Der Tod der SPD begann schon 1900

Die Zerstörung der Sozialdemokratie hat nicht wie vielfach behautet, 1968 begonnen, sondern bereits in der „guten alten Zeit“ um 1900. Der lebensreformerische Elitarismus hat die Partei in mehreren Schüben befallen und ist zum zweiten Mal im Begriff sie zu töten. Im und nach dem Ersten Weltkrieg kam es zur Abspaltung des intellektuellen lebensreformerischen Flügels, 1922 zur Teil-Wiedervereinigung. Nach 1945 erfolgte eine Besinnung auf die Gründungsimpulse, bis das von den Medien vielgelobte Godesberger Programm die Tore für alle möglichen Spinner weit öffnete. Die Nachkriegsgestalten der SPD, wie der hessische Ministerpräsident Zinn kämpften für die Verbesserung der Lebensbedingungen der kleinen Leute, sie siedelten Industrie an, Zinn kämpfte wie ein Löwe für die Rhönautobahn. Heute wäre er in der SPD ein Fremdkörper wie Sarrazin. Man würde seinen Ausschluß verlangen.

Vor der Entstehung der sozialdemokratischen Bewegung gab es eine romantizistische Spezies antikapitalistischer Ressentiments, die durch den später entstehenden Marxismus nie wirklich verdrängt wurde. Diese Voreingenommenheiten waren vorbürgerlich-zünftig motiviert. Ein Beispiel für diesen vorsozialistischen Antikapitalismus ist das Kunstmärchen „Das kalte Herz“ von Wilhelm Hauff. Hauff starb 1827, und kurz nach seinem Tod wurde das Märchen veröffentlicht. Es entstand am Vorabend der Industrialisierung und ist deshalb mehr eine Reflexion der Auflösung der alten Handwerksordnung, als eine Anklage gegen die moderne Industriegesellschaft. Zwei Geister streiten um den Kohlenmunkpeter. Das Glasmännlein als Vertreter der traditionellen Werte und der Holländer Michel als Patron der Holzfäller und Handelsherren.

„Seitdem wir diesen Handel haben, seitdem die Schwarzwälder Leute kölnische Pfeifen tragen, seitdem sie ihren eigenen Wald, ihre eigenen Bäume bis nach Holland verkaufen, seitdem sind die Menschen schlecht geworden.“

Das war Hauff´s Resumee der neuen Zeit. Und mit dieser Vermutung der handelsbedingten und marktwirtschaftlichen Charakterverschlechterung argumentieren die Kapitalismuskritiker noch heute, die unschuldige Beamtenwirtschaft wird der schmutzigen Welt der Privatinteressen gegenübergestellt und für die Infantilisierung der Welt geworben.

Der Hauptstrom dieses vorsozialistischen Antikapitalismus mündete zunächst auch in konservative Ideologien. Alle konservativen Parteiprogramme des 19. Jahrhunderts und die zeitgenössische politische Ökonomie der Romantik und der Historischen Schule waren damit regelrecht überfrachtet. Ein anderer Strom ergoß sich über die Gesellenvereine der 30er und 40er jahre in die frühe sozialistische Bewegung. Ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts begann die sozialistische Agitation. Die frühen sozialistischen Ideen der 40er Jahre hatten massive Abgrenzungsprobleme zur Zunftromantik, was durch die physische Nähe der Frühproletarier zu Handwerksgesellen bedingt war. Zunächst folgte diese Bewegung den ausgetretenen Spuren des Romantizismus, bis Karl Marx diese Ideen als reaktionär brandmarkte und einen Kult des Siegs der industriellen nichthandwerklichen Arbeit und des industriellen Fortschritts über das Handwerk predigte. Dieser von Marx errichtete Altar des Industrialismus war das spezifische des Kommunismus gegenüber den vormarxistischen Zunftlern.

Karl Marx mochte sich um seinen Kult des Industrialismus mühen, wie er wollte; tendenziell blieben die Gewerkschaften immer Abbilder der alten Gesellenherrlichkeit mit dem Leitbild des blauen Montags; so wie die ständischen Handwerker in ihren Kammern, Innungen, Genossenschaften und Mittelstandsparteien die alten Zunftträume weiterträumten. Auch in den Arbeiterbildungsvereinen der 50er Jahre war die Trennung in marxistische Vorstellungen und Ideen der alten Gesellenvereine noch nicht wirklich Geschichte. Nur die marxistische Lehre wollte in eine neue kapitalbasierte industrielle Zukunft durchstarten, um aus diesem gedachten Zwischenzustand heraus den Sozialismus zu errichten. An der von Karl Marx errichteten Pagode des Industrialismus opferten im 20. Jahrhundert weniger die fortgeschrittenen Industriearbeiter Amerikas, Frankreichs und Englands, sondern russische und chinesische Bauern, die jahrhundertelange Staatssklaverei gewohnt waren und nun Entwicklungsdiktaturen errichteten.

