Der Föderalismus und die syrischen Friedensverhandlungen

Vicken Cheterian ist Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Genf. Vorgestern gab ihm das nahöstliche Medienportal Al Jazeera die Plattform seine Ansichten zu den Friedensgesprächen in Syrien darzulegen. Seine Sicht der künftigen Gestaltung Syriens (im folgenden kursiv geschrieben) kommt der sunnitischen Kriegspartei sicher gelegen, weil die Mehrheitsbevölkerung des Gesamtsstaats arabisch-sunnitisch ist und weil sie in einem Einheitsstaat Alawiten, Kurden, Christen, Schiiten und andere Minderheiten dominieren oder auslöschen könnte:

Die Idee einer Föderation als Lösung der syrischen Krise liegt plötzlich auf dem Verhandlungstisch, als sich die verfeindeten Seiten und ihre internationalen Sponsoren für eine neue Runde der Gespräche in Genf treffen. Die russische Diplomatie sorgte im Februar für eine Sensation, als der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow bekannt gab, dass der Föderalismus eine mögliche Lösung für Syrien sei. „Wenn als Ergebnis der Gespräche, Beratungen und Diskussionen über Syriens Zukunft als staatliche Ordnung … sie zur Meinung kommen, dass nämlich ein Bundes-Modell für die Erhaltung Syriens als einer vereinten, unabhängigen und souveränen Nation funktionieren wird, wie würde das aussehen?“

Der russische Vorschlag eines föderierten Syrien gewann mehr Gewicht, als der Gesandte der Vereinten Nationen für Syrien Staffan de Mistura vor dem Start der nächsten Runde der Genfer Gespräche am 11. März erklärte, dass „Syrer die Teilung Syriens ablehnen und daß über Föderalismus bei den [kommenden] Verhandlungen“ diskutiert werden könnte.

Erhöhten syrischen Ängsten vor einer Aufteilung folgten Ankündigungen von US-Außenminister John Kerry über einen „Plan B“, falls die Verhandlungen scheitern. Die kurdische PYD, aus den derzeitigen Gesprächen ausgeschlossen, drängt auch auf den Föderalismus.

Die syrische Opposition hat kategorisch die Idee des Föderalismus abgelehnt. Riyad Hijab, Leiter der Hohen Verhandlungsausschusses, der Riad-basierten Vertretung der syrischen Opposition, wurde mit den Worten zitiert:“. Syriens Einheit ist eine rote Linie und dieses Problem ist nicht verhandelbar und die Idee des Föderalismus ist der Auftakt für die Teilung von Syrien. „

Gibt es jetzt eine Vereinbarung zwischen den beiden Großmächten Syrien als besten Weg aus der Krise zu zerteilen? Interessanterweise hatten Hijab und die syrische Opposition früher „administrative Dezentralisierung“ von Syrien vorgeschlagen. Wenn man sorgfältig schaut, was Federatsiya – das russische Wort für „Föderation“ – heute in Rußland bedeutet, dann wird deutlich, dass Teilung keine unmittelbare politische Bedrohung für die Friedensgespräche ist.
 
Russland, offiziell die „Russische Föderation“, ist ein Zusammenschluss von 85 Gebiertskörperschaften. Es erbte seine föderative Struktur aus der Sowjetunion, in der die „Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik“ eine von 15 Unionsrepubliken war. Sowohl in der sowjetischen Erfahrung und der gegenwärtigen politischen Kultur Russlands bedeutet „Föderation“ weitgehende Anerkennung der nationalen und kulturellen Besonderheiten unter einem autokratischen oder totalitären System.

In den ersten Jahren der Entstehung der Sowjetunion in den 1920er Jahren, versprachen die sowjetischen Behörden den verschiedenen Völkern, die einst im russischen Reich zusammengepfercht waren, Selbstbestimmung und Föderalismus. Doch wie die sowjetischen Behörden ihren Griff auf die Staatsmacht verstärkten, wurde Föderalismus weitgehend eine äußere Form, eine Dekoration „sozialistischen Realismus“, in der die Macht an der Spitze konzentriert wurde.

Etwas Ähnliches geschah mit Russland im Jahr 1991. Zu Beginn schlug der russische Präsident Boris Jelzin ein föderatives System für die verschiedenen nationalen Republiken vor, um den Zerfall Rußlands ähnlich dem der UdSSR zu vermeiden.

