Freie Bahn dem Tüchtigen

Nicht nur mit GEZ und EEG wird das deutsche Volk derzeit gequält, auch die IHK-Beiträge und die Mitgliedschaften in den übrigen Zwangskammern sind ein teures Ärgernis. Es handelt sich wie die folgende Recherche zeigt, jedoch nicht um ein Naturgesetz, sondern ist menschengemacht.

Zwischen 1870 und 1900 entwickelte sich Deutschland vom Agrarland zum Industriestaat. Voraussetzung dafür war die Einführung der Gewerbefreiheit. Die exemplarische Geschichte des Verschleißes von menschlichen Ressourcen durch die Zunftwirtschaft war der jahrelange Kampf des Sächsisch-Weimarischen Mechanikers und Optikers Carl Zeiss für die Zulassung seines Gewerbebetriebes. Die Etablierung seiner Firma im Jahr 1846 gelang ihm nicht zuletzt, weil er zufällig ein Patenkind des Weimarischen Großherzogs war.

In der gleichen vorrevolutionären Periode, am 17. Januar 1845 wurde die Allgemeine Gewerbeordnung mit Einführung der Gewerbefreiheit für ganz Preußen durchgesetzt. Für eine Reihe von Gewerben wurde allerdings ein staatliches Befähigungszeugnis vorgeschrieben. Dann prasselte die Revolution von 1848/49 dazwischen. Unsägliche an der romantischen Verklärung der Meistersängerzeit des Hans Sachs orientierte Handwerkeragitation setzte die Regierung unter Druck. Viele Handwerker sehnten sich nach den bequemen Regelungen der Zunftordnung zurück, nach der man einen festen Kundenstamm hatte und die Zahl der Meister limitiert war. Das Abspenstigmachen von Kunden war verboten. Um etwas Dampf aus dem revolutionären Kessel zu nehmen, erließ die preußische Regierung am 9. Februar 1849 eine Notverordnung mit Innungszwang für Bäcker, Fleischer, Müller, Weber, Bürstenbinder und Korbflechter. Die Meisterprüfung in diesen Gewerben wurde wieder eingeführt. Im folgenden Jahrzehnt lernten die Handwerker, daß die Zünfte gegen den Druck der industriellen Produzenten nichts nutzten. Die Begeisterung für die Wirtschaftsordnung des 16. Jahrhunderts flachte zeitweise ab. Bismarck nutzte seinen Erfolg in den Deutschen Kriegen 1864 bis 1866, und sein damit verbundenes hohes Ansehen, um die Liberalisierung der Wirtschaft wieder voranzubringen.

Mit der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund aus dem Jahre 1869 war Schluß mit der Behinderung wirtschaftlicher Tätigkeit. Wikipedia behauptet fälschlicherweise, daß das Gesetz in seinen Grundzügen bis heute besteht. Dabei ist den Wikipedisten jedoch ein wesentlicher Lapsus unterlaufen. Seit 1881 wurden die freiheitlichen Impulse Stück für Stück unterdrückt, 1935 wurde die Gewerbefreiheit vom Führer A. Hitler endgültig stark eingeschränkt und diese Verwässerung besteht bis heute fort. Hitler führte den Großen Befähigungsnachweis wieder ein, nämlich das Meisterstück nebst Meisterbrief, welches Fürst Bismarck in die vormarktwirtschaftliche Mottenkiste verbannt hatte. Dem in der liberalen Sattelzeit aufgewachsenen Eisernen Kanzler hätten sich die Fußnägel gerollt, wenn er geahnt hätte, wie sein Gesetzeswerk von fanatisierten Sozialisten zerstört wurde.

