Die Suche nach der Metaphysik deutscher Bosheit

Es ist mal wieder soweit: Die Medien und einige Linkspolitiker interpretieren einen Satz von Björn Höcke. Da die Redakteure sich immer wieder der Kindergartenpraxis der nicht begründeten Schuldzuweisung aus dem Ärmel heraus bedienen, und der Staatssicherheitskader Diether Dehm geklagt hat, wird über die Anschuldigungen gegen Höcke selbst und deren Beweiskraft nun ein Gericht entscheiden. Möge die blinde Justizia walten.

Zur Frage der Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz: Es ist für jeden Liberal-Konservativen eigentlich unehrenhaft von der Spitzel- und Denunziantenpartei SPD (näheres bei Don Alfonso in der FAZ am 13.1.2017, weiteres bei Tichy und Achgut) nicht beobachtet oder denunziert zu werden. Die Beobachtung ist das Gütesiegel, daß man etwas taugt. Ohne dieses Siegel muß man eigentlich vor Scham im Boden versinken. Der Kampf gegen den Antisemitismus ist in der thüringischen AfD immer geführt worden, es gibt einen Antisemitismus-Beschluß und Neueintritte werden seit längerer Zeit diesbezüglich befragt. Wenn der Thüringer Verfassungsschutz in Aktion treten will, so sollte er lieber den Jenaer Bürgermeister von der SPD durchleuchten, der in der Bewegung des Antiisraelismus immer wieder aktiv war.

Der ausgebrochene Streit um das Holocaust-Denkmal ist ein Anlaß den Schuldkult zu beleuchten. Es geht Höcke um das Holocaust-Denkmal als solches, und nicht um den Holocaust. So kann man es aus vorhergehenden Reden erschließen. Es geht um den Kult und nicht um die Schuld.

Man stelle sich mal vor, in Ankara stünde ein Denkmal für die ums Leben gekommenen Arrmenier. Oder in Paris eins für die Ermordeten der Bartolomäusnacht, hilfsweise für das Massaker in der Vendee. Am Eingang zum Forum Romanum steht der Titusbogen mit der Darstellung römischer Soldaten, jüdischer Sklaven sowie der Beute aus dem Jerusalemer Tempel: Sehen kann man die goldene Menora, die Silbertrompeten und den Schaubrottisch. Statt des Titusbogens könnte in Rom eine Leistungsschau der italienischen Betonbauer mit Symbolkraft stehen. Nicht nur wegen des jüdischen Kriegs, sondern auch wegen der Vernichtung zahlreicher keltischer Stämme. Zum Beispiel der Belgier. In Moskau müßte ein Denkmal für das Massaker von Nowgorod von der eigenen Schande künden.

Diese in Beton gegossene Selbstbefragung ist jedoch woanders als in Berlin nicht durchsetzbar. In Paris schämt man sich fragwürdiger Kollateralschäden der Revolution überhaupt nicht. Der Tag des Sturms auf die Bastille wird jedes Jahr mit militärischem Pomp gefeiert. Über die Guillotine und die Vendee geht man großzügig hinweg. In Rußland feiert man Stalins Sieg trotz der einhergegangenen Demokratiedefizite, Genickschußanlagen und Konzentrationslager. Und aus London wird jedes Jahr „Trouping the Colour“ übertragen, obwohl die Hauptwaffen unserer englischen Freunde in den Kolonien nicht nur Messer und Gabel waren. In der Türkei ist die leiseste Selbstkritik einfach undenkbar.

Weil man von den Siegern der Geschichte Selbstkritik vernünftigerweise nicht verlangen kann (und mit Rücksicht auf den Weltfrieden auch nicht verlangen sollte) kann man mit der eigenen Geschichte auch unbefangener umgehen.