Auf der einen Seite überwog in den 60er Jahren des 19. Jahrhundters der Marxismus in der deutschen Arbeiterbewegung, der auf die Masse setzte, auf der anderen Seite erstarkten langsam und beständig aber auch elitaristische Gesellschaftskonzepte, die  wie von Lenin in Schwabing ausgearbeitet die straffe Führung der Arbeiterklasse ersehnten. Später radikalisierten sich die Vorstellungen vom Führertum weiter, lösten sich von der Arbeiterschaft ab und betrafen die ganze Gesellschaft.

Während die SPD auf den Zukunfsstaat wartete und Karl Marx jahrzehntelang am „Kapital“ bosselte blieb die Zeit nicht stehen. Als Marx 1867 den ersten Band des „Kapitals“ veröffentlichte, lernten sich Nietzsche und Wagner kennen, im Jahr der Erscheinung des zweiten Bandes 1885 schrieb Nietzsche den „Zarathustra“ und als endlich der dritte Band 1894 auf den Markt kam, hatte Fidus die erste Fassung des „Lichtgebets“ fertiggestellt. Nach 1860 entstanden eindeutig nichtsozialistische Reformideen wie am Fließband. Die Nietzscheanische Lebensphilosophie, das Wagner´sche Gesamtkunstwerk, die Steinersche Lehre, der Jugendstil, der Symbolismus, die Wanderei, der Ausdruckstanz, die Nacktbaderei, die Reformkost und ähnliche Weltverbesserungsiseen.

Die Sozialdemokraten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik repräsentierten den sozialistischen Antikapitalismus, der als Antikapitalismus von Lohnabhängigen oft gemäßigter ausfiel, als der Antikapitalismus von vorbürgerlichen handwerklichen oder landwirtschaftlichen Interessen. Und das lag daran, weil die SPD den industriellen Fortschritt symbiotisch für ihr eigenes Wachstum und die revolutionäre Perspektive benötigte, während die Zunftler ihn brutal stoppen wollten. Beide Seiten bekamen historisch nicht Recht: Das Handwerk überlebte entgegen den Prognosen von Marx allen technischen Fortschritt; die Industrie wurde was die Zahl der Beschäftigten betrifft, genauso wie die Landwirtschaft immer weiter zurückgedrängt durch Dienstleistungen und ein Ausufern staatlicher Funktionen.

Der Antikapitalismus, der Antiklerikalismus, das voluntaristische Menschenbild, das zum Neuen Menschen tendierte, die Licht- und Sonnensucht einschließlich Sport sowie ein bis zu einem gewissen Grade tolerierter Nationalismus, zum Beispiel in der Polen- oder Kolonialpolitik waren Berührungspunkte der Sozialdemokratie zur nichtsozialistischen Reformbewegung. In den 60er und 70er Jahren war die Distanz zwischen „bürgerlichen“ und „sozialistischen“ Anschauungen eher gewachsen, danach verringerte sie sich wieder. Ein deutliches Anzeichen der Annäherung zwischen dem bürgerlichen und dem sozialdemokratischen Reformismus waren zum Beispiel die Reichstagswahlen von 1912, wo die SPD mit der nationalsozialen Fortschrittspartei im zweiten Wahlgang zahlreiche Bündnisse abschloß.

Wie wir sehen werden, blieb die Sozialdemokratie vom reformistischen Zeitgeist nicht verschont. Das eigentliche marxistische Industriearbeitermilieu repräsentierte die SPD, die an der von Karl Marx und August Bebel geprägten Vorstellungswelt – dem Reifen der Produktivkräfte und der Umwandlung der Produktionsverhältnisse in sozialistische – in wesentlichen Fragen festhielt. Es entstand jedoch schon vor 1900 ein lebensreformerisch beeinflußter Flügel, der sich im Weltkrieg zur schillernden USPD abspaltete. Zum SPD-Milieu der Kaiserzeit gehörten Randgruppen der Lebensreform der Jahrhundertwende, die arbeiterspezifisch sind: Arbeitersportler, Kleingärtner und sozialistische Freidenker. Zunächst drangen vor allem biologistische und viltalistische Lehren, die um den Sozialdarwinismus kreisten, in die Partei ein. Bereits Bebel mußte sich zu seinen Lebzeiten immer wieder mit Sozialdarwinisten auseinandersetzen, sowohl außerhalb, aber auch innerhalb der Partei. Euthanasie wurde von zahlreichen Delegierten der SPD-Parteitage immer wieder gefordert. Nein es waren keine Delegierten, es waren überwiegend DelegiertInnen, die dahin wollten.

Fast gleichzeitig bildete sich in der SPD ein demokratischer Flügel, der im Parlamentarismus sein Heil suchte. Eduard Bernstein hatte in seinem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ bereits 1899 den Finger auf die wunde Stelle der SPD gelegt:

„Ihr Einfluß würde ein sehr viel größerer sein, als er heute ist, wenn die Sozialdemokratie den Mut fände, sich von der Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist, eine demokratisch-sozialistische Reformpartei.“

Seine Feststellung resultierte aus der Analyse, dass die gesellschaftlichen Prognosen des Marxismus sich nicht bewahrheitet hätten, dass der Kapitalismus flexibler wäre als von Marx geahnt. Genauso wie Bernstein verzweifelten viele Sozialdemokraten am Ausbleiben der Revolution und suchten nach Ursachen und Moglichkeiten, die ersehnte Revolution doch noch ins Werk zu setzen. Zwischen dem doktrinären Marxismus mit der unbestimmten Vision des naturgeschichtlich notwendigen Hineingleitens in den sozialistischen Zukunftsstaat und dem Revisionismus mit seiner dezidierten Festlegung auf den parlamentarischen Weg hin- und hergerissen, konnte die SPD weder die eine revolutionäre, noch die andere evolutionäre Seite ganz befriedigen, nicht einmal zwischen 1916 und 1922, als sich die stärker reformistischen Sozialdemokraten abgespalten hatten.