In den §§ 1 und 4 der Gewerbeordnung wurde eine wirtschaftliche Revolution verkündet:

„Der Betrieb eines Gewerbes ist jedermann gestattet, soweit nicht durch dieses Gesetz Ausnahmen oder Beschränkungen vorgeschrieben oder zugelassen sind. (…) Den Zünften und kaufmännischen Korporationen steht ein Recht, andere von dem Betriebe eines Gewerbes auszuschließen, nicht zu.“

Nun wird dem Kaiserreich von Nichthistorikern gewöhnlich zugeschrieben, frauenfeindlich gewesen zu sein. Das mag für die Intellektuellen des Spätkaiserreichs in Bausch und Bogen zutreffen, nicht jedoch für den Eisernen Kanzler und sein Umfeld. § 11 beweist das:

„Das Geschlecht begründet in Beziehung auf die Befugnis zum selbstständigen Betriebe eines Gewerbes keinen Unterschied. Frauen, welche selbstständig ein Gewerbe betreiben, können in Angelegenheiten ihres Gewerbes selbstständig Rechtsgeschäfte abschließen und vor Gericht auftreten, gleichviel, ob sie verheiratet oder unverheiratet sind. (…) Es macht hierbei keinen Unterschied, ob sie das Gewerbe allein oder in Gemeinschaft mit anderen Personen, ob sie dasselbe in eigener Person oder durch einen Stellvertreter betreiben.“

Auch Regelungen des Immissionsschutzes gab es schon. Der § 16 listete die entsprechenden Anlagen auf :

Zur Errichtung von Anlagen, welche durch die örtliche Lage oder Beschaffenheit der Betriebsstätte für die Besitzer oder Bewohner der benachbarten Grundstücke oder für das Publikum überhaupt erhebliche Nachteile, Gefahren oder Belästigungen herbeiführen können, ist die Genehmigung der nach den Landesgesetzen zuständigen Behörde erforderlich.
Es gehören dahin: Schießpulver-Fabriken, Anlagen zur Feuerwerkerei und zur Bereitung von Zündstoffen aller Art, Gasbereitungs- und Gasbewahrungs-Anstalten, Anstalten zur Destillation von Erdöl, Anlagen zur Bereitung von Braunkohlenteer, Steinkohlenteer und Koks, sofern sie außerhalb der Gewinnungsorte des Materials errichtet werden, Glas- und Rußhütten, Kalk-, Ziegel- und Gipsöfen, Anlagen zur Gewinnung roher Metalle, Röstöfen, Metallgießereien, sofern sie nicht bloße Ziegelgießereien sind, Hammerwerke, chemische Fabriken aller Art, Schnellbleichen, Firnisssiedereien, Stärkefabriken, mit Ausnahme der Fabriken zur Bereitung von Kartoffelstärke, Stärkegrups-Fabriken, Wachstuch-, Darmsaiten- Dachpappen- und Dachfilz-Fabriken, Leim-, Tran- und Seifensiedereien, Knochenbrennereien, Knochendarren, Knochenkochereien und Knochenbleichen, Zubereitungsanstalten für Tierhaare, Talgschmelzen, Schlächtereien, Gerbereien, Abdeckereien, Poudretten- und Düngpulver-Fabriken, Stauanlagen für Wassertriebwerke.“

Die § 18 und 19 regelten den Rechtsschutz der Anlieger:

„Werden keine Einwendungen angebracht, so hat die Behörde zu prüfen, ob die Anlage erhebliche Gefahren, Nachteile oder Belästigungen für das Publikum herbeiführen könne. Auf Grund dieser Prüfung, welche sich zugleich auf die Beachtung der bestehenden bau-, feuer- und gesundheitspolizeilichen Vorschriften erstreckt, ist die Genehmigung zu versagen, oder, unter Festsetzung der sich als nötig ergebenden Bedingungen, zu erteilen. Zu den letzteren gehören auch diejenigen Anordnungen, welche zum Schutze der Arbeiter gegen Gefahr für Gesundheit und Leben notwendig sind. Der Bescheid ist schriftlich auszufertigen und muss die festgesetzten Bedingungen enthalten; er muss mit Gründen versehen sein, wenn die Genehmigung versagt oder nur unter Bedingungen erteilt wird. (…)  Einwendungen sind mit den Parteien vollständig zu erörtern. Nach Abschluss dieser Erörterung erfolgt die Prüfung und Entscheidung nach den im § 18 enthaltenen Vorschriften. Der Bescheid ist sowohl dem Unternehmer, als dem Widersprechenden zu eröffnen.“

