Halb mit den Islambrüdern geht nicht

Alle ungekrönten Staatslenker in Arabien sind sich einig: Mit den islamischen Brüdern darf man keine politischen Geschäfte machen. Genau gegen dieses Prinzip hat Präsident Erdogan verstoßen. Seit mindestens zwei Jahren hat er den Salat. Nicht einmal der Sicherheitsapparat ist loyal. Kürzlich hat ein Polizist den russischen Botschafter erschossen. Wenn es irgendwo kracht weiß er nicht: Waren es Kurden, waren es islamische Brüder oder war es der fromme Weggefährte Gülen?

Sowohl mit den ägyptischen islamischen Brüdern unter Mohammed Mursi, mit dem Islamischen Staat, mit der syrischen Nusra-Front und der Hamas pflegte und pflegt die Türkei enge Beziehungen. Obwohl es bekannt ist, daß die islamischen Brüder sehr fromm sind. Sie streiten, wie es im Koran heißt, mit Gut und Blut in Allahs Weg. Nachzulesen zum Beispiel in der Sure „Die Frauen“ im 97. Wunderzeichen.

Mit der Aufrechterhaltung einer weltlichen Macht ist das nicht kompatibel. In allen arabischen Gemeinwesen, die den Namen Staat verdienen, wird die Religion deshalb brutal unterdrückt. Die Imame bekommen von der jeweiligen Regierung vorgeschrieben, was sie Freitags zu predigen haben. Auch in der Türkei. Wer dagegen verstößt landet in den Räumlichkeiten des Geheimdienstes. Trotzdem sind im Durchschnitt der nahöstlichen Staaten 10 bis 15 % der Bevölkerung sehr korantreu.

Recep Erdogan war seit seiner Machtübernahme beschäftigt, aus dem halbwegs laizistischen Staat Türkei eine moslemische Republik zu machen. Noch derzeit sind 25 % der Bevölkerung in der Türkei wenig religiös. Es sind die Anhänger der Republikanischen Volkspartei, die den Staatsgründer Atatürk verehren. Weitere 10 bis 15 % sind stark nationalistisch gesinnt. Das sind die Grauen Wölfe. Für sie spielt das Türkentum eine größere Rolle, als der Islam. Kurden und Araber sind für sie trotz des gemeinsamen sunnitischen Glaubens Untermenschen. 10 bis 15 % der Bevölkerung sind Kurden und vertreten in der Mehrheit einen gemäßigten Islam. Etwas weniger als 50 % der Bewohner der Türkei folgen Erdogan bedingungslos bei seiner Islamisierung. In dieser fragilen Situation hat Erdogan jeden islamischen Strohhalm ergriffen, um seine Ziele zu erreichen. Mit der Gülen-Bewegung paktierte er genauso wie mit anderen frommen Strömungen im gesamten Nahen Osten.

In der letzten Freitagspredigt vor dem Anschlag auf die Sylvesterfeier am Bosporos, die vom staatlichen türkischen Präsidium für Religionsangelegenheiten geschrieben wurde, hieß es wörtlich:

„Es gehört sich niemals für die Gläubigen, zum Ende eines Jahres sich selbst und den Zweck der Schöpfung vergessend illegitime Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die keinen Beitrag fürs Leben leisten und nicht mit unseren Werten zu vereinbaren sind. Es stimmt sehr nachdenklich, wenn in den ersten Stunden eines neuen Jahres verschwenderische Silvesterfeiern begangen werden, die einer anderen Kultur entstammen.“

Nun hat es, wie von Erdogan bestellt, mal wieder richtig geknallt. Trotz der religiös motivierten Genugtuung über den Tod der Abgefallenen vom wahren Glauben ist das Attentat für Erdogan peinlich, denn wieder einmal wird der Tourismus als Einnahmequelle ruiniert und es riecht stark nach staatlichem Kontrollverlust und heraufziehenden inneren Wirren. Erdogan steht vor der Welt da wie der Zauberlehrling, der dem Besen geweihtes Wasser holen befahl, und angesichts einer beginnenden terroristischen Überschwemmung den Zauberspruch nicht parat hat, um ihn wieder stille stehen zu lassen.

In Demokraturen gibt es, um die eigene Meinung als die allein deutungsmächtige zu etablieren, regelmäßige Säuberungen. Stalin ließ erst die rechten Abweichler, dann die Trotzkisten und zum Schluß auch die huntertprozentigen Stalinisten erschießen. Hitler räumte mit der SA-Führung auf und vertrieb bzw. tötete Juden. Zum Schluß legte er sich immer mehr mit der Wehrmacht an. Merkel räumte alle Weggefährten aus dem Weg, die ihr intellektuell überlegen waren. Von Friedrich Merz, Laurenz Meyer bis Wolfgang Bosbach. Diese Säuberungen sind seit geraumer Zeit auch in der Türkei im Gange. Erst bevölkerte die kemalistische Armeeführung die Gefängnisse, in letzter Zeit kamen Gülen-Anhänger, Kurden und Zufallsopfer dazu. Nur die islamischen Brüder wurden mit Samthandschuhen angefaßt, offensichtlich auch mit Rückendeckung von Merkel und Obama.

Dieses Taktieren nützt Erdogan nichts. Denn dieselben Vernichtungsphantasien wie Erdogan haben auch die islamischen Brüder. In ihren Augen ist Erdogan ein Abtrünniger, weil er sie immer nur halbherzig unterstützt hat. Nach der reinen Lehre des Koran müßte er in Syrien und Ägypten an der Seite der Frommen ernsthaft Krieg führen, egal was es kostet. „Allah hat die, die mit Gut und Blut streiten, über die, die daheim sitzen, erhöht. Allen hat Allah das Gute versprochen, aber den Eifernden hat er vor den daheim Sitzenden hohen Lohn verheißen.“ Der in den Augen der Eiferer lauwarme Erdogan sitzt daheim in seiner Türkei und wird dafür durch Terror bestraft.

Es reicht eben nicht, wenn man die Kämpfer aus Europa nach Rakka passieren läßt, wenn man dem IS das Erdöl abkauft und ein paar Hilfslieferungen für die Hamas organisiert. Die Frommen wollen hundertfünf Prozent. Im Nahen Osten muß man sich entscheiden, ob man einen Staat regieren will, oder das Geschäft der Eiferer betreibt. Beides geht nicht. Erdogan wollte immer beides zugleich. Nun steht er unmittelbar vor der letzten Weiche. Entweder er kriegt die Kurve zurück zum staatlichen Recht oder er wählt die Zufahrt zum politischen Chaos.

Vor wenigen Wochen war ein Korrespondent am Bosporos, um die letzten Refugien der westlichen Lebensweise zu besuchen. Er erwischte gerade die Pause zwischen zwei Anschlägen. Er besuchte Bars, trank Raki, sah phantasievolle Grafitti, hatte Spaß mit westlich gekleideten lustigen Leut, besuchte den Taksim-Platz.

Er machte auch ein Foto eines Wasserwerfers. Einige Wochen später erkannte ich das Fahrzeug wieder auf einem Zeitungsfoto: Nach einem Bombenanschlag ausgebrannt.