Zu der Zeit war der zentrale Staat schwach, und viele der Republiken behaupten ihre „Souveränität“. Im Jahr 1994 unterzeichnete Moskau einen Pakt mit Tataristan – einer türkischsprachigen moslimischen Republik an der Wolga – bei dem die Tataren auf ihr Streben nach Souveränität im Gegenzug für die Kontrolle über lokale Steuern und bis zu einem Fünftel seiner Ölexporte aufgaben.
 
Ähnliche Vereinbarungen wurden mit den anderen nationalen Republiken erreicht, mit nur einer Ausnahme: Tschetschenien. Dort versuchte die Jelzin-Administration, das Problem durch eine massive Machtdemonstration zu lösen, aber der Krieg von 1994-1996 endete in einer katastrophalen russischen Niederlage.

Der zweite russische Präsident, der von Hand gepflückte Vladimir Putin, machte aus Tschetschenien ein Schaufenster für seine Ambitionen. Viele von Putins politschen Ideen entstanden beim Managen des Tschetschenienkonflikts und seinem Erfolg bei der Pazifizierung der kaukasischen Republik. Der Preis für diesen Erfolg war sehr hoch, nicht nur wegen der großen Zahl von Opfern unter tschetschenischen Zivilisten und Kämpfern sowie russischen Soldaten, sondern auch, weil nach dem Krieg Tschetschenien durch die eiserne Kadyrow-Diktatur regiert wird.

Nach seinem militärischen Sieg in Tschetschenien, verstärkte Putin die „Machtvertikale“ des Zentralstaates, die Präsidenten der verschiedenen Republiken wurden zu Ernannten des Kremls gemacht. Putin und seine Generation russischer Führer sind von der Obsession des Zusammenbruchs eines zentralisierten Staates und dem Chaos besessen, das folgt. Dies waren die dunklen Tage des sowjetischen Zusammenbruchs, und ihre Politik ist darauf ausgerichtet, eine Wiederholung zu vermeiden. Bei den Genfer Gesprächen könnten viele Delegierte eine „föderale“ Lösung diskutieren, aber für Russland ist es „federatsiya“ statt Föderalismus.

Die in diesem Artikel bei Al Jazeera geäußerte Meinung stimmt nicht mit der von Prabels Blog überein. Der Autor Cheterian ist mit der russischen Mentalität offensichtlich nicht vertraut.  Sicher ist Föderalismus in Rußland genau das, was der Autor beschreibt: Ein nur mäßig beschränktes Durchregieren der Putinschen Zentrale in die lokalen Angelegenheiten von Minderheiten hinein. Das erfolgt in Rußland jedoch aus der starken Position des Russentums, das fast 70 % der Einwohner der russischen Föderation stellt und nutzt alleine russischen Interessen.

In Syrien, wo die alawitischen und christlichen Verbündeten Moskaus nur ca. 20 % der Einwohner ausmachen, wird Moskau den Föderalismus als eine Fast-Unabhängigkeit definieren, um die eigenen Interessen zu wahren. Morgenländische Diplomatie – und auch Rußland gehört spätestens seit dem Mongolensturm kulturell zum Osten – ist keine Wortklauberei, folgt nicht irgendwelchen Definitionen und Grundsätzen, sondern ist wesentlich wandelbarer und flexibler, als westliches Agieren. Eine gewisse Prinzipienlosigkeit, oft verbunden mit Bestechung, eine handfertige Ausnutzung von sich bietenden Gelegenheiten, ist geradezu der Markenkern.

Wie ist es sonst zu erklären, daß Rußland und die Türkei vor einem Jahr noch miteinander turtelten, wenn es gegen NGOs und Homosexualität ging? Seit dem Beginn der unglücklichen Nahostdiplomatie der deutschen Kanzlerin ist der Westen in Ankara nicht mehr der lästige Mahner, der westliche Standards vor dem EU-Beitritt verlangt, sondern der Bittsteller, der sich die türkischen Bedingungen diktieren läßt. Die machtpolitische Kulisse hat sich wegen Merkels Asylpolitik fundamental geändert und die türkischen und russischen Turteltauben von einst sind wieder verfeindet wie die Kesselflicker.

Eine alte russische Anekdote spiegelt dieses Auf und Ab in den internationalen Beziehungen Rußlands: Anfrage an Radio Jerewan: „Ist die aussenpolitische Lage der Sowjetunion trotz Peking, Prag, Belgrad und Bukarest immer noch gut?“ Antwort: „Im Prinzip ja, sie ist sogar grossartig, verglichen mit der Lage, wie wir sie vielleicht schon im nächsten Jahr haben werden.“