Dem Krieg gehen Gedanken voraus

Der  Erste Weltkrieg fiel nicht unverhofft und unerwartet vom Himmel. Im Gegenteil. Wenn etwas völlig aus dem Ruder läuft, sind immer mehrere Schuldige auszumachen. Nicht nur Diplomaten und Militärs. In den intellektuellen Lüften Deutschlands hatten sich über Jahrzehnte bellizistische Gedanken etabliert. Die folgende Übersicht behandelt die deutsche Literatur des Kaiserreichs. Genau so ertragreich kann man die russische, französische und italienische Literatur der selben Periode nach unerfreulichen Texten durchsuchen.

Sei nicht mehr die weiche Flöte,
Das idyllische Gemüt –
Sei des Vaterlands Posaune
Sei Kanone, sei Kartaune,
Blase, schmettre, donnre, töte!

Jedem Krieg gehen Gedanken und Worte voraus. Bevor geschossen wird, wird gedacht, gedichtet und geschrieben, zum Schluß wird das Geschriebene vertont und gesungen. Obige Strophe von Heine aus dem Gedicht „Die Tendenz“ von 1844 war ironisch gemeint und bezog sich auf nationalpatriotische Gedichte wie „Der deutsche Rhein“, „Die Wacht am Rhein“ und „Das Lied vom Hasse“. Heinrich Heine machte sich ganz offensichtlich lustig über jene patriotische Gedanken und Reime, vielleicht mit einer resignativen Ahnung von der Macht des Worts. Die polternden und militanten Vormärzreime waren nur die ersten Zeichen für das Ende der biedermeierlichen Ruhe.

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich besonders unter dem Einfluß von Arthur Schopenhauer (1788 bis 1860) die literarisch-philosophische Dekadenz. Bengt Sörensen fasste das in seiner Geschichte der deutschen Literatur so:

„Die lebensmüde, oft lebensfeindliche Untergangsstimmung, die Faszination durch den Verfall in allen Formen, führten zur Vorliebe für Krankheiten, krankhafte Zustände sowie für den Tod. Die charakteristischen Figuren der dekadenten Literatur zeichnen sich denn auch durch eine geschwächte Vitalität aus…Sensibilität wurde kultiviert, Nerven, Nervosität und Hysterie wurden Schlüsselwörter. Normalität und Natur lehnte man in diesen Kreisen als banal und uninteressant ab.“

Spielwiesen der nervenkranken Welt waren die Praxen der Psychiatrie, der Hypnose, der Suggestion, der Triebpsychologie und zuletzt der Psychoanalyse als Königsdisziplin der reformistischen Traumdeutung.

Die Dekadenz wäre gesellschaftspolitisch nicht so interessant gewesen, wenn mit der Dekadenz nicht die Angst vor ihr ins Uferlose gewachsen wäre: Viele gesellschaftliche Prozesse wurden als Dekadenzvorgänge angesehen, der Untergang Roms ebenso wie der Niedergang des Adels. Sowohl der Nationalsozialismus wie der Stalinismus verstanden sich als Bollwerke gegen dekadente Niedergangsszenarien. Bereits 1892 schrieb Max Nordau in „Entartung“ „wir stehen mitten in einer schweren geistigen Volkskrankheit, in einer schwarzen Pest von Entartung und Hysterie.“

An dieser Stelle ist das grundsätzliche Verhältnis von Dekadenz und Reformismus zu hinterfragen. Der Nationalsozialismus stellte sein Programm dem der Dekadenz gegenüber und veranstaltete Ausstellungen wie „Entartete Kunst“, um diese Abgrenzung zu verdeutlichen. Stalin befahl mit der selben Zielrichtung den obligaten Sozialistischen Realismus und polierte am gängigen Gesellschaftsgemälde des dekadenten Kapitalismus.

Nietzsche als Ideengeber des Reformismus war sowohl von Schopenhauer als auch von Paul Bourget beeinflusst, dessen „Théorie de la Décadence“ 1883 erschienen war. Er setzte sich mit den Gedanken der Dekadenz kritisch auseinander, ohne ein ganz klares Konzept der Abgrenzung hinterlassen zu haben. Vielmehr sind die Äußerungen Nietzsches von dessen Tagesform abhängig und interpretierbar.

