Sonnenuntergang im Willy-Brandt-Haus

Morgens begann der Schulunterricht in den 60er Jahren ungefähr einmal in der Woche mt dem Lied „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“. Alternierend mit „Ich trage eine Fahne“, „Kleine weiße Friedenstaube“ und dem „kleinen Trompeter“. Die Sonne war Aufbruchssymbol, oft auch der Sonnenaufgang, wenn man alte Propagandabilder der SPD aus der Zeit um 1900 betrachtet. Derzeit geht die Sonne für die SPD unter, es wird Nacht.

Die Geschichte der Sozialdemokraten war ein Hundertjähriger Krieg zwischen Verfechtern der Arbeiter- und der Volkspartei. Die SPD ist aktuell allerdings im Begriff zu einer der drei Parteien des akademischen Prekariats zu werden.

Im Kaiserreich hatte sie es gut. Sie war nie an der Regierung und konnte allen alles versprechen. Außer den „Ausbeutern“ natürlich. 1912 erreichte die SPD 34,8 % der Wähler und wurde im Reichstag stärkste Fraktion. Faktisch war sie damit Volkspartei, auch wenn formell noch das orthodox-marxistische Erfurter Programm von 1890 galt.

Der Görlitzer Parteitag im September 1921 trug dieser Situation Rechnung. Das damals beschlossene Programm, das überwiegend von Eduard Bernstein erarbeitet worden war, wollte Wähler auch außerhalb der bisherigen proletarischen Stammwählerschaft anzusprechen. Die SPD wollte nunmehr „Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land“ sein.

Allerdings strafte das Reichstagwahlergebnis von Juni 1920 dieses Versprechen Lügen. Die SPD landete bei unterirdischen 21,9 %. In der Praxis funktionierte das also nicht. Während man bei städtischen Angestellten in Großbetrieben meßbare Erfolge verzeichnete, bei der Kernarbeiterschaft stark blieb, brach die Basis auf dem Lande und in Kleinbetrieben in kürzester Zeit völlig weg. Das lag schlicht daran, daß die Bauern weiterhin bis 1923 Kriegswirtschaft mit nicht kostendeckenden Festpreisen betreiben mußten, um die Arbeiter der Städte kostengünstig zu ernähren. Als die Festpreise endlich abgeschafft waren, wurden die Höfe – auch die der Kleinbauern – 1924 mit einer ruinösen staatlichen Zwangshypothek belastet. Genauso die kleinen Handwerks- und Handelsbetriebe, die Ich-AGs der Weimarer Zeit. Das leitete den Krieg der kleinen Leute gegen die SPD ein, der mit der Machtübernahme sein Ziel erreichte.

Herr Landrat, keine Bange, Sie leben nicht mehr lange…
Heute nacht um Zwei, da besuchen wir Sie
Mit dem Wecker, dem Sprengstoff und der Taschenbatterie!
Das war so ein zeitgenössisches Gedicht etwa von 1927/28. Da war die NSDAP noch Kleinpartei.

Die SPD erholte sich auch nach dem Niedergang der 1916 von ihr abgespaltenen Intellektuellenpartei USPD nicht wieder. Im Mai 1924 erzielte sie 20,5 % bei den Reichstagswahlen, im Dezember desselben Jahres 26 %. Sie erreichte die Vorkriegszustimmung nicht mehr und kehrte nach dem Tod von Reichspräsident Ebert im Februar 1925 frustriert zum orthodoxen Marxismus zurück. Das Heidelberger Programm von 1925 begann mit den Worten:

„Die ökonomische Entwicklung hat mit innerer Gesetzmäßigkeit zum Erstarken des kapitalistischen Großbetriebes geführt, der in Industrie, Handel und Verkehr immer mehr den Kleinbetrieb zurückdrängt und seine soziale Bedeutung verringert. Mit der immer stärker werdenden Entfaltung der Industrie wächst die industrielle Bevölkerung ständig im Verhältnis zur landwirtschaftlichen. Das Kapital hat die Massen der Produzenten von dem Eigentum an ihren Produktionsmitteln getrennt und den Arbeiter in einen besitzlosen Proletarier verwandelt.“

Die Partei hatte sich in der zweiten Hälfte der 20er Jahre auf die Interessenvertretung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter der Großbetriebe fokussiert. 1933 hatte sie, abgedrechselt auf diesen treuen Kern noch 18,4 % Wähler. Die Kleinbauern, die proletaroiden Existenzen in den Kleinbetrieben, die Einzelkämpfer merkten ganz schnell, daß sie abgemeldet waren. Die Vergessenen trafen sich erst in Landbünden und Mittelstandsparteien, zum Schluß in der NSDAP. Nach 1933 war für die SPD zwölf Jahre Sendepause.