Früher habe ich aus außenpolitischen Rücksichten dafür plädiert, einige Tabus nicht in Frage zu stellen. Nachlesen kann man das in „Der Bausatz des Dritten Reiches“. Das bei Amazon verfügbare Ebook hatte ich 2004/2005 geschrieben. „Die ersten 50 Jahre nach 1945 gab es hinsichtlich der jüngeren Geschichte einige rote Linien, die nicht überschritten werden durften, und das war nicht immer schlecht so. Im neuen Jahrtausend werden diese historisch bedingten Tabus in einer gegenläufigen Tendenz in immer kleinere politische Reservate zurückgedrängt.“ Übrigens nicht von der AfD (die gab es damals noch garnicht), sondern insbesondere von Müntefering und Lafontaine („Lastttiere“, „Heuschrecken“, „Fremdarbeiter“…)

Das hatte ich 2005 aufgeschrieben. Jetzt haben wir 2017. Inzwischen ist der antiaufklärerische postfaktische Friedrich Nietzsche wieder zum Szenephilosophen der Linken geworden, auf Beweisbarkeit und Rationalität wird wie nach 1900 gepfiffen. Die Regierung übt über Public-Private Partnership (die im Bauwesen bekämpft wird) Medienzensur im Stil von Dr. Goebbels aus und regierungsnahe Schlägertrupps in der Tradition der SA stürmen teils mit Eisenstangen bewaffnet auf den Straßen und Plätzen. Das Grauen vor dem schaurigen Tabu gibt es nicht mehr. An seine Stelle ist Fuchteln mit der selbstgebogenen Moralkeule getreten.

1966 bis 1968 begann der schleichende ideologische Rückweg in die deutsche Vergangenheit: Im Gefolge der Studentenbewegung erfolgte die Wiederauferstehung der totgeglaubten Lebensreform.

Die Lebensreform, die zwischen 1890 und 1945 das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben geführt und bestimmt hatte, auf deren ideologischen Krücken die politisch Lahmen und Blinden in Deutschland jahrzehntelang gehumpelt waren, konnte durch das Wirtschaftswunder nicht auf Dauer einfach wegradiert oder in den Sumpf ewigen Vergessens abgesäuft werden. Alte Kader und junge Spontis ergriffen bei der ersten Gelegenheit, nämlich während einer ersten Abflachung der Wachstumskurve ab 1965, die Chance zum kulturellen roll back. Anders als im Kaiserreich und in der Weimarer Republik regte sich jedoch immer wieder auch ernst zu nehmender Widerstand gegen die Renaissance der Jugendbewegung und der Lebensreform. Die Lehre von der Erschaffung des Neuen Menschen blieb durch die Judenvernichtung, die Euthanasie, den verlorenen Weltkrieg und den Stacheldraht an der Zonengrenze diskreditiert. Viele kulturelle Erscheinungen der Jugendbewegung und Lebensreform wie zum Beispiel der Rassismus und der Antisemitismus konnten nur mit Mühe und Verfremdungseffekten wieder aufgegriffen werden, andere Erscheinungen wie Vegetarismus, Bodenkult, Naturschutz, antidemokratische Ressentiments und Expressionismus hatten es einfacher, weil neben Tätern und Mitläufern immer auch Verfolgte der NS-Periode vorgewiesen werden konnten. Emil Nolde war so ein Beispiel: Obwohl er Mitglied der NSDAP war, wurden seine Bilder als „entartete Kunst“ abgehängt. Noch heute hängt eine Nolde-Gedenktafel in Cospeda bei Jena. War eben der gute Nazi, weil er abstrakt gemalt hat.

Die Taktik derer, welche die belastete Lebensreform und den abgewirtschafteten Idealismus wiederbeleben wollten, war denkbar einfach: Erstens die Verfolgten des NS-Regimes würdigen. Zweitens die nationalsozialistischen Nachkriegs-Wendehälse geißeln, drittens die Geschichte von hinten nach vorn neu schreiben: Beginn mit der bedingungslosen Kapitulation 1945 und Ende mit der Machtergreifung 1933. Es gab zwischen 1933 und 1945 viele Gegner und Opfer des nationalsozialistischen Schönheitsstaates, die Hitler vor 1933 auf die politischen Beine geholfen hatten.