Die Weigerung August Bebels, sich über die revolutionären Methoden tiefe Gedanken zu machen, hatte natürlich einen Grund. Bebel war im tiefsten Herzen einer der letzten Marxisten. Und als solcher machte er sich im Gegensatz zu Lenin keine Gedanken um die Führungsfrage in der Revolution. Nach Karl Marx erfolgt die soziale Revolution naturgesetzlich durch die Masse, wenn die revolutionären Früchte unter der Sonne der Produktivkraftentwicklung reif geworden sind. August Bebel glaubte an dieses Erntemärchen.

Eine Mittelstellung zwischen Revisionisten, die auf die evolutionäre Erringung der parlamentarischen Mehrheit setzten und August Bebel, der auf das Fallen des reifen sozialistischen Apfels vom herbstlichen Baume des Kapitalismus wartete, nahm Rosa Luxemburg ein. Wie die Revisionisten hatte sie begriffen, dass der Apfel sich mit seinem Stiel fest an den Baum klammerte, daß er nicht von alleine fallen würde, dass er gepflückt werden müsse; wie Bebel hielt sie aber an dem Glauben an eine Revolution durch die Volksmassen fest. Wie konnte man die Revolution durch die Massen herbeiführen? Rosa Luxemburg warb auf Parteitagen und in Wahlkämpfen immer wieder für den politischen Massenstreik, den Generalstreik.

„Wenn man sieht, welch reges Interesse das Problem des Massenstreiks bei den Parteigenossen findet, wird man nicht annehmen können, dass die ganze Diskussion von einigen Anhängern der Massenstreikidee aufgebracht worden ist. Einer so allgemeinen Diskussion müssen doch Ursachen zugrunde liegen, die in den Verhältnissen wurzeln. Solche Diskussionen entstehen immer, wenn die Partei das Bedürfnis empfindet, die Bewegung einen bedeutenden Schritt voranzutreiben, und wenn den Parteigenossen zum Bewusstsein kommt, dass wir mit den bisherigen Methoden des Klassenkampfes nicht weiterkommen…. Massenstreiks können erst eintreten, wenn die historischen Vorbedingungen dafür gegeben sind. Sie lassen sich aber nicht auf Kommando machen. Massenstreiks sind keine künstlichen Mittel, die angewandt werden können, wenn die Partei ihre Politik verfahren hat, um uns dann von heute auf morgen aus dem Sumpf zu ziehen.“

Wenn man diese Gedanken liest, so drängt sich auf, dass Frau Luxemburg an dem Marxschen Gedanken der revolutionären Massenbewegung im Gegensatz zu Lenins Elitedoktrin und im Gegensatz zum Revisionismus der Gewerkschaftsführung festhalten wollte; dass sie Marxens Theorie „retten“ wollte. Letztlich konnte sie ihr Konzept weder in der revisionistischen SPD noch in der elitaristischen KPD durchsetzen. Sie scheiterte tragisch als Einzelkämpferin an der Weltfremdheit der Marxschen Utopie und ihrem sturen und konsequenten Festhalten daran. Eine Wiedergängerin ist Sahra Wagenknecht, die auch retten will, was nicht mehr zu halten ist.

Während Karl Marx immer wieder die Furcht der Bourgeoisie vor dem Krieg opulent darstellte, die zu erwartenden ökonomischen Verluste und das vorhergehende Sinken der Kurse an der Börse beschrieb, trieb Rosa Luxemburg Wasser auf die Schaufeln der idealistischen teutonischen Mühle:

„Wo war denn auch der Dreibund, als es galt, den Frieden zu erhalten, als eine Dreibundmacht Tripolis überfiel oder als Österreich Bosnien und die Herzegowina überfiel? Es ist eine alte Binsenweisheit, dass, wo zwei oder drei kapitalistische Staaten die Köpfe zusammenstecken, es sich immer um die Haut eines vierten kapitalistischen Staates handelt.“