Nach dem Krieg erfolgte der „Neubeginn“ mit dem marxistischen Heidelberger Programm von 1925 wieder als Arbeiterpartei. Bis Ostern 1966 hatte die SPD zwanzig Jahre lang den Vorteil im Bund nicht regieren zu müssen. Wieder konnte man jedem alles versprechen. Das Godesberger Programm faßte das 1959 in Worte.

Der Weg nach Godesberg wurde durch das Einsickern von Intellektuellen aus der Jugendbewegung in die Partei begleitet, ja teilweise erst ermöglicht. Hauptredakteur der Programmarbeit der 50er Jahre war Willi Eichler, ein wegen Sektierertum 1925 aus der SPD ausgeschlossenes Mitglied des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes von Leonard Nelson, einem elitären Eskapisten. Um die Herkunft dieser Neumitglieder aus den Sekten der Weimarer Republik zu illustrieren, habe ich exemplarisch mal die Biografie von Fritz Borinski aus dem sogenannten Leuchtenburgkreis rausgefädelt: Er wurde 1903 in Berlin geboren, studierte Rechtswissenschaften und Geschichte. Es folgte eine steile Lehrerkarriere, die im Herbst 1931 von einer Assistenz für freie Volksbildung an der Universität Leipzig gipfelte, im Sommer 1933 wurde er aus politischen und rassischen Gründen entlassen; Ostern 1934 nach England emigriert. 1947 Rückkehr nach Deutschland. Leiter verschiedener Volkshochschulen. 1956-70 Professor für Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Bis 1965 Mitglied des „Deutschen Ausschusses für Erziehungs- und Bildungswesen“. 1920-23 Jungdemokrat (freideutscher Flügel, also ziemlich „rechts“), 1924 Gründung des Leuchtenburgkreises (das Umfeld der Leuchtenburg war „völkisch“), 1928 Deutsche Freischar. 1928 SPD, 1947-65 Mitglied des Kulturausschusses beim Parteivorstand der SPD.

Die Studienräte traten übrigens in Massen in die SPD ein. Das war der Anfang des personellen Umbruchs in der Partei, die konsequent zur Übermacht der Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaftler führte. Die Lehrer waren das Bindeglied, das missing link zwischen der Arbeiteraristokratie der Nachkriegszeit und dem heutigen Universitätsprekariat. Einerseits verbreiterten die Eintritte von Reformisten das Spektrum der SPD; die unumschränkte Herrschaft der Exproletarier über die Partei wurde erst gemildert und dann gebrochen. Gerhard Schröder, der Sohn einer Raumpflegerin, und Kurt Beck als Elektriker bei der Bundeswehr waren die letzten Mohikaner der Arbeiterschaft in der SPD. Beck wurde von den tonangebenden pseudoelitären Kreisen des Staatsfernsehens nur gedisst. Auf Grund seiner Provinzialität, auf Grund seines altmodischen Meggischnitts und auf Grund seines Herkommens: unzeitgemäßer Scheiß-Prolet, so wurde er unentwegt dargestellt.

Bereits ein Parteitagsbeschluss von 1954 enthielt erste Anzeichen des wachsenden Desinteresses am Arbeiter:

„Die Sozialdemokratie ist aus einer Partei der Arbeiterklasse, als die sie erstand, zur Partei des Volkes geworden. Die Arbeiterschaft bildet dabei den Kern ihrer Mitglieder und Wähler.“

Den wirtschaftspolitischen Abschnitt des 54er Beschlusses hatte der frühere Nationalsozialist Karl Schiller maßgeblich beeinflusst, der nach 1945 unter dem Einfluß von Ludwig Erhards Erfolgen erste marktwirtschaftliche Lockerungsübungen machte: Seine griffige Formel „Soviel Markt wie möglich, soviel Planung wie nötig“ leitete den Unterabschnitt über „Planung und Wettbewerb“ ein. Über Sozialisierungen wurde nicht mehr gesprochen.

