Gastbeitrag: Nie war er so wertvoll wie heute: Der Abweichler

Über die systemstabilisierende Rolle sogenannter Parteirebellen. Es gehört zu den gebetsmühlenartig vorgetragenen angeblichen Messungen des Völkchens der Parteien- und Wahlforscher, dass Streit innerhalb von politischen Parteien deren Wahlerfolge schmälere. Der nachfolgende Aufsatz beschäftigt sich mit dem gegenteiligen Effekt: Es sind die Parteirebellen, die das gegenwärtige System stabilisieren.

CDU: Flaggschiff der Parteirebellen ist Wolfgang Bosbach. Er macht aus seiner Ablehnung des linksgrünen Kurses seiner Partei keinen Hehl. Hierbei ist er klug genug, wie folgt zu argumentieren: Nicht er selbst habe sich geändert, sondern seine Partei, die CDU. Diese eigentlich inhaltsleere Aussage löst einen eigenartigen Effekt aus, nämlich die Zustimmung einer breiten Wählerschicht von CDU-Stammwählern, die nach einem Argument suchen, der CDU treu bleiben zu können. Dieses Klientel verdrängt
sicherheitshalber, dass Bosbach in der Realität der Machtausübung nichts mehr zu sagen hat. Um es spitz zu formulieren: Ohne den Bosbach-Effekt wären Merkel, Laschet & Co nicht mehr an der Macht.

Grüne: Der Parteirebell heißt Boris Palmer. Dieser südwestdeutsche Bürgermeister vertritt in Sachen Multikulti, Sicherheits- und Sozialpolitik Ansichten, die man früher als urdeutsch und spießig, oder anders ausgedrückt: als Recht und Ordnung apostrophiert hätte. Er ist der Garant dafür, dass Leute, die etwas zu verlieren haben, sagen können, bei den Grünen gebe es nicht nur kenntnisreduzierte Wolke-siebzehn-Spinner, sondern auch vernünftige Leute.

Linke: Eine krasse Abweichlerin im rotgrauen internationalistischen Grundton ist Sahra Wagenknecht. Sie vertritt Positionen, die eine Verbindung von Nationalstaat und Sozial(ismus) in den Vordergrund rücken (Vor achtzig, neunzig Jahren nannte man solche Positionen nationalsozialistisch). Was sie sagt, klingt streckenweise deshalb so vernünftig, weil sie Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck bringt: Die Masseneinwanderung von Unqualifizierten ist ein Problem für diejenigen Deutschen, die eigentlich die Zielgruppe einer Linkspartei sein sollten, und von der Migrationshype profitierten nur die Profiteure. Sollte es Wagenknecht gelingen, sich Gehör zu verschaffen, wäre sie (wohl nicht nur dort) wählbar.

FDP: Ob es einen Parteirebellen bei der FDP gibt, ist nicht erkennbar, da ein
markanter Standpunkt der Partei insgesamt nicht erkennbar ist. Das Bedienen-können eines Elektronikspielzeugs ist jedenfalls auf Dauer kein Argument für oder gegen die Partei. Und die Gruppe der mit dem Laptop auf den Knien jettenden Smartboys mit Dreitagebart ist winzig oder längst in die USA ausgewandert. Die früher vorhandene Doppelstrategie von Links- und National-Liberalen ist verschwunden. National war gestern, ein Exponent ist nicht in Sicht.

AfD: Der personelle Aufreger innerhalb der AfD heißt Björn Höcke. Um dessen Stellung auszuloten, ist ein programmatischer Umweg nützlich. Die AfD hat im Grunde zwei Themen: (1) Kampf gegen die Masseneinwanderung mit angeschlossenem Sub-Thema der Wiederherstellung von Recht und Ordnung, (2) Kampf gegen die Klimakirche mit breiten angeschlossenen Sub-Themen zur Rettung des Industriestandorts Deutschland. Von diesen Themen fühlen sich etliche Millionen Deutscher mit stark steigender Tendenz angesprochen, zumal keine andere Partei sie vertritt. Innerhalb dieser Wählerschaft gibt es – wie ich es sehe – eine bemerkbare Zweiteilung: Die einen wollen, dass der Kampf in den gewohnten geordneten Bahnen geführt wird, die anderen führen die von ihnen als Misere empfundene Situation auf ein System-Versagen des Parteienstaates zurück. Für diese letztgenannte Gruppe ist Höcke die Symbolfigur – und zwar ganz unabhängig davon, ob er diese systemkritische Haltung vertritt oder nicht. Er verkörpert sie sozusagen ad personam.
Ironischer Weise ist der Grund hierfür externer Art: Mainstream hat das Exzentrische von Höcke so lange in so großer Dichte unter Fakten-Findung in Spiegel-Manier behauptet, dass es überall angekommen ist. Ich vermute, dass in etwa die Hälfte der AfD-Wählerschaft ihre Entscheidung, AfD zu wählen, oder stärker noch: überhaupt zur Wahl zu gehen (!), an der Symbolfunktion von Höcke festmacht.

Und schließlich die SPD: Sie hat mit Thilo Sarrazin den markantesten aller
Parteirebellen. Doch anders als die vorher genannten Parteien nutzt die SPD Sarrazin und seine geradezu überwältigende Popularität nicht, sondern bekämpft ihn als Person in möglichst verletzender Form. Solches Vorgehen nennt man gemeinhin Verblendung, denn die SPD beraubt sich selbst mit moralisch erhobenem Zeigefinger aller derjenigen
Stammwähler, die da sagen: der hat doch recht, der Mann. Die SPD hat den Bosbach-Effekt verpennt und verspielt. Die Partei der deutschen Arbeiterschaft ist auf dem Weg ins Nichts.

Schlusssatz: Wenn CDU, Grüne, AfD und Linke sich selbst ihrer populistischen
Bosbachs, Palmers, Höckes und Wagenknechts entledigen, werden sie den Weg der SPD gehen – ins Nichts, denn der Satz, dass der Parteienstaat als Krone der Demokratie unersetzlich sei, taugt bestenfalls als Eigenlob auf Parteitagen.

Der Autor Helmut Roewer ist Historiker und Publizist: Unterwegs zur Weltherrschaft