Diese Lehre vom kapitalistischen Krieg gewann trotz ihrer Falscheit, oder gerade wegen ihrer Falschheit, zahlreiche Anhänger, insbesondere in der Arbeiterbewegung und nach der deutschen Niederlage auch in der expressionistischen Schickeria. Beim Thema der Kriegsschuld bzw. der Kriegsursachen vertrat ein Großteil der SPD antimarxistische Positionen, trieb die Arbeiterbewegung den deutschen Idealismus an, bereitete so langfristig den Sieg reformistischer Überzeugungen vor und hob die Grube aus, in welche Hitler die SPD stürzen sollte. Die SPD definierte sich in ihrer Frühgeschichte als historischer Erbe des industriellen Kapitalisten und des industriellen Kapitalismus. Mit der Wandlung des Kapitalismus, mit dem Beschreiten des deutschen korporatistischen Wegs des Kapitalismus ab 1890, geriet die SPD logisch in eine ideologische Schieflage. Die industriellen Kapitalisten waren nicht mehr herrschend, also konnte man sie nicht beerben. Mit dem faktischen Ende des Kapitalismus im Ersten Weltkrieg sollten auch die SPD und die Arbeiterbewegung in eine tiefe Identitätskrise geraten. Der Widerpart der SPD war in seiner reinen von Marx beschriebenen Form abhanden gekommen, die sozialistische Wunschwelt geriet mit aus den tradierten Angeln und stand vor der Aufgabe, sich völlig neu definieren. Diese Definition sollte nicht gelingen, weil die Zeichen der Zeit völlig falsch gedeutet wurden.

Im Görlitzer Programm von 1921 sollte sich die SPD ausdrücklich auf das parlamentarische System einlassen. Eduard Bernstein, der 1919 aus der USPD ausgeschlossen worden war und in die SPD als verlorner Sohn wieder aufgenommen wurde, drückte dem Görlitzer Programm den parlamentarischen Stempel auf. Mit der Formulierung: die SPD sei die Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land schien sie sich zu öffnen; in der Praxis wurde jedoch eine harte Klientelpolitik zugunsten städtischer organisierter Arbeiter gefahren. Die übrigen proletaroiden Existenzen wurden dem politischen Gegner überlassen. Die Landarbeiter und Kleinbauern, die nicht organisierten Arbeiter der Kleinbetriebe, die Kleinunternehmer, die Gerhard Schröder „Ich-AG“ taufte. Hier und bei der gezielten Förderung monopolistischer Wirtschaftsstrukturen liegt das Versagen der SPD in der Weimarer Zeit. Die Interessen vieler kleiner Leute wurden übergangen. Der schlimmste Fehler war die Beibehaltung der Preisbindung für landwirtschaftliche Produkte nach dem Ersten Weltkrieg, was Landarbeiter und Kleinbauern zu natürlichen Feinden der SPD machte.

Um die Rolle der Sozialdemokratie zu verstehen, muß auch ein Blick auf das unterschiedliche Verhältnis der Reformsandalen und der Sozialdemokraten zum technischen Fortschritt geworfen werden. Unter dem Einfluß Nietzsches, der Denkmalpflerger, Heimatschützer und Tierschützer war die bürgerliche Reformbewegung der Kaiserzeit flächendeckend technikkritisch. Aus dem Industrialismus von Marx ergab sich dagegen logisch ein entspanntes Verhältnis der SPD zu Maschinen, Bauten und modernen Verkehrsmitteln. Allerdings nur bis zum Godesberger Parteitag.

In ihrer kindlichen Einfalt sehr zum Herzen gehende Beschreibungen der sozialdemokratischen Reformvorstellungen findet man in „Die Frau und der Sozialismus“ von August Bebel. Die erste Auflage erschien bereits 1878. Die sozialdemokratischen Vorstellungen sind älter als die der Lebensreform und sie gehen oft in eine völlig andere Richtung. Während die saturierte Lebensreform die vollkommene Natur in den Gegensatz zum sinnlosen Fortschritt setzte, hatte die Sozialdemokratie ein fortschrittliches Bild.

„Es müßten großartige und umfassende Bodenmeliorationen, Bewaldungen und Entwaldungen, Be- und Entwässerungen, Bodenmischungen, Terrainänderungen, Anpflanzungen usw. vorgenommen werden, um den Boden zu höchster Ertragsfähigkeit zu bringen.“

Goethe´s „Faust“ läßt grüßen: den faulen Sumpf auch abzuziehn wäre das Höchsterreichte. Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Natur war bis zu Helmut Schmidt und Holger Börner ein sehr praktisches, das vom Glauben an die Machbarkeit der Umgestaltung der Natur durchdrungen war. Ganze Seiten aus Bebels Hauptwerk referieren den neuesten Stand der Naturwissenschaft, immer um zu behaupten, daß nach der Enteignung der Privateigentümer der technische Fortschritt endlich einschränkungslos genutzt werden könnte, um die Nahrungsproduktion zu steigern und alle anderen Gebrechen der Gesellschaft zu heilen.

„Neben der Sozialwissenschaft bilden das weite Feld der Naturwissenschaften, die Gesundheitslehre, die Kulturgeschichte und die Philosophie das Arsenal, dem die Waffen entnommen werden.“

Selten haben Arbeiter, die körperlich arbeiten mussten, oder Landwirte die Technik verflucht. Ein Eldorado der Technikbegeisterten wurde die Sozialdemokratie, das der nichtsozialistischen Reformkundschaft mit ihrer überwiegend auch technikkritischen Haltung wurden die Heimatschutzverbände und Antisemitenvereine.