§ 29 ff listete die Gewerbe auf, die nicht frei waren. Dazu zählten Ärzte (Wundärzte, Augenärzte, Geburtshelfer, Zahnärzte und Tierärzte), Unternehmer von Privat-Kranken-, Privat-Entbindungs- und Privat-Irrenanstalten, Hebammen, Seesteuerleute und Lotsen, Schauspielunternehmer und Gastwirte, Gifthändler, Lotsen, Markscheider, Feldmesser, Auktionatoren sowie diejenigen, welche den Feingehalt edler Metalle oder die Beschaffenheit, Menge oder richtige Verpackung von Waren irgend einer Art feststellen.

§ 82 war gemessen an der heutigen Zeit sehr fortschrittlich, weil die Wirtschaft nicht mit Zwangskooperationen wie Kammern und Innungen gequält wurde:

„Jedes Mitglied einer Innung kann jederzeit, vorbehaltlich der Erfüllung seiner Verpflichtungen, ausscheiden und darf das Gewerbe nach dem Austritt fortsetzen. Der Ausgeschiedene verliert alle Ansprüche an das Zunftvermögen und die durch dasselbe ganz oder teilweise fundierten Nebenkassen, soweit die Statuten nicht ein Anderes bestimmen.“

Andererseits durften die Zünfte den Beitritt nicht versagen. § 84 dazu:

„Vorbehaltlich der vorstehenden Bestimmung darf der Eintritt in eine Innung Keinem versagt werden, welcher die in dem Statute vorgeschriebenen Bedingungen erfüllt hat. Bedarf es zu diesem Zwecke der Ablegung einer Prüfung, so ist dieselbe auf den Nachweis der Befähigung zur selbstständigen Ausführung der gewöhnlichen Arbeiten des Gewerbes zu richten. Die deshalb zu lösenden Aufgaben, sowie der zur Bestreitung der Prüfungskosten von dem zu Prüfenden zu zahlende Betrag, werden von der Innung bestimmt. Bevorzugungen sind dabei nicht statthaft. (…) Die Ablegung einer Prüfung kann von denjenigen nicht gefordert werden, welche das betreffende Gewerbe mindestens seit einem Jahre selbstständig ausüben.“

Keine IHK, keine Handwerkskammern, keine obligaten Meisterprüfungen, keine teuren Meisterstücke, keine Konkurrenten, die mit Hilfe der Kooperationen ihre Kollegen denunzieren und quälen. Keine Kammerpräsidenten, die sich durch ihre Tätigeit persönliche Vorteile verschaffen. Keine Künstlersozialkasse, keine Knappschaft, keine unnützen Kosten, keine ausufernde Bürokratie. Noch heute ist in unserem Nachbarland Polen der Beitritt zu Kammern freiwillig. Auch in Ungarn, Tschechien und der Slowakei gibt es keinen Zwang. Reichskanzler Otto von Bismarck hat noch heute Fans und Nachahmer, aber leider nicht in Deutschland.

