Wir waren auch mal Kubaner

Nun ist der Maximo Leader Fidel Castro tot. Ich erinnere mich, 1961 ein Schulheft zu seiner Revolution beigesteuert zu haben. Es war eine Sammlung, die von der Schule organisiert wurde und es wäre jedem übel genommen worden nicht wenigstens einen alten Bleistift oder ein hart gewordenes Radiergummi für die Weltrevolution gestiftet zu haben. Möge mein Heft zum Glück des Volkes beigetragen haben! Im Westfernsehen liefen derweil Berichte über die Begleiterscheinungen des Bürgerkriegs. Ich wurde vorsichtshalber in mein Zimmer abkommandiert und sah mich veranlaßt in ein Schulheft zu notieren: „In den Straßen von Havanna sind die Menschenfresser da. Das ist schrecklich für Indianer, denn der Tod ist ihnen nah.“ Naja, Indianer gibt es da nicht. Mein Vater entdeckte den mißglückten Vers – Gott sei Dank – und riß die Seite raus. Es gab die übliche Verwarnung, in der Schule ja die Klappe zu halten bzw. nur zu verzählen was die Lehrer hören wollen.

Nun sind 55 Jahre vergangen und Kuba steht etwa da, wo die DDR 1990 aufgehört hat. Abgeschnitten von der Welt ohne Ahnung wie man draußen was anfaßt. Mit einigen übriggebliebenen Cadillacs und Fords von 1960. Ganz ohne neuzeitliche Transporttechnik. Das erinnert an die gute alte Russenzeit bei uns und die sozialistische Mangelwirtschaft.

Früher brauchte man unbedingt eine Schubkarre wenn man ein Grundstück bewirtschaften wollte. Denn die Technisierung des Ostens stand noch ganz am Anfang. Es gab für private Zwecke keinen Radlader, keinen Schlepper, keinen Hochlader, es gab eigentlich nichts was Räder hatte und von alleine fuhr. Aber Schubkarren gab es schon. Allerdings nicht immer und nicht für jeden. Man konnte Steine bewegen, man konnte Mörtel oder Putz in der Schubkarre mischen, man konnte sie bei der Apfelernte und beim Mistfahren einsetzen und man konnte betrunkene Burschen in der Schubkarre nach Hause fahren, wenn Kirmse war. Der größte Spaß war es, wenn der Burschenvater mal total fertig war. So eine Schubkarre brauchte ich nun auch, denn man benutzte den Kalender von 1984 und ich wurde langsam erwachsen.

In der Kreisstadt Weimar an der Ecke Meierstraße / Pieckstraße gab es einen Werkzeugladen. Meine Freundin arbeitete in einem wasserrohrverarbeitenden Betrieb in der Meierstraße (die TGA von Frau Lammert) und so hatte sie Gelegenheit, den Laden genau zu observieren, ob Schubkarrenlieferungen zu verzeichnen waren. Nach einigen Wochen war es soweit. Kurz nach Beginn der Mittagsschließzeit wurden drei Karren abgeladen. Die Freundin bemerkte das, sah nach, daß der Laden um 15 Uhr wieder öffnete und genau zu dieser Zeit stand sie vor der Ladentüre. Es wurde pünktlich aufgetan, aber die drei Schubkarren hatten sich innerhalb von zwei Stunden in Luft aufgelöst. Nun war guter Rat teuer. Mit normalen Methoden war offensichtlich nichts zu machen. Meine Freundin schrieb deshalb eine sogenannte Eingabe an den Rat der Stadt.

Eingaben waren Bettelbriefe, die damit anfingen, daß man sich seiner Verdienste für den Sozialismus rühmte. Und in denen man der Obrigkeit wortgewaltig darlegte, daß man den Mangelartikel unbedingt brauchte. Ab der zweiten Hälfte der 80er drohte man in kryptischen Andeutungen mit dem Ausreiseantrag. Im Volk kursierte damals folgende jüdische Anekdote: Was ist der Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus? Im Kapitalismus gibt es Einnahmen und Ausgaben. Im Sozialismus gibt es Eingaben und Ausnahmen.

