Aus diesem Pool stammt die ganz überwiegende Masse der weltweit existierenden kleinen und mittleren Weltmarktführer. Hierüber muss man als Deutscher gegenüber anderen Völkern nicht protzen, sondern still die Konsequenzen fürs eigne Volk ziehen. Merke: Das Volk als Partner für das Wohlergehen des Landes ist ein starker Verbündeter. Einfach aber wirksam.

©Helmut Roewer, Mai 2019