Es ist hier interessant zu lesen, wie Bebel die Entstehung der nichtmarxistischen Reformer herleitet. Die vielen deutschen Kleinstaaten hätten zu einem im internationalen Vergleich überdimensioniert ausgebildeten Beamtenapparat geführt und zu einer überdurchschnittlichen Zahl von über das ganze Gebiet verteilte Kunstschulen und Kultureinrichtungen. Mit der Gewerbefreiheit anläßlich der Bismarck´schen Reichseinigung wären die Existenzgrundlagen des bis dahin ungemein zahlreichen Handwerker- und Kleinbauernstandes zerstört worden.

„In diesem Verzweiflungskampf suchen viele möglichst Rettung in der Veränderung des Berufs. Die Alten können diesen Wechsel nicht mehr vollziehen, Vermögen können sie in den seltensten Fällen ihren Kindern hinterlassen, so werden die letzten Anstrengungen gemacht und die letzten Mittel aufgeboten, um Söhne und Töchter in Stellungen mit fixem Einkommen zu bringen, wozu ein Betriebskapital nicht nötig ist. Dies sind die Beamtenstellen im Reichs-, Staats- und Kommunaldienst, das Lehrfach, der Post- und Eisenbahndienst, die höheren Stellen im Dienst der Bourgeoisie….., ferner die sogenannten liberalen Berufe: Juristen, Ärzte, Theologen, Schriftsteller, Künstler, Architekten, Lehrer und Lehrerinnen usw. Tausende und Abertausende, die früher einen gewerblichen Beruf ergriffen hätten, sehen sich jetzt, weil keine Möglichkeit zur Selbständigkeit und einer auskömmlichen Existenz mehr vorhanden ist, nach irgendeiner Stellung in den erwähnten Berufen um. Alles drängt zur höheren Ausbildung und zum Studium. (….) Diese Jugend wird zur Kritik an dem Bestehenden herausgefordert und gereizt und hilft die allgemeine Zersetzungsarbeit wesentlich beschleunigen.“

Bebel nahm an, daß alle, die er zum Gelehrten- und Künstlerproletariat rechnete, sich der Sozialdemokratie anschließen würden. Zum kleinen Teil ging diese Hoffnung auf, zum großen Teil aber eben nicht. Es bildete sich eine antisozialdemokratische, antimarxistische, antikapitalistische, antiklerikale, antiindustrielle und fortschrittsskeptische Bewegung, eine Neue Mitte, die die von Bebel hochgeschätzte Zersetzungsarbeit leistete, ohne sozialdemokratisch zu sein. Und wenn sie sozialdemokratisch war, so war dies oft nur eine Zwischenstation auf der Abdrift in die USPD, später in die KPD und in die NSDAP.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts gärte es unter der Oberfläche der sozialdemokratischen Parteifassade. Nachdem es schon vor 1914 mühsam zugekleisterte Risse gab, was den Weg zum Sozialismus betraf, kam es nach dem Kriegsausbruch zum Disziplinbruch des reformistischen Flügels. 1915 verweigerten etwa 20 Abgeordnete die Zustimmung zu den Kriegskrediten, 1916 wurden sie aus der Partei ausgeschlossen. Die Ausgeschlossenen bildeten 1917 die USPD. Dadurch, daß die Spaltung sich aus dem Anlaß der Ablehnung der Kriegspolitik entwickelte, wurde die Affinität der USPD zu ideologischen Modeströmungen verdeckt. Die USPD ein Gemischtwarenladen, in dem äußerste revolutionäre Militanz, Pazifismus und Revisionismus, recht und schlecht miteinander auskamen. Das forderte Austritte und Ausschlüsse heraus, zum Schluß die Spaltung. Der Revisionist Bernstein beispielsweise wurde 1919 wegen rechten Abweichungen ausgeschlossen, Liebknecht und Luxemburg war die Partei wiederum nicht revolutionär genug, sie gründeten erst Spartakus und zum Schluß auf Geheiß der Moskowiter Kommissare die KPD.

Man kann natürlich die Frage stellen, ob die marxistische Ideologie als egalitärer Traum nicht größeren Massenanhang hatte, als die elitäre und deshalb weniger massenwirksame Lebensreform und damit größere Lebenskraft. Bis 1919 sah es zumindest so aus: die SPD wurde fast bei jeder Wahl stärker und die antimarxistischen Kräfte wurden sehr nervös, sie rechneten mit der kommenden Revolution. Je stärker die SPD wurde, desto mehr wurden jedoch die marxistischen Fundamente unterspült. So wie das Römische Reich immer noch größer wurde, als seine materiellen und ideellen Fundamente bereits unterspült waren, so wie die Sowjetunion kurz vor ihrem Zusammenbruch noch Angola, Äthiopien und den Südjemen zu seinem Einflussgebiet machte, so wuchs auch die SPD noch weiter, als bereits der innerparteiliche Dissenz über die Fragen der Strategie und Taktik als verhüllte Stellung der Frage nach der Führung die Parteitage beherrschte. Die Lebensreform beeinflußte den traditionellen Marxismus stark und spaltete die SPD in marxistische Traditionalisten und leninistische Elitaristen.