Diese Unklarheiten hatten bei den Nietzsche-Rezipienten wiederum Folgen. Sowohl jene, die heute der sogenannten „Moderne“ zugerechnet werden, wie Munch oder Kessler ließen sich von Nietzsche inspirieren, als auch die Vertreter der unstreitigen Antimoderne. Auf den Zug der Lebensphilosophie sprangen viele ehemalige Dekadente auf und entwickelten manches Mal einen reformatorischen Eifer, wie er Konvertiten eigen ist.

Überwiegend waren im Spätwerk von Friedrich Nietzsche, insbesondere in „Also sprach Zarathustra“ die Versuche, die Dekadenz zu überwinden und ihr die Philosophie des Lebens gegenüberzustellen. Zarathustra ruft jedoch zu einem archaischen Leben auf, das in seinen sinngebenden Abschnitten aus Kampf und Blutvergießen besteht.

Der Riß zwischen krankhafter Dekadenz und dem Leitbild des gesunden Volksgenossen ging mitten durch manche Schriftsteller- und Malerexistenzen: Thomas Mann schilderte minutiös den Verfall einer Kaufmannsfamilie, und sehnte sich in „Tonio Kröger“ doch nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit. Ganze Künstlerscharen von Malern, Dichtern, Schriftstellern und Publizisten schworen dem Stadtleben ab und drängten in die ländlichen Künstlerkolonien nach Murnau, Friedrichshagen und Worpswede, um sich den Wonnen des Landlebens auszusetzen und an der Kraft des bäuerlichen Blutes und Bodens zu schmarotzen. In dieser Zeit entstanden erste Verquickungen von Reformismus und Heimatkunst. Die Franzosen nannten diese Zeit die „große Epoche des Regionalismus“. In den zwanziger Jahren wurde der Heimatstil populärer und in den Dreißigern hingen seine Gemälde auf Ausstellungen in der oberen Reihe, für seine literarischen Blut- und Boden-Romane wurden die Walzen der Druckmaschinen nicht müde umzulaufen.

Eine innige Verbindung von Dekadenz und dem „modernen Menschen“ findet sich auch bei Hermann Hesse. Beim Niederschreiben des Erziehungsromans „Unterm Rad“ hielt es Hesse nur bis zur Seite 2 aus, ohne sich als Nietzsche-Apologet zu outen. Kaum hatte er die Hauptpersonen, Hans Giebenrath als begabtes Kind und seinen Vater einigermaßen leidlich vorgestellt, so kam er bereits auf das Unverhältnis einer kleinen Landstadt zum Elitarismus zu sprechen:

„Ein modern geschulter Beobachter hätte, sich an die schwächliche Mutter und an das stattliche Alter der Familie sich erinnernd, von Hypertrophie der Intelligenz als Symptom einer einsetzenden Degeneration sprechen können. Aber die Stadt war so glücklich, keine Leute von dieser Sorte zu beherbergen, und nur die Jüngeren und Schlaueren unter den Beamten und Schulmeistern hatten von der Existenz des „modernen Menschen“ durch Zeitschriftenartikel eine unsichere Kunde. Man konnte dort noch leben und gebildet sein, ohne die Reden Zarathustras zu kennen;…“

Die Dekadenz blühte im Rahmen der Kulturkrise der Jahrhundertwende weiter auf, in der  Lebensreformbewegung die ebenfalls von dieser Krise angetrieben wurde, entwickelte sich fast gleichzeitig Widerspruch. In der 1896 gegründeten Zeitschrift „Jugend“ erschien 1898 ein Artikel, welcher die Überschrift „Anti-Fin de siècle“ trug und sich polemisch gegen die „Müdigkeitsbruderschaft der Dekadenten“ wandte. Die Auseinandersetzung mit der Dekadenz wurde im Folgenden eine Konstante der Jugendbewegung. Die Kampfformen waren so heterodox wie diese Bewegung selber: Ausdruckstanz, Rassismus, Vegetarismus, Nudismus, Krieg, Sport, Euthanasie. Eine kurzlebige Variante war der Renaissancismus; das Theaterblut einer Reihe von Cesare-Borgia-Dramen überschwemmte nach 1890 die deutschen Bühnen, die Zuschauer sollten an blutige Größe und wilde Schönheit gewöhnt wurden; in den Wohnzimmern der Bildungsbürgerschaft türmten sich Nachahmungen von italienischen Abgüssen. Die Möbelhandwerker schufen aufwendige und überladene Renaissancefronten aus Furnier und Schnitzwerk, oft als Meisterstück.

