Der beliebige Rechtsstaat

Heute berichtet die orientierungslose Frankfurter Allgemeine Zeitung über den Rechtsstaat DDR.  Der Gastautor Ernst-Wolfgang Böckenförde räumt am Anfang des Artikels noch ein: „Merkmale des Rechtsstaats sind nach heutigem Verständnis insbesondere die Verbürgung von Grundrechten, die Garantie der Gewaltenteilung, die Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an Gesetz und Recht und die Unabhängigkeit der Richter.“ Nichts davon gab es allerdings in der DDR.

Nach ein paar dürren Worten über die Ungerechtigkeit – an der deutsch-deutschen Grenze, in der Justiz, bei der Unterdrückung freien Ausdrucks, bei der Verweigerung des Zugangs zu Schulen und Universitäten, bei der Bespitzelung und Zerstörung privaten Lebens – beginnt der Autor zu relativieren:

„Aber war die DDR darum ein Unrechtsstaat? Ein Staat, in dem sich alles staatliche Handeln statt in der Weise des Rechts in der Weise des Unrechts vollzog, der die Ungerechtigkeit sogar anstrebte? Das entspräche dem begrifflichen und klanglichen Gegensatz zum Rechtsstaat. Aber hier gilt es zu differenzieren. Auch die DDR hat nicht darauf verzichtet, in vielen Bereichen in der Weise des Rechts zu handeln und für ihre Bürger und Bürgerinnen Gerechtigkeit anzustreben. Entsprechend haben die ostdeutschen Bürger und Bürgerinnen in vielen Bereichen ein Leben in rechtlich-ethischer Normalität geführt, in Achtung und Befolgung bestehenden Rechts und getragen von einem darauf bezogenen Ethos. Dies gehört ebenso zur Wirklichkeit der DDR wie das vielfache Unrecht, die vielfache Ungerechtigkeit.“

Nein, Herr Böckenförde, die DDR war kein Unrechtsstaat, weil an der Grenze eine dreistellige Zahl von Leuten totgeschossen worden sind. Sie war auch kein Unrechtsstaat, weil man diesen oder jenen Gedanken nicht ungestraft äußern durfte. Das sind alles Phänomene, die ganz normal sind. Jeder Staat, der etwas auf sich hält, verhindert ungesetzliche Grenzübertritte und auch in der Bundesrepublik darf man seine Meinung nicht ungestraft äußern, wenn sie der Political Correctness nicht entspricht.

Die DDR war ein Unrechtsstaat nicht weil sie Grenzanlagen hatte, sondern weil sie gesetzmäßige Grenzübertritte mit aller Macht verhinderte. Weil die DDR genau genommen ein großes KZ war. Wozu brauchte man denn sonst den Stacheldraht, der verlängert bis an die türkische Grenze reichte?  Wenn es diese permanente Einsperrung nicht gegeben hätte, wäre die Hälfte der Bevölkerung bei der ersten besten Gelegenheit getürmt. Was bitte ist rechtsstaatlich, wenn Familien jahrzehntelang voneinander getrennt werden?

Mit der Länge der Einzäunung, die durch den ganzen Ostblock reichte, jedoch nur für Deutsche und Rumänen gedacht und gemacht war, sind wir bei einem weiteren Problem: Die DDR-Führung hatte alleine nicht die Souveränität, um diese Einzäunung durchzusetzen. Es war ganz offensichtlich eine Anweisung aus Moskau, denn nur auf Befehl Ulbrichts wäre der Zaun im Vogtland zu Ende gewesen. Die DDR war kein Rechtsstaat, sondern ein von der Sowjetunion in deren Eigeninteresse betriebenes politisches Gebilde ohne eigene Entscheidungsbefugnisse in wichtigen Fragen.

Lieber Herr Böckenförde:  Auch das Dritte Reich „hat nicht darauf verzichtet,  in vielen Bereichen in der Weise des Rechts zu handeln und für ihre Bürger und Bürgerinnen Gerechtigkeit anzustreben.“ Auch im Nationalsozialismus haben deutsche Bürger „in vielen Bereichen ein Leben in rechtlich-ethischer Normalität geführt, in Achtung und Befolgung bestehenden Rechts und getragen von einem darauf bezogenen Ethos.“

Es war zwar in beiden Diktaturen ein verbrecherisches Ethos. Man durfte im Dritten Reich nicht gerade Jude oder Zigeuner sein, und in der DDR nicht gerade Kapitalist oder Großbauer. Demokrat durfte man in beiden Systemen auch nicht sein. Aber für den Rest der Leute  hat das Leben in Böckenfördes Rechtsstaat ja prima funktioniert. Dank toller Rechtspflege.  Es ist schon interessant, wenn man einem Bundesverfassungsrichter erklären muß, daß Recht nur Recht ist, wenn es für alle gleichermaßen gilt.

Wer ist dieser diktaturbesoffene FAZ-Autor Ernst-Wolfgang Böckenförde? Sein Wikipedia-Eintrag ist lang. 1930 geboren, wurde er seit 1953 Anhänger des Staatsrechtlers Carl Schmitt. Letzterer war der Hausjurist des Dritten Reiches, Gegner der Demokratie und des Liberalismus. Trotzdem oder gerade wegen seiner Nähe zu Schmitt trat Böckenförde 1967 in die SPD ein und wurde mit ihrer Hilfe 1983 bis 1996 Bundesverfassungsrichter. Im Bundesverfassungsgericht fiel er dadurch auf, daß er in fast allen Entscheidungen von der Mehrheit der Richter abwich. Er ist eine eigenwillige Person mit der Tendenz zu Absonderlichkeiten.

Was sollte der heutige Artikel in der FAZ? Legitimiert er in der Tradition von Carl Schmitt die Diktatur oder hat Böckenförde von der SPD den Parteiauftrag eine Rechtfertigung für die Teilnahme der SPD an der rot-rot-grünen Regierung in Erfurt zu liefern? Man weiß es nicht.

Auf jeden Fall ist die FAZ mit diesem Autor auf Abwege geraten. Die Gründungsherausgeber der FAZ würden ihre Zeitung nicht wiedererkennen, wenn sie diese heute aufgeschlagen hätten.