Am 5. Mai 1880 gab der Reichstag dem Kanzler auf, die Innungen wieder zu stärken. Die Gewerbeordnungsnovelle von 1881 schwafelte von der Pflege des Gemeingeistes durch die Innungen, sowie der Stärkung der Standesehre. Gemeinschaftssinn und Ehre sind lobenswerte Privatgebräuche, sollten jedoch nicht durch Gesetze erzwungen werden. Die Grundlage für die spätere Etablierung der Handwerkskammern wurde gelegt, 1886 gab es in diese Richtung schon wieder eine Verschärfung. Und 1897 wurden wieder einige Zwangsinnungen etabliert. Im Unterschied zum Heiligen Römischen Reich konnten die Zünfte die Gewerbeausübung allerdings niemandem prinzipiell verbieten. Handwerkskammern als Organe der staatlichen Verwaltung wurden für Belange der Ausbildung etabliert. 1902 gab es bereits 2969 Zwangsinnungen, die Zahl der in Zünften organisierten Handwerker stieg auf 35,2 %.

In der angeblich fortschrittlichen, in Wirklichkeit aber durchweg reaktionären Weimarer Republik verschärfte sich die Hinwendung zur vorbürgerlichen Verzunftung: 1925 gab es bereits 10.387 Zwangsinnungen. 1929 unter der sozialdemokratisch geführten Regierung Müller erfolgte die Einführung der Handwerksrolle (allerdings ohne Meisterzwang) und die Ausweitung der Mitgliedschaft in der Handwerkskammer als Zwangsmitgliedschaft. Wie oben schon erwähnt: Der teure Große Befähigungsnachweis wurde schließlich 1935 wieder aus der Mottenkiste geholt. Die Zahl der Kammern erhöhte sich im Nationalsozialismus. Das Konzept der wirtschaftlichen Kooperationen gehörte sowohl zum Konzept des italienischen Faschismus wie des deutschen Nationalsozialismus.

Nach dem Zusammenbruch gingen die verschiedenen Besatzungszonen eigene Wege. In der russischen wurde fast alles verstaatlicht, in der französischen blieben die nationalsozialistischen Regelungen im wesentlichen erhalten, in der amerikanischen entfielen Zwangsverkammerung und Meisterzwang. 1954 beschloß der Bundestag wieder eine bundeseinheitliche Handwerksordnung, die auf den Regelungen von 1934/35 beruhte. Mit faschistoiden Zwangskooperationen, abzüglich des Führerprinzips allerdings.

Vieles, was der Führer durchgesetzt hatte, galt lange Zeit als nationalsozialistisch und damit „haram“. Um die Reform des Handwerks und der Freien Berufe hat der staatliche „Antifaschismus“ allerdings immer einen großen Bogen gemacht. Aus dem Grab des Führers wächst nach wie vor seine Hand mit dem Meisterbrief. Dabei ist eine Liberalisierung der Wirtschaft überfällig. Viele talentierte Handwerker haben Deutschland frustriert verlassen und sich im Ausland eine neue zunftfreie Existenz ohne Schikanen durch engstirnige Handwerksbürokraten und die damit verbundenen Kosten aufgebaut.

Die Zeit des frühen und mittleren Kaiserreiches, die Regierungsperiode des Otto von  Bismarck von 1870 bis 1890 war für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands eine Schlüsselperiode. Das lag unter anderem darin begründet, daß für die Exportwirtschaft in diesem Zeitfenster günstige Bedingungen herrschten. Anfangs wurden deutsche Produkte im Ausland nicht für Ernst genommen, „Made in Germany“ hatte zunächst einen schlechten Ruf. Als die ausländische Konkurrenz aufwachte, hatte die deutsche Fertigung hinsichtlich Menge und Qualität bereits stark aufgeholt. Die Freiheit für industrielle Talente ließ insbesondere die Zahl der Betriebe des Maschinenbaus in die Höhe schnellen. 1861 waren in 665 Betrieben 35.562 Leute beschäftigt, im Jahr 1895 in bereits 4.367 Betrieben 130.859. Freie Bahn dem Tüchtigen war der Schlüssel zum wirtschaftlichen Aufschließen Deutschlands.

Weiterführende Literatur:
Martin Will: Selbstverwaltung der Wirtschaft. Mohr Siebeck, 2010
Hubert Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland, Franz Steiner Verlag 2004