Der sozialdemokratische „Vorwärts“ beispielsweise bestellte beim Germanenmaler und späteren NSDAP-Mitglied Fidus zum Ersten Mai 1905 eine Werbeabbildung mit völkischen Hippies. Die Spaltung der Arbeiterbewegung in ökonomistische Menschewisten und intellektuellen Bolschewismus war in der deutschen Sozialdemokratie bereits 1905 in vollstem Gange. Es gab keinen Instinkt, der den Verantwortlichen die Grenzen wies. Die Spaltung der SPD war nur eine Frage der Zeit.

Viele linke Intellektuelle, gute Beispiele sind die Münchner Räte, waren als Künstler stark von der Lebensreform beeinflußt. Der Sozialdemokrat Ernst Toller zum Beispiel schrieb expressionistische Stationenstücke, die sich formal dem Zeitgeist anpaßten und er sehnte den reinigenden Weltkrieg herbei, „gab sich dem mitreißenden Rausch des Gefühls hin“ in der Nation aufzugehen.

„Die Worte „Deutschland, Vaterland, Krieg haben eine magische Kraft und entzünden sich in uns.“

Die orthodox marxistische Sozialdemokratie litt im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik an schleichender intellektueller Auszehrung und an Orientierungsproblemen. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914, das Eindringen eugenischer Überlegungen in das sozialistische, bis dato nur vom Klassenkampf bestimmte Menschenbild und der Kinderglaube, die Weimarer Syndikate und Kartelle mit Planwirtschaft auf den Pfad sozialistischer Tugend zu führen, sind Marksteine dieser Entwicklung. 1918, als die Nachkriegsunruhen in Deutschland ausbrachen, war die marxistische Ideologie durch die Einflüsse der Lebensreform verwässert, durch innere Zwiste in ihrem allein seligmachenden Anspruch erschüttert, durch das Ausbleiben des prognostizierten Untergangs des Mittelstandes irritiert und durch die Revolution im asiatischen Rußland mit ihren Blutbädern zusätzlich verunsichert. Die Lebensreform und nicht der traditionalistische Marxismus war vor dem Weltkrieg, im Weltkrieg und nach dem Weltkrieg trotz ihrer ideologischen Zersplitterung oder gerade wegen ihrer bunten Vielfalt, Wandelbarkeit und Unbestimmtheit die vitalere Ideologie; deshalb war die Novemberrevolution die verspätete Revolution. Die Flamme der Revolution wurde von elitaristischen Revoluzzern wie Ernst Toller angefacht und von Bebelschen Diadochen ausgetreten, wobei inkonsequenterweise elitaristische Freischärler halfen.

Der sozialdemokratische Untergang läßt sich an vielen Biografien ablesen. Seit 1885 wohnte Georg Ledebour in Friedrichshagen. Zunächst war er als gemäßigter Sozialreformer noch Mitglied der Demokratischen Partei, für die er die „Demokratischen Blätter“ redigierte. 1890 trat er der SPD bei, in der er von 1890 bis 1916 den Prototyp des reformistischen Reißbrettpolitikers verkörperte. In der SPD war Ledebour eines der Scharniere zur Reformbewegung. Im Gegensatz zu den Gewerkschaftsfunktionären, die die Flammen des Proletariats auf dem marxistischen Altar hüteten, die als sozialdemokratische Methusalems die Hinterzimmer der ökonomischen Macht der Weimarer Republik bevölkerten, verkörperte Ledebour das organisatorisch bewegliche Element, das ganz einer schönen Idee lebte und die Partei ohne persönliche Anhänglichkeiten und Bindungen wechselte, wenn diese politische Idee es forderte. Folgerichtig zu der mehr ästhetizistischen, rassistischen und elitaristischen Ausrichtung des Friedrichshagener Kreises trat er während des Ersten Weltkriegs mit vielen anderen Parteiintellektuellen aus der SPD in die USPD über und wurde ab 1917 deren Vorsitzender. Nach deren Verfall wurde er Vorsitzender der Nachfolgepartei Sozialistischer Bund (1924-1931) und Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (1931-1933), die auch Willy Brandt zu ihren Mitgliedern zählte. Als 96järiger begrüßte er aus seinem warm geheizten Berner Exil die Zwangsvereinigung der KPD mit der SPD zur SED. Neben Ledebour war der Sozialdemokrat Max Schippel von 1890 bis 1919 ständiger Bewohner von Friedrichshagen. Nach dem Weltkrieg machten Gustav Landauer und Erich Mühsam zweifelhafte politische Kurzkarrieren.

Ein grelles Schlaglicht auf den ideologischen Zustand der USPD und der links von der Sozialdemokratie stehenden Revolutionäre wirft die Münchner Räterepublik. Noch heute ist Schwabing der ungläubigste bayrische Wahlkreis. Nach dem Ersten Weltkrieg war fast ganz München ein einziges Schwabing. Das reformistische USPD-Mitglied Kurt Eisner, ein Student von Kant und Nietzsche, bärtiger Theaterkritiker der „Münchner Post“ wurde Ministerpräsident der Räterepublik. Die Münchner wurden von glühenden Reden vom Reich des Lichts, der Schönheit und der Vernunft genervt, sie antworteten mit dem Spottlied „Revoluzilazilizilazi hollaradium, alls drah ma um, alls kehr ma um, alls scheiß ma um, bum, bum!“

Bei den Wahlen im Januar 1919 erlitt die USPD eine vernichtende Niederlage. Als Eisner gerade im Begriff war zurückzutreten, wurde er vom Grafen Arco-Valley ermordet. Nach Eisners Tod errichtete der Zentralrat unter dem Sozialdemokraten und späteren Nationalbolschewisten Ernst Niekisch eine Diktatur, bis der anarchistische Schriftsteller und Schwärmer Erich Mühsam sowie der expressionistische Kriegsverherrlichungsliterat Ernst Toller die Welt per Erlaß in eine Wiese voller Blumen, in der jeder sein Teil pflücken könne verwandelten.

