Die Wurst und Erdogan haben zwei Enden

Die Mainstreammedien beginnen sich von den Moslembrüdern zu lösen und schwärmen vom Wahlsieg der Kemalisten in Istanbul. Ein Blick auf die knappen und glücklichen Wahlsieger.

Die Republikanische Volkspartei CHP hängt den Maximen des Staatsgründers Kemal Atatürk an und wurde von ihm gegründet. Der Kemalismus wurde aus Republikanismus, Trennung von Staat und Religion, Populismus, aus permanentem Reformismus, dem Kampf gegen ein multiethnisches Staatskonzept und aus Etatismus mit reichlich Planwirtschaft gebacken. Die Zutaten entsprachen den zeitgenössischen Vorstellungen der europäischen Jugendbewegung und wurden in Italien, Rußland und vielen anderen Staaten fast zeitgleich als Erziehungsdikatur umgesetzt. In Europa nannte sich dieses Konzept Faschismus, in Asien Bolschewismus, in der Türkei Kemalismus. Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ewger Bund zu flechten.

Die Entstehungsgeschichte der CHP ist personell und ideologisch eng mit der jungtürkischen Revolution verflochten. Diese wurde dadurch begünstigt, daß die Türkei von etwa 1890 bis 1918 militärisch und wirtschaftlich von Deutschland beraten wurde. Zahlreiche deutsche Offiziere drillten die türkische Armee, Ingenieure bauten an der Bagdadbahn. Damit wurden die lebensreformerischen und jugendbündlerischen Gedanken, die in Deutschland gerade umliefen nach der Türkei exportiert. Ziel der jungtürkischen Offiziere war die Stärkung des außen- und innenpolitisch vom Zerfall bedrohten Osmanischen Reiches durch politische, militärische und wirtschaftliche Modernisierung. Wikipedia referiert über den Einfluß der deutschen Jugendbewegung in der Türkei:

„Eine weitere enge Verbindung entwickelte sich nach 1908 und namentlich zwischen 1913 und 1918 zwischen den jungtürkischen Offizieren der osmanischen Armee und ihren verstärkt ins Land geholten Militärberatern des Heeres des Deutschen Kaiserreiches unter dem jungtürkischen Kriegsminister Enver Pascha. Der einflussreichste dieser deutschen Militärberater, der auch weitgehend die bis 1913 eine starke Rolle spielenden sozialistischen und liberalen Berater der Jungtürken an den Rand drängte und sie zum Teil bekämpfte (Verhaftung und Abschiebung des Schweizers Max Rudolf Kaufmann 1916), war der deutsche Marineattaché Hans Humann.“

1908 brach der jungtürkische Aufstand gegen den Sultan im europäischen Teil der Türkei los, zuerst in Mazedonien, dann auch in Rumelien (dem damals noch türkischen Südbulgarien). Er griff schnell auf die heutige Türkei über und führte zu einem moderaten Regierungswechsel. Alle freuten sich wie unmittelbar nach jeder Revolution: Die unterdrückten Minderheiten, die Intellektuellen, das Militär und die Bauern in Anatolien. Der deutsche Szialdemokrat Friedrich Schrader schrieb darüber:

„Das Jahr 1908 kam herbei, und dem Lande wurde plötzlich die Freiheit gegeben. ‚Ja, die Freiheit, – was ist das für ein Ding?‘ fragten sich die anatolischen Bauern. ‚Die Freiheit‘, so beantworteten sie selbst unter dem Einflusse der Hodschas die sich ihnen aufdrängende Frage ‚ist die größere Freiheit der früher gebundenen Religion, die auf die Durchführung der heiligsten Vorschriften bis jetzt hat verzichten müssen.‘ Das bescheidene Maß von Zugeständnissen, das die alte Türkei dem modernen Staatsgedanken und der modernen Gesellschaft gemacht hatte, erschien dem Landvolke und ihren Führern als viel zu weitgehend. Ihre Leiden, die Drangsalierungen, denen sie unter dem Absolutismus ausgesetzt waren, sahen sie jetzt von diesem Gesichtspunkte aus und hofften, dass die Freiheit ihnen die gewünschte Erleichterung und die Einführung des Schariarechtes bringen werde.“

Das osmanische Sultanat als Mittelweg zwischen strengem Islam und moderater Rücksichtnahme auf die Interessen der Großmächte war erst mal unter die Räder gekommen. Infolge der Balkankriege, die bis 1913 dauerten, wurden viele Türken vom Balkan vertrieben, was nationalistische Gefühle der Jungtürken weckte, sofern sie nicht schon vorher da waren. 1915 bis 1920 wurden die in der Türkei befindlichen Armenier getötet und die Griechen massakriert oder vertrieben. Von kleineren Völkern ganz zu schweigen. Nationale Gefühle hatten über die religiösen erst mal gesiegt. Im Spannungsfeld zwischen Religiosität und Nationalismus lebt die Türkei noch heute.

