Der Karlatan, der 1. Mai und die Kunterbuntheit
Warum mußte Gesundheitsminister LTRBCH überhaupt ins unübersichtliche Berliner Getümmel eintauchen? Es weiß doch jeder, daß es am Ersten Mai sehr heterodox zugeht? Daß Planwirtschaftler, Antisemiten, Klimafetischisten, Pädophile, Fernsehgläubige und morgenländische Völker um Aufmerksamkeit buhlen? Die Zeiten des ordnungsliebenden Proletariats sind vorbei, jedenfalls definitiv in der Reichshauptfavela. Solche Bilder mit geputzten Schuhen und dem Sonntagshabit sind heute undenkbar:

Ich möchte anhand des Vorfalls mit dem Karlatan auf das Auf und Ab der elitären Bewegungen hinweisen. Noch in seinem Buch „Die Frau und der Sozialismus“ träumte August Bebel um 1880 von einer sozialdemokratisch geführten Revolution. Nach 1900 war die elitäre Berliner Szene allerdings schon mal so zerstreuselt und konfus wie heute. Ich hatte vor 20 Jahren geschrieben: „Die Genese der Lebensreform gleicht nicht einem Baum, wo aus einem Ideenstamm durch Verzweigung immer ausgefeiltere und differenziertere Ideen herauswuchsen, da neben dem elitistischen Hauptstamm noch andere Bäume wuchsen, wie der des Marxismus, des Okkultismus, des Monismus, der Schwundgeldlehre, des Veganismus, des Antisemitismus, des Nackttanzens, des Futurismus, der Gesundheitsfexerei und des Ökologismus. Ein verwilderter Garten kommt der Realität jener bunten Vielfalt schon näher, auch wenn man annimmt, daß Sprosse von verschiedenen Bäumen auf andere aufgepfropft wurden. Walter Laqueur schrieb über die Weimarer Republik, daß sowohl die rechte wie die linke Intelligentsia hoffnungslos in Grüppchen zersplittert und ständig in internen Querelen engagiert gewesen sei. Diese Erkenntnis muß man voranstellen, um von vornherein den Eindruck zu vermeiden, dass es sich bei elitären Weltverbesserern um kompromiß- und damit politikfähige Kleingruppen gehandelt habe. Jede dieser Gruppen kämpfte im totalen ideologischen Krieg um ihren eigenen Endsieg. Dabei atomisierten sich die Grüppchen immer schneller, Freundschaften und Bündnisse zerbrachen. Am Schluß der Querelengeschichte ist wegen Erschöpfung der Akteure ein Flussgleichnis angemessener, wo die Reformbäche in Flüsse und die großen Flüsse in den braunen und den roten Strom mündeten. 1904 ergossen sich beispielsweise Nebenarme des Marxismus und des Nietzscheanismus in den Leninismus, der Leninismus verband sich zwei Jahrzehnte später mit dem traditionellen orthodoxen Etatismus zum Stalinismus. Der antikapitalistisch-antisemitische, der vitalistisch-biologistische und der planwirtschaftlich-korporative Waggon wurden 1920 in Adolfs Rangierbahnhof zum NS-Zug zusammengestellt, dessen Lokomotive mit Juden gefeuert wurde und dessen Räder auf den Schienen des Jugend- und Schönheitskults sowie des Landschafts- und Tierschutzes rollten. Es bedurfte eklektizistischer Konstrukte, um zu heterodoxen Systemen zu kommen. Gerade durch den Antiempirismus, den Kult des Willens, der Gewalt und des Gefühls wurden diese Auswüchse des Zeitgeistes erst ermöglicht. Wie sich das mit den heutigen Zuständen gleicht!
Wir sind jetzt in Berlin erst mal wieder in einer Phase des chaotischen Durcheinanders und in dieses hatte sich LTRBCH hineingewagt, frag mich nicht, was er sich dabei gedacht hatte.
Was LTRBCH mit Mussolini zu tun haben soll? Nicht drüber nachdenken, bei so einem Auflauf treffen sich auch Köpfe des zweiten Frischegrads, die von den umstrittenen Hexen der NGOs verwirrt worden sind.
Der elitäre Klamauk mündet immer mal wieder nach äußerster Zerstrittenheit, Haarspalterei, Überdruß und Erschöpfung in eine Diktatur. Das war nach der französischen Revolution so, als Napoleon die Macht übernahm, (1850 sein Enkel übrigens ein zweites mal) 1918 in Rußland, 1924 in Italien, 1933 in Deutschland, 1975 in Kambodscha, 1979 in Teheran und 2021 in Afghanistan. Vielleicht wird MRZ der nächste Diktator? Eine Art Volksbildungsministerin hat er ja schon, wenn auch nicht mit lila Haaren. Mal sehen. Die Zukunft soll ja überraschend sein.
Grüße an den Inlandsgeheimdienst: „Vor der Revolution war alles Bestreben; nachher verwandelte sich alles in Forderung.“ (Geh. Rath v. Goethe)
Korrekturen (nicht unbedingt für die Öffentlichkeit bestimmt): (a) Napoleon III war nicht Enkel von Napoleon, sondern Neffe (von der väterlichen Seite) und Sohn der Tochter der Stieftocher Napoleons (von der mütterlichen Seite). Das Zweite macht ihn doch nicht zu einem Enkel (gibt es das: Stief-Enkel), oder? (b) Im ersten Absatz fehlen die Anführungsstriche, die das ENDE des langen Zitats kennzeichnen. – Auch hier also wieder Korinthen-Kackerei, aber diesmal jedenfalls von mir!
Ansonsten vielen Dank für die Ausführungen.