Der Berg geht nicht zum Propheten

Der Politiker muß zum Wähler gehen, nicht der Wähler zum Politiker. Das ist ein eherner Grundsatz. Wenn der arme gequälte Wähler schon ins Wahllokal muß, soll der Abgeordnete in spe doch gefälligst zu ihm kommen.

Die meisten Wahlkampfkonzepte stammen aus der Zeit, als Werner Dollinger noch Postminister war (1966 bis 1969), als die Mainstreammedien die alleinige Meinungsmacht hatten und die SPD über das Eigentum an vielen Zeitungen und zahlreiche Kanalarbeiter im Fernsehen verfügte. Das schwach besuchte öffentliche Event und der Canvassingstand in der Fußgängerzone (Canvassing zu deutsch: Kundenfang) lebten eigentlich davon, daß die Lokalpresse darüber berichtete. Wenn die Gutenparteien beispielsweise sowas veranstalteten hatten sie geneigte Journalisten, die es zum Erfolg hochjazzten. Auch wenn nur wenige Leute Interesse hatten. Es geht bei dieser Art Wahlkampf weniger um das Stattgefundene, sondern um den geschönten Bericht darüber.

In den 80er Jahren wurde die Lokalzeitung noch in drei Vierteln aller Haushalte abonniert, so daß der Aufwand durch den Nutzen gerechtfertigt wurde. Heute steckt noch in jedem dritten bis vierten Briefkasten eine Zeitung, so daß auch wohlwollende Berichterstattung verpufft. Wenn durch die Lokalpresse überhaupt noch jemand erreicht wird, dann die älteren Rentner. Und die Lokalpolitiker lesen zu über 90 % die Zeitung. Um sich drüber zu ärgern.

Sprung ein paar Jahre zurück. Die CDU hatte 2004 einen Oldtimer-Traktor organisiert und auf dem Hänger saßen die Kreistagskandidaten und fuhren durch den Landkreis. Vom fahrenden Wagen herab warfen sie mit Knackwürsten nach den Wählern, die auf der Gasse oder in den Vorgärten standen. Ohne anzuhalten und abzusteigen. Zufällig fuhr ich in Hohenfelden eine kurze Strecke hinter dem Traktor her, ohne ihn zu sehen, denn er war gerade um eine Ecke gefahren. Ein paar Einwohnerchen standen frustriert auf der Straße und schüttelten die Köpfe. „Was ist hier los?“, dachte ich, „war hier Besuch von den Außerirdischen?“. Nach der Kurve sah ich den Traktor und konnte mir einen Reim drauf machen. Bewegung alleine macht also auch krumme Beine.

Im selben Jahr. Ich war damals Bürgermeister in einer kleinen Gemeinde und ein Lokalpolitiker hatte sich angekündigt in diesem Ort (250 Einwohner) einen Wahlkampfeinsatz zu gestalten. Er hatte einen Stand mit einem Schirm mit, ließ den aufbauen und blieb dort mit seinen Wurfzetteln stehen. Obwohl auf der anderen Straßenseite zwei Mütterchen standen und zum Stand blickten. Sie trauten sich nicht rüberzugehen und der Bewerber für ein politisches Mandat ging auch nicht zu ihnen. Eine verpaßte Gelegenheit. Hingehen muß man zum Wähler.

Auch die AfD ist nicht frei von enttäuschten Hoffnungen. Sie hat in Apolda ungefähr zehn Bürgerstammtische veranstaltet. Dazu kam fast nie ein Bürger. Die Blauen saßen fast immer alleine da. Wenn doch jemand kam, war er von der Konkurrenz. Mal kam ein Freier Wähler, mal jemand von dem man nicht wußte, ob er von der NPD geschickt war.

Die Gelbwestenproteste draußen am kleinen Kreisverkehr in der Stadtmitte waren dagegen was zum Anfassen. Sie begannen mit sieben Teilnehmern und hatte zweitweise mehr als 50 Mitmacher. Daraus entwickelten sich Eintritte in die AfD und viele Anregungen und Kontakte.

Das Fazit: Mobilität führt fast immer zum Erfolg, stationäre Events und Stammtische haben eine zu hohe Schwelle und sind zumindest fragwürdig. Jede Minute, die in sozialen Netzwerken investiert wird, in der Zeitungen ausgetragen werden, ist besser angelegt, als das Warten auf Godot am Canvassingstand. Godot ist ein Bürger, den es vermutlich nicht gibt und auf den in einem Stück von Samuel Becket zwei Leute – Estragon und Wladimir – vergeblich warten:

Estragon: Komm, wir gehen!
Wladimir: Wir können nicht.
Estragon: Warum nicht?
Wladimir: Wir warten auf Godot.
Estragon: Ah!

Noch immer warten Politiker an Canvessingständen auf Godot. Ich war früher Marktverkäufer. Da gab es Tage wo man früh am Morgen um halber neun alles verkauft hatte, und es gab Tage wo man um 16 Uhr noch fast nichts losgeworden war. Das ging übrigens allen Händlern geichmäßig so. Es gab Stunden, wo die Fische beißen und es gab verhexte Zeiten. An Canvessingständen sind alle Tage verhext. Das Konzept ist tot.

Ach ja, ich möchte mich noch bei den beiden Herren und der jungen Dame von der Merkeljugend bedanken, die mir beim Abnehmen der blauen Plakate behilflich waren. Älteren weißen Männern soll man immer zur Hand gehen. Das wußten schon Timur und sein Trupp.

Jeden Tag eine gute Tat.