Der Rat der Stadt hatte mit dem Rat des Kreises Verbindung aufgenommen, und die Kreisplankommission unter Lilo Rost hatte über ein damals übliches Tauschgeschäft eine Lösung gefunden. Frau Rost trug immer eine Pistole in ihrer Handtasche und genoß deshalb Respekt. Bereits nach einigen Wochen erhielt meine Freundin die schriftliche Mitteilung, daß in der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft in Magdala eine Schubkarre eingetroffen und reserviert worden wäre. Sie rief mich sofort an, ich ließ die Arbeit stehen und liegen und machte mich froh gestimmt, aber doch etwas eilig und bang auf die Busreise nach Magdala. Letztere nahrhafte Stadt hatte damals etwa 1.400 Einwohner, ein Rathaus, ein Landwarenhaus, eine Kirche, eine LPG, einen Reparaturbetrieb für landwirtschaftliche Maschinen, das Wirtshaus „Zum Vollen Mond“, die Tankstelle Wolnitza (in welcher Mittwochs das Gemisch immer alle war), eine Eisdiele, eine Schule, einen Kindergarten und jene Bäuerliche Handelsgenossenschaft, in die eine Schubkarre geliefert worden war. Magdala war mir von diversen Kartoffeleinsätzen gut bekannt. Die mundartliche Frage eines Traktoristen habe ich noch im Ohr:“Sullich die Tuffeln vun Blänkste hulle?“, was übersetzt hieß: „Soll ich die Kartoffeln aus Blankenhain holen?“.

Auf der einstündigen Reise nach Magdala malte ich mir immer wieder aus, daß die Karre bis zu meinem Eintreffen noch entwendet werden könnte, oder daß der Rat der Stadt es sich anders überlegen könnte, weil irgendeine Missetat von mir noch ans Licht gekommen wäre. Aber die Karre stand tatsächlich im Laden, als ich eintraf. Ich bezahlte, gab das übliche Bakschisch, bedankte mich dreimal und machte mich glücklich auf den Heimweg. Die Stadt- und die Kreisregierung hatten wirksam zusammengearbeitet und nicht geknausert, es war eine besonders schöne, große und stabile Karre. Aber sie paßte deshalb in kein Auto. Ich überlegte, ob man einen Hänger besorgen solle, wen man anrufen könnte, aber die mir einfielen, hatten alle kein Telefon, und die wenigen die Telefon hatten, verfügten über keinen Hänger.

So mußte ich die Karre von Magdala nach Süßenborn schieben. Nach Mellingen waren es gute vier Kilometer im lieblichen Tal der Magdel. Man kam an mehreren Mühlen vorbei, so daß sich immer wieder ein abwechslungsreiches Bild ergab. Die Arme wurden schon etwas länger, obwohl die Schubkarre leer war. Ich erinnerte mich, daß die Alten vom Schubkarrenrennen zwischen Weißenfels und Leipzig erzählt hatten. Damals wurde mit Radeperlen um die Wette gerannt. Aber bei den hölzernen Radeperlen mußte man wenigstens nicht so breit greifen, und die waren auch leichter.

Auf den 5 Kilometern von Mellingen nach Umpferstedt mußte ich die Karre schon ein paarmal absetzen, um die Arme auszuruhen. Und die Stecke war zwischen Feldern, die bis zum Horizont reichten, auch gefühlt endlos. Von Umpferstedt nach Süßenborn wurde die Sache langsam qualvoll, ich habe länger auf dem Feldweg rumgestanden, als geschoben.

Schließlich hatte ich Süßenborn erreicht und ich kam mit stark verlängerten Armen und der Schubkarre die Kummelgasse heruntergefahren. Im ersten Haus links wohnte der Nachbar Schowald. Er stand gerade auf der Gasse und fragte mich, wo ich mit der Karre herkäme. Obwohl ich glaubte, er würde mich für verrückt erklären, rückte ich mit der Wahrheit raus. Er lächelte aber nur milde, und sagte: „Ach, hättste mir Bescheid gesagt, dann hätte ich dir die Karre gefahren“. Ja, Bescheid sagen konnte damals ohne Telefon nur der Hättich und nicht der Habich.

Arme Kubaner übrigens. Da wo wir 1990 aufgehört haben, machen die immer noch weiter. Wie lange noch? Wenn der Castro-Clan fertig hat, würde ich wieder was stiften. Dieses mal vielleicht eine Schubkarre?