Der Aufstieg der nationalen Parteien

In Deutschland spielen nationale Minderheiten eine immer größere Rolle. Im Norden leben ein paar Dänen und Friesen, in der Lausitz einige Sorben und im Süden die Bayern. So war das ganz früher. Dazu kamen durch Einwanderung vor allem Türken, Araber und Kurden, daneben über 100 andere Völker in kleineren Portionen. Im deutschen Parteienwesen sind diese Minderheiten noch kaum angekommen. Die Dänen regieren in Schleswig-Holstein mit, im Süden gibt es die separatistische Bayernpartei mit noch bescheidenen Wahlerfolgen und einige Türken haben im Rheinland die Erdogan-nahe BIG gegründet. Noch wird Deutschland von Parteien regiert, die von sich behaupten, eine ideologische Kultur zu bedienen. Und wenn es nur die Reinkultur völliger Prinzipienlosigkeit ist. Sprachenstreit und Claninteressen spielen derzeit noch keine große Rolle.

In Frankreich werden Minderheiten straff unterdrückt. Frankreich hat – neben der Türkei und Griechenland – das Rahmenabkommen des Europarats von 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten bis heute weder in Kraft gesetzt noch ratifiziert. Im Schatten des Kampfes gegen Rechts, wo alle Aufmerksamkeit den Umtrieben von Frau Le Pen galt, ist den korsischen Separatisten 2015 jedoch ein Überraschungserfolg gelungen. Sie siegten kürzlich bei der Regionalwahl auf ihrer Insel. Das könnte ein Aufbruchssignal für Bretonen, Basken, Melanesier, Katalanen, Deutsche und vor allem Araber sein.  Präsident Hollande und sein Rivale Sarkozy werden Mühe haben den Deckel auf dem Topf der nationalen und religiösen Gefühle  festzuhalten.

In Schottland war der Aufstieg der Schottischen Nationalpartei im letzten Jahrzehnt unaufhaltsam. Bei der letzten Unterhauswahl im Vereinigten Königreich errangen die Separatisten fast alle schottischen Unterhausmandate und schädigten damit vor allem Labour. Der Nordirlandkonflikt zwischen Iren und Engländern ist nur eingefroren, aber nicht entschieden.

In Belgien haben sich fast alle Parteien in einen französischen, einen flämischen und einen deutschen Ableger gespalten. Trotzdem gibt es noch nationale Parteien wie Vlams Belang.  Belgien hat durch den Sprachenstreit den höchsten Grad von Unregierbarkeit erreicht.  Die Regierungsbildung dauerte bisweilen länger als ein Jahr.

In Bulgarien gibt es eine Türkenpartei, in Rumänien und der Slowakei sitzen Ungarn in den Parlamenten. Polen haben eine nationale Wahlliste in Litauen. In Finnland gibt es die Schwedische Volkspartei. In Bulgarien, Rumänien, Finnland und zeitweise auch in der Slowakei waren die Minderheitenparteien Mehrheitsbeschaffer, wenn es für die Gesinnungsparteien der Titularnationen nicht reichte.

Auch Italien verzeichnet einen nicht tot zu bekommenden Separatismus. Eine Internetabstimmung im vergangenen Jahr signalisierte eine deutliche Mehrheit für die Wiederherstellung des venetianischen Staats. In Südtirol und im Aostatal gibt es nationale Parteien.  Bestrebungen für mehr Autonomie gibt es darüber hinaus auf den großen Inseln und im Trentino. Bei der Lega Nord ist die Werbung für die Abspaltung Padaniens, also Norditaliens, derzeit erst einmal auf Eis gelegt.

Ein grelles Licht auf die Macht von nationalen Parteien hat die gestrige Wahl in Spanien geworfen. Weder Konservative und Bürgerliste noch Sozialisten und „Wir können“ haben eine Mehrheit der 350 Abgeordneten gewonnen. Zwei katalanische Parteien mit zusammen 17 Abgeordneten und zwei baskische Parteien mit insgesamt 8 Abgeordneten sind entweder Stolpersteine auf dem Weg zur Macht oder auch Königsmacher.

Die spanischen Konservativen haben eine Abspaltung Katalaniens bisher vehement bekämpft. Ohne die katalanischen Separatisten gibt es jedoch keine Mehrheit. Eine wirkliche Zwickmühle, in die die spanische Politik geraten ist. Genauso solche Hemmungen gibt es bei den Linken. Die Sozialisten wollen die Abspaltung Katalaniens verhindern. Aber ohne die katalanischen und baskischen Linksnationalisten gibt es keine Mehrheit.

Die politische Diskussion in Ländern mit Minderheuten ist immer gespalten. Die Mehrheitsnation entscheidet beispielsweise über die „richtige“ Bewältigung der Schuldenkrise, die Minderheiten votieren für Austritt oder Autonomie ihrer Gebiete. Politische Parallelwelten, die nicht unmittelbar in das Lehrbuch der parlamentarischen Demokratie passen.

Ein Blick auf Europa zeigt: Mit nationalen Parteien neben den ideologischen Traditionsparteien wird das Regieren nicht einfacher. Zufälle des Wahlrechts und unklare Mehrheitsverhältnisse entscheiden über Macht und Ohnmacht der Minderheiten. Und mit der Zahl von Koalitionspartnern steigen die Koordinationsprobleme in der Regierungszentrale. Bei zwei Koalitionspartnern muß eine Abstimmung zwischen den Partnern stattfinden, bei drei Partnern sind es drei Abstimmungen und bei vieren sind es sechs Gespräche, wenn jeder mit jedem redet. Was dabei rauskommt, wenn vier Parteien regieren: siehe Belgien.

Die europäische Geschichte der letzten hundert Jahre zeigt eine starke Tendenz zum Zerfall von Vielvölkerstaaten. Zunächst konnten Norwegen, Finnland und Irland ihre Unabhängigkeit erringen,  Jugoslawien und die Tschechoslowakei haben den Prozeß der Aufspaltung hinter sich, die Sowjetunion ist zumindest teilzerlegt und nun stehen weitere Minderheiten des Westens auf der Schwelle zur Unabhängigkeit. Die Katalanen gehören seit gestern dazu.