Die Fernwirkungen von Moralin
„Aber auch ist’s im Moralischen wie mit einer Brunnenkur, alle Übel im Menschen, tiefe und flache, kommen in Bewegung, und das ganze Eingeweide arbeitet durcheinander.“ schrieb Goethe am 30.11.1779 an Charlotte von Stein. Also waren die Risiken des moralinsauren Wokismus schon vor mehr als 200 Jahren bekannt.
Nun ist der politische Mißbrauch der Moral leider kein Privileg der NGOs und ihrer Nationalen Front. Vielmehr wurden die Ochsen der Moral schon zur Goethezeit vor den Karren der Opposition gespannt. Der direkte Angriff auf die feudalen Potentaten war riskant, wie die Einkerkerung von Daniel Schubert bewies, der die Mätresse des württembergischen Herzogs beleidigt hatte. Das Bürgertum inszenierte sich angesichts der sexuellen und pekuniären Eskapaden ihrer Fürsten als moralisch überlegen. Ein Beispiel: Kabale und Liebe von Friedrich Schiller. Die Hauptdarsteller tranken lieber ein Glasel Gift, als einen mm von ihren Grundsätzen abzuweichen. Auch die Empfindsamkeit ist keine moderne Innovation, Ein Grüner Abgeordneter wurde vor ein paar Tagen angetippt und wollte zum Doktor. Im Klassizismus gab es eine Darmstädter Hofschranze, die sich ein Grab schaufeln ließ, sich täglich hereinlegte und weinte.
So moralisch und empfindsam ist auch die Jetztzeit. Es gibt Periodika, welche davon leben im Ton tiefster Entrüstung und Empörung ohne einen Funken Humor zu beweisen, wie verkommen die Merzkamarilla ist. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn nicht oft in schulmeisterlicher Manier der bessere Klimaschützer am Werk wäre. Wie oft ist zum Beispiel nachgewiesen worden, daß ein E-Auto mehr Kohlendioxid erzeugt, als ein Verbrenner? Dabei ist überhaupt nicht bewiesen, daß Kohlendioxid ursächlich für das Wetter ist oder dessen langfristige Folge, das Klima. Oder der Streit über die größere politische Verderbtheit in Brüssel, Kiew oder Moskau. Der eine ist einen Fünfer wert und der andere einen Sechser. Die Jüngeren werden nicht wissen, daß das Fünfpfennigstück noch in meiner Kindheit in Erinnerung an das vorhergehende System Sechser genannt wurde, genauso wie das Zehnpfennigstück Groschen hieß. Noch ein drittes Exempel: Als ein wokes Pariser Karikaturistenteam der Charlie-Hebdo-Zeitung von Moslems ermordet wurde, behaupteten auch Oppositionelle, sie seien Charlie. Das wäre mir nicht einmal im Traum eingefallen. Man verliert sich oft im Wertesystem der Woken, wenn man nicht aufpaßt.
Die Barockpotentaten hielten sich noch respektarme Hofnarren, von welchen sie dezent auf mangelhafte Vorkehrungen hingewiesen wurden. Die heutigen Feudalherren sind mimosenhaft empfindsam und vertragen Kritik nicht einmal in homöopathischen Dosen. Man denke an die tausenden Beleidigungsanzeigen wegen Nichtigkeiten und die Maßnahmen gegen den fränkischen Rentner, Don Alphonso. Höcke und Bolz. Oder der dubiose mehrinstanzliche Insektenexpertisestreit zwischen dem beleidigten Böhmermann und einem Imker.
Wenn man die Nationale Front nur mit moralischen Argumenten angreift, dient das zwar der Empörung über das System, der Wutbürger holt sich damit sein täglich Adrenalin. Sicher, der moralische Standpunkt ist zweckdienlich, wenn es darum geht ein kleinbürgerliches Milieu anzusprechen und gegen die Verderbtheit von vdL und Merz zu mobilisieren. Die Taktik des Morarlisierens hat im 18. Jh. geholfen das Bürgertum gegen den Adel zu stärken, aber sie hat im folgenden 19. Jh. das geistige Klima vergiftet, weil man sich nicht rechtzeitig davon lösen konnte. Es war zur Gewohnheit geworden, mit ideologisierten Grundsätzen der realen Welt ein Schnippchen zu schlagen. Der Dichter Heine, der viel im Ausland rumgekommen war, beklagte, daß die Deutschen das Reich der Lüfte beherrschten. Der Geh. Rath v. Goethe lobte den Realitätssinn junger Engländer im Vergleich zu deutschen Exemplaren. Marx mokierte sich in der Deutschen ideologie über die zur Illusion privilegierten Stände. Goethe positionierte sich klar gegen die gefühlslastige Romantik.
Man muß aufpassen, daß man später mal nicht so ideologisiert sein wird, wie die Nationale Front, die einfach spinnt und den Faden zu den Realitäten völlig verloren hat. Die Großmama pflegte zu sagen: „Wenn mer bloß nicht suu wärd wie die…“
