Kann ein ungeborenes Kind lebensunwertes Leben sein?

Wo kommt der geringe Respekt der Sozialdemokratie vor dem Leben her? Gab es den schon immer oder ist der neu?

Tichy berichtete heute, was bei einer Spätabtreibung nötig ist, um das ungeborene Kind zu Tode zu quälen. Wegen jedem Schlachttier wird heute eine Messe gemacht, aber lesen sie bei Tichy selber.

Der Antikapitalismus, der Antiklerikalismus, das voluntaristische Menschenbild, das zum Neuen Menschen tendierte, die Licht- und Sonnensucht einschließlich Sport waren Berührungspunkte der Sozialdemokratie zur nichtsozialistischen Reformbewegung der Wandervögel und Jugendstiler. In den 60er und 70er Jahren des 19. Jh. war die Distanz zwischen „reformerischen“ und „sozialistischen“ Anschauungen eher gewachsen, danach verringerte sie sich deutlich.

Zum SPD-Milieu der Kaiserzeit gehörten Randgruppen der Lebensreform der Jahrhundertwende, die arbeiterspezifisch sind: Arbeitersportler, Kleingärtner und sozialistische Freidenker. Daneben drangen vor allem biologistische und viltalistische Lehren, die um den Sozialdarwinismus kreisten, in die Partei ein. Bereits Bebel mußte sich zu seinen Lebzeiten immer wieder mit solchen Strömungen auseinandersetzen, sowohl außerhalb, aber auch innerhalb der Partei.

Am Rand der SPD rumorte es zuerst. Alfred Ploetz gründete 1904 die Zeitschrift Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. 1905 war er Initiator der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene. Er kam eigentlich aus dem sozialdemokratischen Umfeld, während der Sozialistengesetzte war er noch wegen politischer Repression nach Zürich emigriert.  Was sich inzwischen scheußlich anhört – Rassenhygiene – war um 1900 bis 1945 auch international totaler wissenschaftlicher, politischer und medialer Mainstream.

Denn mit der Reformbewegung erfolgte der Aufstieg der Lehren von der Erbgesundheit und Rassenhygiene, schnell wurde klar: mit Leibeszucht und Rohkostsalaten allein ließ sich der angestrebte „Neue Mensch“ nicht schaffen, manche Nudisten waren von Anfang an auch ohne geriebene Möhrchen schön, andere blieben unansehnlich, fett, spindeldürr, runzelig, glatzköpfig oder schlabberig, wie sehr sie sich bei der Malträtierung des Leibes auch mühten. Es gab genetische Grenzen, die mit Ernährung und Sport allein nicht überwunden werden konnten. Diese unansehnlichen menschlichen Unkräuter sollte der Sensenmann ernten oder sie sollten womöglich sterilisiert werden.  Die Neue Aera hatte kaum begonnen, als Oda Olberg 1907 in der sozialdemokratischen „Neuen Zeit“ verkündete:

Nicht weil ich orthodoxer Parteisoldat bin, glaube ich, daß die Forderung der Rassehygiene in der sozialistischen Bewegung ihren wirksamsten Bahnbrecher hat, sondern ich bin Sozialist, weil ich das glaube.“

1923 verschärfte sich der Diskurs. Im Blatt des sozialdemokratischen Lebensreform-Verbandes „Volksgesundheit“ forderte Johannes Wolf:

Die Frage der Vernichtung lebensunwerten Lebens derjenigen … Menschen, die vollständig von der Arbeit anderer Menschen erhalten werden müssen, … kommt … nicht mehr zur Ruhe und mit Recht. Auf der einen Seite ernährt die Allgemeinheit Tausende von für immer unproduktiven oder sozial schädlichen Individuen und auf der anderen Seite gehen Tausende wertvoller Menschen zu Grunde. Hoffentlich hilft die Not der Zeit diese falsche Humanität zu überwinden.“

Gegen Wolfs Forderungen erhob sich kein Sturm der Entrüstung, er wurde nicht aus der Partei ausgeschlossen, sie rauschten an den roten Augen und Ohren vorbei wie die Wasserstandsmeldung. etwas weniger radikale Positionen waren damals in fast allen Parteien gelitten.

Ein Beispiel: Der Preußische Minister für Volkswohlfahrt Adam Stegerwald gab am 19. Februar 1926 einen Runderlaß an die Regierungspräsidenten heraus, in dem zur Einrichtung ärztlich geleiteter kommunaler Eheberatungsstellen aufgefordert wurde. Zur Begründung wurde darin u. a. ausgeführt:

Seit längerer Zeit bildet die Frage, inwieweit es erforderlich und möglich sei, durch staatliche
und sonstige Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Grundsätze der menschhchen
Vererbungslehre die Erzielung eines gesunden und hochwertigen Nachwuches zu fördern,
den Gegenstand lebhafter Erörterungen. Solche Maßnahmen, die in gewissem Umfang
bereits in anderen Kulturstaaten eingeführt sind, sind von der Deutschen Gesellschaft für
Rassenhygiene und anderer Organisationen, von der preußischen Volksvertretung sowie von
Einzelpersonen in Wort und Schrift mehrfach beantragt worden“
(Runderlass 1926,
S. 53). Die Regierung wurde damals von Otto Braun (SPD) geführt.

Wir sind heute in der medizinischen Tötungstechnik viel weiter, und was technisch möglich ist, soll auch gemacht werden, wenn es nach der SPD geht. Mit der Rassenlehre hat es die SPD nicht mehr, aber was die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ betrifft, ist man technisch und mental weiter als vor hundert Jahren. Meine erweckten Kritiker werden bestimmt einwenden, daß es nicht um lebensunwertes Leben geht, sondern um die Durchsetzung der Frauenrechte. Wenn es so wäre, dann will die SPD lebenswertes Leben vernichten. Oder seh ich was falsch?