Warum MRZ im Netz des Wokismus gefangen bleibt

Die Leser wollen mit mir in die Zukunft schauen und sind ungeduldig. Wann ist der Merzismus-Klingbeilismus endlich am Ende? Ich muß leider ein Tröpfchen Gift in den Ozean der Hoffung schütten, da es nicht so schnell geht. Die Vernunft wird siegen, aber es ist ein langer Marsch.

Ich möchte heute ein Schlüsselwerk zum Verständnis unserer Zeit vorstellen, welches für die Zukunftsforschung essentiell ist. Ich hatte bereits 1980 Kunde von diesem Buch erhalten, allerdings ohne die Möglichkeit es zu erwerben. 1998 fand ich es beim Stöbern in den Regalen von Thalia und wußte sofort, daß ich ein heißes Teil erwischt hatte.

The Structure of Scientific Revolutions (deutscher Titel: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen) ist ein von Thomas S. Kuhn verfasstes Werk, das 1962 als Monographie im Rahmen der International Encyclopedia of Unified Science der University of Chicago Press veröffentlicht wurde. Es gilt als Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie. Durch das Buch wurden Begriffe wie Paradigma und Paradigmenwechsel popularisiert. Schauen wir mal was Thomas S. Kuhn über den Fortschritt geschrieben hat.

Es gibt in der Wissenschaft, so auch in der Politikwissenschaft, die schädliche und schändliche Tendenz, die Geschichte rückwärts zu schreiben. Vom 2025er Koalitionsvertrag über die Wannseekonferenz, die Wahl von Merz zum Parteivorsitzenden, die Grenzöffnung 2015, die Gründung der AfD als Betriebsunfall der Geschichte. die Finanzkrise, den Tsunami von Fukushima bis zur katastrophalen Machtergreifung von Dr. M. Aber 2005 hat die fatale Geschichte des Niedergangs nicht begonnen, es gibt einen längeren Vorlauf.

Thomas S. Kuhn schreibt über das Problem der rückwärtigen Geschichtsbetrachtung: „Die Wissenschaftler sind natürlich nicht die einzige Gruppe, die dazu neigt, die Vergangenheit ihrer Disziplin sich gradlinig auf den gegenwärtigen Stand entwickeln zu sehen. Die Versuchung die Geschichte rückwärts zu schreiben ist allgegenwärtig und dauerhaft.“ Bei der chronologischen Verfolgung der geschichtlichen Tatsachen, beim Vorwärtsschreiben der Geschichte fällt auf, daß es bis etwa 2010 in Wirklichkeit einen gesellschaftlichen Minimalkonsenz aller deutschen gesellschaftlichen Gruppen gegeben hat; gemeinsame convince ordains überzogen alle Parteien und Gruppierungen, die Wissenschaft, die Wirtschaft und den Weinberg der deutschen Kultur wie Mehltau.

Man hatte sich mit den K-Gruppen, der deutschen Teilung, der Unterminierung der Gesellschaft durch die Stasi, der Unterordnung unter die Interessen fremder Mächte, der Geldbeuteldiplomatie, dem Gutmenschentum, fragwürdigen Bildungsinitiativen, der Delegierung wichtiger Entscheidungen nach Brüssel, einer wuchernden Planwirtschaft und Verwaltungssucht arrangiert. Und zwar schon lange vor dem Regierungsantritt von Dr. M.

Auch wenn man das Gespenst des Sozialismus zuweilen an die Wand malte, ließ man es wachsen.

Thomas S. Kuhn hat solche ideologischen Plattformen wie den Sozialismus, den Wokismus, den Nationalsozialismus und den Globalismus als Paradigmata bezeichnet: ihre Leistung sei neu genug, um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, andererseits offen genug, um den Anhängern die Lösung von ungelösten Problemen zu ermöglichen. So wie heute das Paradigma der Klimaerwärmung als Achse des vermeintlich Bösen von der Linkspartei bis zur FDP alle in seinen Bann zieht, so war es vor 100 Jahren die Idee der Schaffung des Neuen Menschen und dessen Führung durch Übermenschen wie Lenin, Hitler oder Stalin. Kuhn schreibt zum ideologischen Gruppenzwang: „Jene, die ihre Arbeit nicht anpassen wollen oder können, müssen allein weitermachen oder sich einer anderen Gruppe anschließen.“ Die anderen Gruppen wie die AfD sind, solange sie das herrschende Paradigma nicht durch ein neues ersetzen können, deutlich in der Defensive.