Der Ästetizismus blickte ab 1890 in den Spiegel des Nietzscheanismus und vermeinte sich im Übermenschen wiederzuerkennen. 1892 bekannte sich Stefan George in seinen „Blättern für die Kunst“ zur „kunst für die kunst“ mit einem Primat für die Schönheit. Sörensen schreibt dazu:

„Dekadenz und Ästhetizismus verbanden sich mühelos miteinander. Der Typus des Ästheten, der das eigene Leben und die Umwelt nicht mit moralischen Kategorien von Gut und Böse, sondern mit den ästhetischen Begriffen von Schön und Häßlich bemisst, gehört zusammen mit dem Dandy und dem Dilettanten zu den Lieblingsfiguren der damaligen Literatur.“

In „Algabal“, nach dem pervesesten aller römischen Kaiser aus der Verfallszeit des Reiches genannt, errichtete George 1892 eine Welt der künstlichen und amoralischen Schönheit:

Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme
Der garten, den ich mir selbst erbaut
Und seiner vögel leblose schwärme
Haben noch nie einen frühling geschaut.

Ohne die Parole von der Umwertung der Werte lässt sich diese Haltung kaum verstehen, vielfach waren die Werke der Dekadenten nur „Lehrprosa“ und „Lehrlyrik“ zu  Nietzsches Philosophie. Der arrivierte Künstler wollte nach der Logik der Herdentiere beweisen, in der neuen Zeit angekommen zu sein. Das nietzscheanische Leitmotiv des Kampfs des Starken gegen das Schwache berührte beispielsweise Frank Wedekinds Bänkelgesang „Tantenmörder“ (1897):

Ich habe meine Tante geschlachtet .
Meine Tante war alt und schwach.
Ihr aber, oh Richter, ihr trachtet
Meiner blühenden Jugend-Jugend nach.

Mühelos verbanden sich nicht nur Dekadenz und Ästhetizismus miteinander, auch die Dekadenz und die völkische Bewegung kohabitierten bereits früh miteinander. Viele Ästhetizisten und Dekadente werden der präfaschistischen Bewegung zugeordnet, insbesondere George und sein Kreis, der junge Thomas Mann und der junge Heinrich Mann. Letzterer brachte es 1894 fertig, gleichzeitig zwei Dekadenzromane: „Das Wunderbare“ und „Contessina“ zu schreiben und bei der antisemitisch-völkischen Zeitung „Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“ mitzuarbeiten.

Bedeutung für das Einläuten einer neuen Phase der Kunstgeschichte hatten vor allem der italienische Futurismus und die Kunst der „Primitiven“. Eine Tribüne war die Zeitschrift „Der Sturm“, die von Herwarth Walden und Kurt Hiller 1910 bis 1932 herausgegeben wurde. Das neue war, dass man sich auf die Faszination der Großstadt einließ. Die Dynamik und Technik fanden Eintritt in den deutschen Kulturtempel. Der Lyriker Ernst Blass forderte, dass die modernen Dichter die Bilder der Großstadt als Landschaften ihrer Seele darstellen, und nicht die Großstadt an sich. Die Abstraktionstendenz war nicht zu übersehen: nicht der Einzelne, das Individuum wurde dargestellt, sondern der Mensch an sich. Solch eine großstädtische Seelenlandschaft offenbarte Paul Boldt:

Auf der Terrasse des Café Josty

Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll
Vergletschert alle hallenden Lawinen
Der Straßentakte: Trams auf Eisenschienen
Automobile und den Menschenmüll.

Die Menschen rinnen über den Asphalt,
Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.
Stirne und Hände, von Gedanken blink,
schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald.

Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,
Wo Fledermäuse, weiß, mit Flügeln schlagen
Und lila Quallen liegen – bunte Öle;
Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen.–
Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest,
Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.

Der Menschenmüll wurde wenig später auf den Schlachtfeldern um Verdun entsorgt.