Sie befahlen den Zeitungen auf der Titelseite Gedichte von Hölderlin und Schiller zu publizieren, neben den neuesten Revolutionsdekreten. Mühsams politischer Beitrag beschränkte sich im wesentlichen darauf, unter dem Titel „Der Lampenputzer“ die Mehrheitssozialdemokraten zu attackieren.

Der revolutionäre Außenminister Dr. Franz Lipp schrieb ein Telegramm an den „Genossen Papst, Peter-Kathedrale, Rom“, in welchem er den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hoffmann beschuldigte, mit den Schlüsseln zur Toilette durchgebrannt zu sein.

Nach dem durch diese kindischen und schöngeistigen Eskapaden provozierten Rücktritt von Niekisch und den meisten Ministern ergriff im entstandenen geistigen und personellen Vakuum auf Geheiß Moskaus eine Gruppe von elitaristischen Berufsrevolutionären um Max Lewien, Eugen Leviné und Paul Borissowitsch Axelrod, die letzteren beiden russische Geheimagenten, die Macht. Beschlagnahmekommissionen, Geiselverhaftungen, Geiselerschießungen, revolutionäre Willkür und der Hunger gewannen die Oberhand. Von expressionistischen Bohèmiens bis zu leninistischen Berufsrevolutionären war nacheinander alles, was die Lebensreform ausgebrütet hatte, als heterodoxes Allerlei an die Hebel der Münchner Ohnmacht geraten. Fast überflüssig zu erwähnen, daß sich der Gefreite Adolf Hitler der Roten Armee unterstellte, Quartier in der Kaserne in Oberwiesenfeld nahm und bis zu seiner Verhaftung durch das in München einrückende Freikorps Epp Träger der roten Armbinde war. Er ließ sich mehrfach zu einem der Vertrauensleute seines Regiments wählen. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt Hitler im Trauerzug für den ermordeten Kurt Eisner. Hunderte Revolutionsteilnehmer wurden bei der Wiederherstellung der Ordnung in überschießendem Eifer erschossen, Hitler überlebte leider. Vor diesem Hintergrund erscheint die Räterepublik im Gegensatz zur politischen Klasse der frühen Weimarer Republik als konzentrierter Ausfluß der Reform- und Jugendbewegung. Elitarismus, Expressionismus, Vagabundismus waren die Bausteine und das faszinierende und eigentlich logische ist: die durch die Spätkaiserzeit vorgeprägten Massen folgten den amorphen Ideen der Revolutionsführer eine Weile lang. Zumindest einige Augenblicke lang, solange es nicht lästig wurde, erschien dem Volk die bunte Republik als ein natürliches Glied in der geschichtlichen Abfolge. Links und Rechts hatten sich nicht wirklich geschieden, gerade in der Revolution zeichnet die simple Links-Rechts-Schablone kein zutreffendes Lagerpanorama. Die Räterepublik stand unter dem unausgesprochenen Motto: „Elitaristen aller Richtungen, vereinigt Euch!“

Der harte gewerkschaftlich organisierte Kern der SPD blieb explizit elitaristischen Überzeugungen unzugänglich, am intellektuellen Rand bröckelte die Führung wie auch die Basis. Ideologisch kam es zwischen 1900 und 1920 zu einem Paradigmenwechsel auf beiden SPD-Flügeln. Der eine wurde egalitär-revisionistisch und ließ sich auf das parlamentarische System ein, der andere elitaristisch und antiparlamentarisch.

Der Übertritt von der SPD zur USPD war ein Massenphänomen; ein besonders interessantes Phänomen ist jedoch, dass fast alle Parteiintellektuellen zu den Unabhängigen übertraten, während die gewerkschaftsnahen Leute, Lenin nannte sie „Ökonomisten“ in der SPD verblieben. Zu den zur USPD übergetretenen Intellektuellen gehörten Karl Kautsky, der 1920 von Lenin heruntergeputzt wurde, Eduard Bernstein, der 1920 aus der USPD ausgeschlossen wurde und wieder in die SPD eintrat, Rudolf Breitscheid, der ebenfalls zur SPD zurückkehrte, der Theaterkritiker Kurt Eisner, Rosa Luxemburg, die zu den Spartakisten abdriftete und Georg Ledebour.