1959 wurde in Godesberg dann endgültig der Schritt zur Volkspartei gemacht: „Früher „Ausbeutungsobjekt der herrschenden Klasse“, habe der Arbeiter in Jahrzehnten dabei seinen anerkannten Platz als gleichberechtigter Staatsbürger erstritten. Der Kampf der Arbeiterbewegung sei ein Kampf für die Freiheit aller gewesen. Aus diesem Grund sei die Sozialdemokratie „aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden“.

Danach begann der Marsch der 68er durch die Institutionen, und auch durch die SPD. Bis etwa 2005 hatte die Partei noch Interesse an Löhnen, Lohnnebenkosten und der Sicherung von Arbeitsplätzen durch Industriepolitik. Ich erinnere mich als Kind im Westfernsehen gesehen zu haben wie der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn wie ein Löwe für die Rhönautobahn kämpfte, so wie er vormals die VW-Ansiedung in Nordhessen vorangetrieben hatte. Andere verausgabten sich an der Kohlefront und verteidigten die dortigen Arbeitsplätze mit religiösem Eifer. Bundesverkehrsminister Georg Leber (von den Arbeitern der Leber-Schorsch genannt) umgab seinen Heimatwahlkreis in Mittelhessen statt mit einer Festungsmauer mit einem doppelten Autobahnring. Schröder arbeitete an den Lohnnebenkosten und flankierte den Wiederaufstieg von VW.

Seither beschäftigt sich die SPD nur noch mit Orchideenthemen: Gender, Feminismus, dritten Geschlechtern und gehört der Klimasekte an. Das akademische Proletariat gibt den Ton an. August Bebel, bis 1913 Parteivorsitzender, hatte als Drechsler auf manche Dinge einen klaren Blick:

„Deutschland ist das klassische Land, das diese Überproduktion an Intelligenz, welche die bürgerliche Welt nicht zu verwerten weiß, auf großer Stufenleiter schafft.“

Kann man die heutige Herrschaftsschicht treffender charakterisieren? Diese Überproduktion an Indoktrination und Beschränktheit bestimmt mit oder ohne geplante Schrumpfkoalition mit Frau Dr. Merkel den Kurs der SPD. Auf den ersten Blick ist für den Außenstehenden unklar, warum sich die SPD mit Grünen und Linken den überschaubar großen soziologischen Kuchen der sog. „Geisteswissenschaftler“ teilen will. Und ihre ehemalige Kernklientel aufgegeben hat. Nach näherem Hinsehen wird das jedoch klar. Die SPD tanzt wie auch CDU, Grüne und Linke nach der Pfeife der Medien.

Früher gehörten der SPD fast alle deutschen Zeitungen (außer Springer und FAZ), das ist inzwischen Vergangenheit. Eine nach der anderen wurde verkauft. Heute hat sie nur noch viele Sitze in den Rundfunkbeiräten. Auch die werden auf Grund von schlechten Wahlergebnissen zusammenschmelzen, wie der Schnee in der Märzensonne. Die SPD gibt medial nicht mehr den Takt an, die Kanalarbeiter sind längst grün und dunkelrot. Das haben Nahles, Schulz und Scholz noch nicht wirklich geschnallt.

Die AfD hat sich von Anfang an von den Medien klar abgesetzt (Lügen- bzw. Lückenpresse), die FDP macht das jetzt halbherzig, indem sie die journalistischen Dreckkübel passiv verharrend in Kauf nimmt, seitdem sie Jamaika gekündigt hat. Und auch die SPD hätte wieder eine Chance zu wachsen, wenn sie selbst bestimmen würde, was sinnvoll anzustreben ist. Und die Politik nicht den Medienzaren überläßt, die nur Zielkonflikte produzieren. Jüngstes Beispiel die Vernichtung der Kraftwerkssparte von Siemens durch das EEG, welches von den Sozialdemokraten auf Druck der Rundfunkanstalten beschlossen wurde. Aber von der Rückgewinnung der politischen Initiative ist die alte Tante SPD weit entfernt.

Die SPD könnte die CDU in den anstehenden Sondierungen mühelos rechts überholen und bei anschließenden Neuwahlen ihre Konkurrenten marginalisieren. Wenn die SPD den Familiennachzug verhindern würde, hätte sie die Mehrheit der arbeitenden Menschen auf ihrer Seite. Aber sie kuscht vor den Medien.  Es fehlt der Kampfgeist aus der Zeit des Sozialistengesetzes 1878 bis 1890. Den hat jetzt notgedrungen die von den Sozialdemokraten verfolgte AfD. Der Übertritt des Bergmanns Guido Reil von der SPD zur AfD ist ein MENETEKEL.