Die Zeit vor 1933 wäre fast keimfrei gewesen, das Verhängnis begann in der Weltwirtschaftskrise als Reaktion auf die Arbeitslosigkeit. So wird es unseren Schülern im Geschichtsunterricht eingeimpft. Ich wäre fast tot umgefallen, als ich einen Blick in das Geschichtsbuch meines Jüngsten warf. Höcke muß es in seiner Geschichtslehrerausbildung übrigens auch so gelernt haben.

In der Realität gab es im Spätkaiserreich schon die „Deutsche Reformpartei“ mit der vollen Programmatik der späteren NSDAP und diese Partei schaffte es regelmäßig in den Reichstag. Der erste Weimarer Wahlbezirk, in dem ich heute wohne, entsendete 1907 auch einen dieser Abgeordneten. In einer Beamten-, Zeitungs- und Theaterstadt war das also schon Mainstream.

Wer denkt, daß die anderen Parteien des Spätkaiserreichs und der Weimarer Republik ein „antifaschistisches“ Programm hatten, der irrt. Mainstream ist eben Mainstream, auch damals war es so. Die Mischehendebatte des Deutschen Reichstags 1912 bewies das. Außer beim Zentrum war Rassismus salonfähig, auch in der SPD. Bitte die Rede von Georg Ledebour (SPD) nachlesen. Die „liberalen“ Parteien nach 1907 (Zäsur war der Tod von Eugen Richter, der neue Parteivorsitzende Naumann war Gründer des national-sozialen Vereins gewesen) waren alle nationalsozialistisch angehaucht, Die SPD verzehrte sich in Euthanasiedebatten, die USPD als Abspaltung der Parteiintellektuellen war hochinfektiös, die KPD wurde von Ernst Thälmann systematisch und absichtlich entjudet. Es gab in den Zwanzigern eine konkurrierende KPD (O) mit den rausgeschmissenen und rausgeekelten Juden. Aus der Deutschnationalen Volkspartei wurde im Laufe der Weimarer Republik eine „Bewegung“ geformt, an der Spitze ein Journalist (Hugenberg). Die linkselitäre „Weltbühne“ schoß aus allen Rohren auf das Zentrum und die SPD, aber so gut wie nie auf KPD und NSDAP. Mussolinis Faschismus wurde immer wieder gelobt. Ein Weltbühne-Probe von 1926: „Demokratie heißt: Herrschaft jeder empirischen Mehrheit; wer wollte bestreiten, daß die Mehrheit des italienischen Volkes seit langem treu hinter Mussolini steht? […] Mussolini, man sehe sich ihn an, ist kein Kaffer, kein Mucker, kein Sauertopf, wie die Prominenten der linksbürgerlichen und bürgerlich-sozialistischen Parteien Frankreichs und Deutschlands und anderer Länder des Kontinents es in der Mehrzahl der Fälle sind; er hat Kultur.“

Linke und rechte Elitaristen, natürlich voran die Schreiberlinge der „Weltbühne“, schmarotzten gleichermaßen an Nietzsche. Nietzsches Gedanken bildeten den Auftakt einer Geistesreformbewegung: Philosophie, religiöse „Erneuerung“, ethische Reform und neue Weltanschauungstheorien. Immer wieder kam er auf das Thema, die damals noch fast unerforschte Psychologie zur Herrin der übrigen Wissenschaften zu machen. Der Übermensch, die Gesundheit, Schönheit, der Elitegedanke, der Boden, die Natur, das Blut und vor allem der Krieg wurden vergötzt.