Auch nach der Abspaltung der USPD/KPD kam es nicht zu einer wirklich tiefgreifenden Abgrenzung der SPD von stark reformistischen Einflüssen. Es war, als entstünden im Reagenzglas der Partei durch Urzeugung immer neue Ungeheuer: Der „Hofgeismarer Kreis“ des Nationalbolschewisten Ernst Niekisch entwickelte nach 1923 schwärmerisch-phantastische Ideen von der Neugeburt der deutschen Nation und des Reiches aus dem „Geist von Potsdam“. August Bebel, der erklärtermaßen keinen Mann und keinen Groschen für das Potsdamer System hergeben wollte, hätte sich im Grabe herumgedreht. Gestützt auf die „Aristokratie der Arbeit“ sollten die Klassen durch die wahrhaft nationale Volksgemeinschaft vernichtet werden. Das Rebellentum gegen den „Geist von Locarno“ müsse erweckt werden, die Zurückeroberung einer großen einflussreichen Weltstellung sei das Ziel. Niekisch wurde nicht ausgeschlossen, sondern verließ 1926 die SPD auf eigenen Wunsch.

Wir hatten eben die sehr unterschiedlichen Temperamente der Münchner Räterepublikaner erwähnt. Eisner, Mühsam, Dr. Lipp, Gesell, Axelrod, Hitler, Niekisch, Lewien und Toller verband nur eine sehr verschwommene Vorstellung vom neuen Menschen und einer neuen Zeit und der Wunsch in diese neue Menschheitsperiode einzutauchen. Wenn man letzteres nicht versteht, so versteht man weder die Novemberrevolution noch die Weimarer Republik. Die von der Front und von den Schlachtschiffen nach Hause strebenden Soldaten kamen nachdem sie des langen Kriegs müde geworden, auf dem Wege nach Hause an einer Revolution von Literaten, Theaterkritikern, Malern und Poeten vorbei. Die Hoffnung dieser Kunstbeflissenen: Vielleicht ließ sich neben Russland wenigstens Deutschland auf den Pfad des Idealismus, einer ganzheitlichen geistigen Gesellschaft trimmen, wenn dieser Versuch auch zunächst militärisch gescheitert war.

Vernünftige Analytiker hätten sich natürlich gefragt, ob vielleicht alles mit der Vorkriegsideologie gestimmt hätte, ob der deutsche Weg des Idealismus und der Realitätsverweigerung nicht manchmal gescheitert sei. Aber es waren keine Analytiker, es waren Vulgäridealisten, die wie Roboter bei ihrer Programmierung blieben. Wenn der Krieg verloren war, so lag das nicht an einer falschen Theorie, sondern an der schlechten Umsetzung in der Praxis. Auch konservative Ideologen waren begeistert über den Zusammenbruch eines Regimes, das nicht idealistisch genug gewesen war, um echten Konservatismus zu verkörpern.

Die Vertreter der Jugendbewegung sowie die an der Front mit ihnen in Berührung gekommenen Jungbauern und Handelsgehilfen trafen auf die von der SPD abgesplitterten Intellektuellen, die sich in der USPD versammelt hatten, marxistisch orientierte sozialdemokratische Arbeiter und Gewerkschafter sowie ein Häuflein Spartakisten. Karl Liebknecht, Muck Lamberty, Kurt Eisner, Emil Nolde, Friedrich Ebert, Mario Gesell, Paul Borissowitsch Axelrod, Heinrich Freisler, Philipp Scheidemann, Lujo Brentano, Rosa Luxemburg, Adolf Hitler, Heinrich Mann, Hugo Haase und Karl Radek gehörten alle zum Personal der Revolution.

Im Dezember 1922 vereinigte sich die Rest-USPD mit der SPD. In der SPD bedeutete diese Wiedervereinigung eine Rückwanderung von irrlichternden Intellektuellen mit dem zwergenhaften politischen Format Rudolf Breitscheids. Die SPD fand bis 1933 keine Mittel gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus. Mit ihrer korporatistischen Wirtschaftspolitik ebnete sie Hitler geradezu den Weg.

Über das Dritte Reich machen wir mal einen großen Sprung. 1968 begann für die deutsche Linke ein Dejavu des Spätkaiserreiches und der Weimarer Republik. Alle verstaubten Untensilien aus der reformistischen Mottenkiste wurden wieder herausgeholt: Die Technikfeindlichkeit, das Elitedenken, der Glaube an die Planwirtschaft, der Rassismus – dieses Mal gegen den weißen Mann und die Sachsen -, die Naturvergötzung und außenpolitische Horizontlosigkeit. Wer glaubt, daß 1968 Neues entstand, ist auf dem Holzweg. Unter den roten Fahnen und Mao-Bibeln wirbelte der Staub von hundert Jahren auf.

Was wir derzeit erleben, der Niedergang, insbesondere der SPD, aber auch aller anderen Altparteien und Organisationen, ist mit dem Desaster des Spätkaiserreichs und der Weimarer Republik vergleichbar. Die Berliner Schickeria hat völlig den Kompaß und die Orientierung verloren. Die Machbarkeit von Migration, Energiewende und europäischem Superstaat wird in völlig halluzinatorischem Wahn behauptet, ohne tragfähige Konzepte und Grundlagen vorweisen zu können. Wieder soll am deutschen Wesen die Welt genesen. Das hatten wir schon zweimal.