Die arabische Mittelschicht im Wandel

Die arabische Mittelschichtfamilie ähnelt in einigen Belangen unserer deutschen sehr stark. Da ist zunächst die sinkende Fruchtbarkeit. Während in der Kaiserzeit im Deutschen Reich Familien mit 8 bis 10 Kindern keine Seltenheit waren, wird die deutsche Einkindfamilie unter dem Druck der Medien und der Steuerpolitik heute immer mehr zum Standard. Die Reproduktionsraten werden auch in der arabischen Mittelschicht geringer, allerdings hat diese Entwicklung im Süden einige Jahrzehnte später eingesetzt und wird nicht vom ideologischen Trommelfeuer der vergenderten Familienfeinde begleitet.

Kürzlich war ich bei einem arabischen Studienkollegen zu Gast, der vor 40 Jahren die gleiche Fachrichtung gewählt hatte. Zeit nicht nur um in alten Erinnerungen zu schwelgen. In Arabien ist es nämlich unumstößliche Sitte, sich am ersten und manchmal auch noch am zweiten Tage über die Familien auszutauschen. Erst danach kommen alle anderen Themen an die Reihe.

Wiedersehen nach 40 Jahren. Foto: Wolfgang Prabel
Wiedersehen nach 40 Jahren. Foto: Wolfgang Prabel

Die Familie des Gastgebers stammt aus Bayt Umar in der Nähe von Bethlehem. Er hatte 14 Geschwister, die wiederum mittlerweile etwa 100 Vettern und Basen hervorgebracht haben. Er selbst hat vier Kinder, drei junge Damen und einen erwachsenen Sohn. Und in der Enkelgeneration beginnt die Moderne ihren demografischen Tribut zu fordern.

Seine Töchter haben nämlich anspruchsvolle Berufe. Eine hat es zur angesehenen Reproduktionsmedizinerin gebracht. Nun hilft sie anderen Leuten, wenn die mit ihrem Latein am Ende sind. Selbst in Tel Aviv hatte sie kürzlich einen Vortrag zu ihrem Fachgebiet gehalten. Aber sie hat bisher nur einen Sohn. Auch ihre Schwestern schätzen die berufliche Grundlage. Die jüngste zieht es vor, auf dem Gebiet der Marketingwissenschaften internationale Studiengänge in Europa und Amerika zu absolvieren, bevor sie an eine Heirat denkt. Die Älteste hat einen Erziehungsberuf und bisher zwei Kinder. Sie erzieht ihre beiden eigenen Lieblinge zu Hause, bevor sie vielleicht mit vier oder fünf Jahren in den Kindergarten gegeben werden. Der überwiegende Teil der Familie schätzt die frühkindliche Erziehung in Einrichtungen eher weniger. Manuela Schwesig mit ihrer Krippe 24 hätte es in Arabien wirklich schwer.

Der Sohn der Familie hat die Dreißig schon deutlich überschritten und ist noch ledig, obwohl sich seine Eltern sehnlichst Enkelkinder wünschen. Er ist auf künstlerischem Gebiet tätig und insofern weicht sein Lebensrhythmus etwas ab. Ja, die junge Generation ist etwas anders heutzutage…

Die Zone A ist im biblischen Samaria und Judäa das Gebiet, welches sowohl verwaltungstechnisch wie militärisch von der Autonomiebehörde verwaltet wird. Ramallah, Jericho und Al Khalil gehören beispielweise dazu. Man würde nun vermuten, daß es hier am traditionellsten zugeht, weil die Araber hier ganz unter sich sind. Bereits das Straßenbild spricht eine andere Sprache.

Straßenszene in Bethlehem
Straßenszene in Bethlehem

Obwohl der Anteil christlicher Araber hier auf ein Minimum zurückgegangen ist, trägt nicht jede Frau das Kopftuch. Sowohl bei Männern, zum Teil auch bei jüngeren Frauen ist die Kleidung verwestlicht. Selbst wenn das König-Hussein-Tuch Kufiya mit dem Kopfring Egal noch getragen wird, gehört dazu kein langer weißer Kaftan mehr. Junge Mädchen stehen mit knallengen Jeans auf der Straße, das Kopftuch keck schräg gebunden und bombardieren Männer mit herausfordernden Blicken. Ein arabischer Kommentar dazu: „Die tragen das Tuch nur, damit sie der Bruder nicht verhaut“. Auf den Straßen und in Shops findet man immer wieder Werbung mit äußerst knapp bekleideten Damen, vor allem im Fitness-Bereich.

Die Glitzerwelt von Ramallah mit frivoler Werbung. Foto: Wolfgang Prabel
Die Glitzerwelt von Ramallah mit frivoler Werbung. Foto: Wolfgang Prabel

Nun haben Religionen ja das Schöne an sich, daß man nie alleine ist. Daß der Liebe Gott oder Allah das große Buch aufgeschlagen hat, um alles zu notieren was man falsch oder richtig macht. Diese Art Religion hat den Nutzen, daß man sich nicht zu wichtig nimmt und nicht alle Entscheidungen selbst zu treffen bracht.. Aber dieser alte Glaube hat bei der jüngeren Generation Risse bekommen. Nicht nur in Europa, sondern auch in Arabien und im wilden Kurdistan.

Der Glaube verliert einerseits an traditioneller Routine, aber für eine aktive Gemeinde wird der Koran mehr und mehr zur Kampfschrift. Solche Radikalisierung kannte der Katholizismus bei Girolamo Savonarola und den Hussiten auch. Der Protestantismus eiferte mit den Wiedertäufern und Thomas Müntzer. An diesem Punkt der peniblen Auslegung ist der Islam gerade jetzt. Arabien und Europa sind immer im Wandel, aber leider nicht nur zum Guten.

Die Erfahrung zeigt, daß moderne Veränderungen auf der Mikroebene der Familie viel Zeit brauchen, bis sie in der Makrowelt der großen Politik ankommen. Auch in Deutschland, Frankreich und Großbritannien ging zuerst die Geburtenrate zurück; erst Jahrzehnte später besann man sich auf den friedlichen Ausgleich mit den anderen europäischen Nationen und wollte seine wenigen Kinder nicht mehr in Kriege jagen.

In Arabien gibt es fast überall 10 bis 20 % Gläubige, die mit Gut und Blut eifern wollen. Daneben gibt es langsam beginnende demografische Veränderungen. Den zumeist französischen und amerikanischen Architekten des arabischen Frühlings sind angesichts eines nur sehr bedächtig voranschreitenden Wandels völlig die Gäule durchgegangen.