Über die Charakteristika des „wahren“ Sozialismus bzw. Wokismus kann man im Berliner Sumpf durchaus uneins sein, um doch einige griffige Grundgedanken – zum Beispiel die Überlegenheit von Eliten, den Kult der Gesundheit oder die Präferenz für die Elektrizität – miteinander zu teilen. Thomas S. Kuhn hat für Wissenschaftler festgestellt, dass sie in der Identifizierung eines Paradigmas übereinstimmen können, ohne sich über seine vollständige Interpretation oder abstrakte Formulierungen einig zu sein. Das Fehlen einer Standardinterpretation oder einer anerkannten Reduzierung auf Regeln hindere ein Paradigma nicht daran die Gesellschaft zu führen.  Die Nationale Front kann sich über Gaza oder die Ukraine wie die Kesselflicker streiten, ohne daß die Brandmauer fällt.

Thomas S. Kuhn hat für die Wissenschaftler, und analog natürlich auch für Politiker und Medientanten folgende Gesetzmäßigkeit entdeckt:

Wenn sie auch beginnen mögen, den Glauben zu verlieren und an Alternativen zu denken, so verwerfen sie doch nicht das Paradigma, das sie in die Krise hineingeführt hat. Das heißt also, sie behandeln die Anomalien nicht als Gegenbeispiele, obwohl Anomalien im Vokabular der Wissenschaftstheorie genau das sind.“ (…) Sie selbst können und werden jene philosophische Theorie nicht falsifizieren, denn deren Verteidiger werden das tun, was wir die Wissenschaftler schon haben tun sehen, wenn sie mit einer Anomalie konfrontiert waren. Sie werden sich zahlreiche Artikulierungen und ad hoc-Modifikationen ihrer Theorie ausdenken, um jeden scheinbaren Konflikt zu eliminieren.“ 

Der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD ist so eine ad hoc-Modifikation. Mit Schulden und Halbheiten werden die Schlaglöcher in der Energie-, Einwanderungs-, Außen- und Sozialpolitik zugeschmissen, ohne an tiefere Ursachen heranzugehen.

Kuhn stellte fest, dass eine Theorie, die einmal den Status eines Paradigmas erlangt hat, nur dann für ungültig erklärt wird, wenn ein neues Paradigma so entwickelt ist, dass es seinen Platz einnehmen kann. Die mitteleuropäische Intelligentsia ist für einen Paradigmenwechsel nicht gerüstet, da ein Wechsel den Tod der Verfechter des Alten voraussetzt. Die Herrscher nehmen ihre Praxis mit ins Grab. Größere Paradigmenwechsel gab es nach dem Tod von Breschnjew, Hitler, Mao, Salazar, Roosevelt, Cäsar, Mussolini, Tito und dem der Nibelungen.

Thomas S. Kuhn hat das Exemplarische in ideologischen Krisensituationen so beschrieben:

„Wenn er (der Wissenschaftler) sich nun auch darüber klar ist, dass die Regeln der modernen Wissenschaft nicht ganz richtig sein können, wird er sie doch strenger als je befolgen, um zu sehen, wo und wie weit sie im Bereich der Störungen angewandt werden können. Gleichzeitig wird er Wege suchen, den Zusammenbruch zu vergrößern, ihn deutlicher und vielleicht auch aufschlussreicher zu machen, als er sich in den Experimenten darstellt, deren Ergebnis man im voraus zu erkennen glaubte.“ Ich denke, das ist den Koalitionären in Berlin gelungen.