Man kann vermuten, dass einerseits die Vermassung des Menschen in der Großstadt reflektiert wurde, andererseits der aktuelle Grad der psychoanalytischen Durchdringung der menschlichen Seele. Großen Einfluß hatte Siegmund Freud, der den Menschen so darstellte und beschrieb, dass er nicht Herr im eigenen Körper sei, sondern seine Psyche von bösen ödipalen Geistern in den Schläuchen des Körpers umgetrieben würde. Der Kampf mit dem eigenen Vater, der seinem Sohn in der ödipalen Phase die sexuellen Reize der Mutter vorenthielt, gewann unter Freuds Einfluß gerade nach 1910 große Bedeutung: Heym, Benn und Becher führten den Kampf mit dem Vater sowohl persönlich als auch literarisch, in einigen anderen Fällen kam es zum literarischen Vatermord. Walter Hasenclever gar ließ 1914 in seinem Roman „Der Sohn“ aus nichtigem Anlaß die männlichen Mitglieder eines Jugendclubs zu den Klängen der Marseilleise den Mord an ihren Vätern beschließen.

Georg Heym träumte 1910 von Barrikaden und Kriegen. Auskunft gab sein Tagebuch:

„Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich  wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig, wie Leimpolitur auf alten Möbeln.“

Ein Jahr später reimte er schon wieder vom Krieg:

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
aufgestanden unten aus Gewölben tief.

Eine große Stadt versank in hellem Rauch,
warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht,
der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht

über sturmzerfetzter Wolken Widerschein
in des toten Dunkels kalten Wüstenein,
dass er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.

Von 1910 bis 1914 entstanden Hunderte von Gedichten, Romanen und Bildern, in denen der bevorstehende Krieg thematisiert und verherrlicht worden ist. 1911 wurde Jakob von Hoddis „Weltende“ veröffentlicht, das die deutschen Gymnasiasten regelrecht elektrisierte:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es von Geschrei
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Hoddis spielte hier mit der Angst vor dem Weltuntergang angesichts des am 18. Mai 1910 im Abstand von 63 Millionen Kilometern an der Welt vorübergeflogenen Halleyschen Kometen. Das Berliner Tagblatt berichtete am 19. Mai von stattgefundenen Weltuntergangsparties mit Kometenbowle und Untergangsmelodien.

Die literarisch-poetische Zerstörungslust, manchmal gar Zerstörungswut, war mit dem Wunsch nach einer harmonischen schönen Neuen Welt verbunden, deren neue Menschen aus den alten in einer Reinigungskatastrophe entstehen würden. Die Technikfeindlichkeit Nietzsches war überwunden, ansonsten klebte man jedoch an seinen Visionen.

Peter von Rüden hat nach den Gründen und Motiven für die Natursehnsucht gesucht und folgenden Zusammenhang gefunden: Das Christentum als monotheistische Religion habe die Naturgottheiten bekämpft und von ihrem Sockel gestoßen. Der Bezug der Menschen zur Natur sei mit dem Abgang von Flussgeistern, Fruchtbarkeitsgöttinnen, Waldschraten und Sonnenscheiben verloren gegangen. Geblieben sei nur die Forderung, sich die Erde untertan zu machen. Er zitiert den grünen Antisemiten Klages:

„Die Weltfeindschaft, die das Mittelalter selbstgeißlerisch im Innern nährte, mußte nach außen treten, sobald sie ihr Ziel erreicht: den Zusammenhang aufzuheben zwischen dem Menschen und der Seele der Erde.“

Um die Sehnsucht nach diesem metaphysischen Naturgeist, diese vermeintlich in den Untergrund abgedrängte, verschüttete Volksseele mit ihrem Gefolge von verschmähten Naturidolen zu benennen zitiert Peter von Rüden den Vater und Erfinder des neuzeitlichen Naturschutzes in Deutschland, Ernst Rudorff:

„Was unsere Urväter in Wodans heilige Eichenhaine bannte, was in den Sagen des Mittelalters, in den Gestalten der Melusine des Dornröschen lebt, was in den Liedern Walters von der Vogelweide anklingt […]: immer ist es derselbe Grundton, derselbe tiefe Zug der Seele zu den wundervollen und unergründlichen Geheimnissen der Natur, der aus diesen Äußerungen des Volksgemüths spricht.“

Jeder Baum wurde auf seine mythische Vergangenheit, jeder Hügel auf seine germanische Archäologie und jeder Teich auf seine Nymphen untersucht: Virtuelle Ahnen flogen durch den mitteleuropäischen Wald, in den Wohnzimmerschränken türmten sich um die Wette Heldensagen und Märchenbücher.