An dieser Stelle kommt der Staatsgründer Atatürk ins Spiel. Wieder Wikipedia:

„Seine Verdienste als Offizier bei der Verteidigung der Halbinsel Gallipoli 1915 gegen alliierte Truppen, welche die Dardanellen unter ihre Kontrolle bringen wollten, und ab 1921 der Abwehrkampf gegen die nach Anatolien vorgedrungenen Griechen haben ihn zur Symbolfigur türkischen Selbstbehauptungswillens und Nationalbewusstseins werden lassen. Als Machtpolitiker, der die Modernisierung seines Landes nach westlichem Vorbild beharrlich vorantrieb, hat er mit der Abschaffung von Sultanat und Kalifat sowie mit weitreichenden gesellschaftlichen Reformen einen in dieser Form einmaligen Staatstypus geschaffen. Darauf beruhen – trotz teilweiser Kontroversen über sein Wirken – die personenkultartige Verehrung, die ihm in der Türkei bis heute entgegengebracht wird, und die Unangefochtenheit des ihm 1934 vom türkischen Parlament verliehenen Nachnamens Atatürk (Vater der Türken).“

Als Oberkommandierender und Sieger im Krieg gegen Griechenland erreichte er seine Machtstellung. Er beseitigte 1922 das Sultanat und 1924 das Kalifat. Seine Vorbilder mögen die Staatsführer Gabriele d´ Annuncio, Wladimir Lenin und Benito Mussolini gewesen sein, die um 1920 die Macht errangen und wie Atatürk in der Zeit der antidemokratischen und elitären Lebensreform sozialisiert worden sind. Die CHP war die kemalistische Staatspartei, bis 1945 als konkurrenzlose Einheitspartei.

In den späten 60er Jahren vollzog der Parteiführer Bülent Ecevit – ohne die alte faschistoide und etatistische Programmatik aufzugeben – eine Annäherung an die Gewerkschaften. Die deutschen Medien verpaßten der CHP deshalb erstmalig das Label „sozialdemokratisch“, obwohl das eine Viertelwahrheit war. In der Folge kam es zu rechten Abspaltungen, die Partei verlor Wähler und es entstand – nicht nur von der CHP verschuldet – eine Bürgerkriegssituation. Maoistische, moskowitische, kurdische und islamische Extremisten verübten Morde und Anschläge. Am 4. Juli 1980 veranstalteten sunnitische Moslems in der Provinz Çorum ein Massaker unter Aleviten, also volkstümlich gesagt unter Moslems, die etwas weniger fromm sind. Darauf kam es zum Militärputsch, um die Lage zu stabilisieren. Die CHP wurde erst mal wie alle anderen Parteien verboten.

1992 wurde die CHP wiedergründet und fuhr zunächst bis 2010 einen scharf kemalistischen, also säkularen und nationalistischen Kurs. In der Annäherungspolitik der regierenden AKP an die EU sah die CHP den Ausverkauf des Landes. Insofern war es kein Wunder, daß die globalen Eliten um 2000 alle auf Erdogan setzten und das Militär als Garanten der säkularen Ordnung bekämpften. Seit 2010 setzt die Partei wieder auf die säkularen Kernwähler und bringt das Thema der Bürgerrechte nach vorn. Damit konnte sie heuer in Istanbul auch kurdische Wähler mobilisieren, was den Ausschlag für den Wahlerfolg vom Sonntag gab.

Es ist prinzipiell fragwürdig oder gar falsch, türkische und andere morgenländische Parteien mit den Etiketten „sozialdemokratisch“, „liberal“, „konservativ“ zu versehen. Es sind alles Begrifflichkeiten, die nur in einem mitteleuropäischen Kontext zu verstehen sind. Schon auf dem Balkan versagen unsere Erklärungsschubladen, im Morgenland muß man sich auf spezifische historische und soziologische Bedingungen wirklich einlassen, wenn man irgend etwas verstehen will.

Die kemalistische CHP ist nach wie vor eine schillernde Partei, die gerade hinsichtlich Nationalismus mit der SPD oder einer anderen westeuropäischen sozialistischen Gruppierung nur schwer kompatibel ist. Trotzdem ist sie in der Sozialistischen Internationale, aber da waren auch die ägyptischen und tunesischen Sozialisten, bis sie nach dem arabischen Frühling plötzlich im hohen Bogen rausflogen. Auch die rumänischen oder griechischen Sozialdemokraten sind so ein missing link zwischen Orient und Okzident.

Vom Exhäftling Deniz Jützel hatte man seit seiner Freilassung aus dem türkischen Verließ nichts mehr gehört, jetzt schreibt er wieder in der WELT. Er macht in etwas gemäßigter Form denselben Fehler wie 2015, als er ein Formtief der AKP zur politischen Wende hochschrieb. Er hatte damals nicht mit Dr. Merkel gerechnet, die der türkischen Opposition im Oktober die Tour mit ihrem Türkeideal vermasselte. Erdogan ging nach den Abmachungen mit Deutschland als strahlender Sieger aus Neuwahlen hervor.

Jützel-Journalismus ist keine brauchbare außenpolitische Aufklärung, sondern immer ein hauch Agitation oder Rufen im Wald, wenn auch etwas vorsichtiger, als vor vier Jahren. Er schreibt sich seine Türkei schön:

„Vor einem Vierteljahrhundert hat Erdogan seine politische Karriere mit der Wahl zum Oberbürgermeister von Istanbul begonnen. Nun scheint sie hier auch den Anfang ihres Endes zu finden.“

Ja, alles hat ein Ende, nur die Wurst und Erdogan haben zwei.