Die Genese der Lebensreform gleicht nicht nur einem Baum, wo aus einem Ideenstamm durch Verzweigung immer ausgefeiltere und differenziertere Ideen herauswuchsen,  da neben dem nietzscheanischen Hauptbaum noch andere Bäume wuchsen, wie der des Okkultismus und der des Darwinismus. Ein verwilderter Garten mit mehreren Bäumen, die faule Früchte trugen, kommt der Realität jener bunten Vielfalt schon näher, auch wenn man annimmt, daß Sprosse von verschiedenen Bäumen auf andere aufgepfropft wurden. Am Schluß der Reformgeschichte ist ein Flussgleichnis angemessener, wo viele Reformbäche in Flüsse und die großen Flüsse in den braunen Strom oder den roten Fluß mündeten. Ab 1904 ergossen sich beispielsweise Nebenarme des Marxismus und des Nietzscheanismus in den Strom des Leninismus, der Leninismus verband sich ein Jahrzehnt später mit dem traditionellen orthodoxen Etatismus zum Stalinismus. Der völkisch-ökologische, der vitalistisch-biologistische, der zünftig-korporative und der rassistisch-teutonische Waggon wurden in einem ideologischen Rangierbahnhof zum NS-Zug zusammengestellt, dessen Lokomotive mit Juden gefeuert wurde und dessen Räder auf den Schienen des Jugend- und Schönheitskults sowie des Biologismus rollten. Es bedurfte eklektizistischer Konstrukte, um zu heterodoxen Systemen zu kommen. Gerade durch den Antiempirismus, den Kult des Willens und des Gefühls wurden diese Auswüchse des Zeitgeistes erst ermöglicht.

Stanley Payne hat die lebensreformerische Kulturkrise des Fin de siècle, aus der Leninismus und Nationalsozialismus entsprangen, vorrangig in den Kernländern Mitteleuropas ausgemacht: in Deutschland, Österreich-Ungarn, Norditalien und Frankreich. Ergänzen muß man Rußland, wo Symbolismus, Brutalismus, Funktionalismus und Jugendstil durch die vielen Emigranten (wie z.B. Lenin und Trotzi) eindrangen. Der deutschsprachige Raum litt an Nietzsche und der Jugendbewegung; in Italien waren Gabriele d´Annuncio und die Futuristen aktiv, Frankreich litt spiegelbildlich am Antirationalismus und Vitalismus a la Bergson, der „violence“ eines Sorel, am Kult der Erde und des Todes (Barrès) und am Bonapartismus als frühe Führerphantasie.  Deutschland, die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns und Italien entwickelten faschistische, nationalsozialistische und rechtsautoritäre Regierungssysteme, in Rußland kam es zur elitaristischen Einmannherrschaft nach Lenins bereits 1904 entwickelter Theorie der „Partei neuen Typus“. Wir lästerten vor 45 Jahren in der Schule ab: „Partei neuen Typhus“.

Es ist verkehrt, den deutschen Reformismus als etwas Einmaliges in Europa darzustellen. Der italienische Futurismus war keinen Deut besser als der deutsche Expressionismus und der deutsche Nationalsozialismus war aus demselben Holz geschnitzt, wie der russische Bolschewismus. Deutschland ein Patent für das Böse anzuhängen, ist metaphysisch und antiaufklärerisch, leider aber auch bequem. Weil sich zu wenige gegen diesen absurden Geschichtskitsch wehren.

Sowohl was die Parteigeschichte betrifft, wie auch die heutige Programmatik, sollten alle vor der eigenen Tür kehren. Wenn ich die Programme von SPD und NPD, Grünen und NPD und AfD und NPD übereinander lege, komme ich bei SPD und Grünen auf mehr Treffer, als bei der AfD. Insbesondere die Energie-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Der Schuldkult hat in Deutschland auch ein Asymmetrie-Problem. Die Völker Ostdeutschland, also Sachsen, Thüringer, Mecklenburger, Sorben, Franken und Brandenburger haben die „Schuld“ mehr als abgesessen. 28 Jahre hinter Stacheldraht und ohne die Möglichkeit von Verwandtenbesuch. Ich hatte keine Nazi-Verwandschaft in der Familie und habe die Einsperrung nur als ungerechte Demütigung und Zurücksetzung empfunden. Und ich habe mehr als 10.000 Tage lang beschlossen, die Schmach auf Heller und Pfennig zurückzuzahlen.

2005 hatte ich geschrieben, daß es nicht immer schlecht war, rote Linien nicht zu übertreten. Weil es nach dem Krieg der Beruhigung internationaler Konflikte und der Runterkühlung nationaler Leidenschaften unserer Nachbarn diente. Inzwischen wird der Schuldkult aber immer mehr zum innenpolitischen Machtmittel. Deshalb ist es an der Zeit, ihn nicht nur in Frage zu stellen, sondern aktiv zu bekämpfen.