„Rotkäppchen, der treue Johannes und Schneewittchen bei den sieben Zwergen über den sieben Bergen nahmen mich in ihren geschwätzigen Kreis. Mein begieriger Sinn erschuf bald aus freier Kraft Gebirge mit mondglänzenden Elfentanzwiesen, Paläste mit seidenen Königinnen, fabelhaft tiefe und greuliche Berghöhlen, von Geistern, Eremiten, Köhlern und Räubern abwechselnd unheimlich bevölkert. Ein schmaler Raum im Schlafzimmer, zwischen zwei Bettstellen, war vorzüglich der Wohnort schlitzäugiger Kobolde, rußiger Bergmänner, geköpfter Umgänger, traumwandelnder Totschläger und grünschielender Raubtiere, so dass ich eine Zeitlang nur in Begleitung Erwachsener und noch lange später nur mit äußerster Aufbietung allen Knabenstolzes daran vorübergehen konnte. Einmal befahl mir mein Vater, von dort seine Pantoffeln zu holen. Ich ging in das Schlafzimmer, wagte mich aber nicht an den Ort des Entsetzens und kehrte kleinlaut zurück, vorgebend, ich hätte die Schuhe nicht gefunden.“

So berichtete Hermann Hesse 24jährig über seine Kindheit. Als ersten Kindereindruck prägte sich ihm ein Wiesenland hinter dem Elternhause ein.

Den Grundstein für die unheilige Allianz von Elitarismus und Naturschutz hatte Friedrich Nietzsche als epochale Neudefinition des Frevels selbst gelegt:

„Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht. Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren! Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb, und damit auch die Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher zu achten, als der Sinn der Erde!“

Der im deutschsprachigen Raum wie sonst nirgends auf der Welt weitverbreitete metaphysische Ehrfurcht vor der Natur und die kehrseitige Abwertung des menschlichen Lebens hat hier scheinbar ihre Wurzel. Nietzsche orakelte:

„Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde opfern, dass die Erde einst der Übermenschen werde.“

1896 hatte Rilke seine Erzählung „Der Apostel“ veröffentlicht, die diese Gedanken literarisch unterlegte. In der menschlichen Seele gäbe es keine schlimmeren Gifte als Nächstenliebe, Mitleid und Erbarmen, Gnade und Nachsicht. Deshalb geht der „Apostel“, das Sprachrohr des Dichters, in die Welt, um die Liebe zu töten. Höhnisch bekennt er:

„Wo ich sie finde, da morde ich sie.“ Denn das christliche Gebot der Nächstenliebe schwächt diejenigen, die es „blind und blöde“ befolgen; und „der, den sie als Messias preisen, hat die ganze Welt zum Siechenhaus gemacht“.

Träger des Fortschritts kann nie die stumpfe Menge sein, sondern nur „der Eine, der Große, den der Pöbel haßt“; nur er kann rücksichtslos den Weg seines Willens gehen, „mit göttlicher Kraft und sieghaftem Lächeln“. Ein Recht zu leben hat nur der Starke. Der marschiert vorwärts, selbst wenn die Reihen sich lichten.

„Aber wenige Große, Gewaltige, Göttliche werden sonnigen Auges das neue gelobte Land erreichen, vielleicht nach Jahrtausenden erst, und sie werden ein Reich bauen mit starken, sehnigen, herrischen Armen auf den Leichen der Kranken, der Schwachen, der Krüppel. Ein ewiges Reich!“

Eine selbstironische Bildergeschichte von Arno Holz und Johannes Schlaf behandelte die ernstere Lebensphilosophie lockerer und endete mit dem Seufzer:

Schon läuten fromm die Morgenglocken,
Man sitzt mit ungekämmten Locken
Und schüttelt sich und spricht voll Ekel:
„Horrgott, ist mir heut fin de siècle!“