Goethe und Multikulti

Der Weimarer Geheimrat von Goethe wird oft als Islamversteher zitiert. Quelle dafür ist der West-östliche Divan aus dem Jahre 1819, indem er sich mit der Welt des persischen Dichters Hafis – einem Perser, der im 14. Jahrhundert lebte – auseinandersetzte. Was Hafis und Goethe vor allem einte: Die Zuneigung zum Wein. Viel zitiert aus dem Divan:

Wer sich selbst und andere kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.

Oder eine weitere Kostprobe:

Jesus fühlte rein und dachte
Nur den Einen Gott im Stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte
kränkte seinen heil’gen Willen.
Und so muß das Rechte scheinen
Was auch Mahomet gelungen;
Nur durch den Begriff des Einen
Hat er alle Welt bezwungen.

Wir müssen uns gegen die Überinterpretation dieser Zeilen wappnen. Gerade als Goethe am West-östlichen Divan arbeitete, begeisterten sich die Romantiker für asiatische Religionen und mystifizierten das Morgenland. 1810 erschien auf dem Büchermarkt die „Mythengeschichte der asiatischen Welt“ von Johann Joseph von Görres. Vielleicht kein Zufall, nachdem Napoleon mit seiner Ägyptenexpedition etwas Licht in das asiatische Dunkel gebracht hatte und Interesse für den Osten in Europa erweckt worden war. Die Romantiker, immer auf der Suche nach dem Geheimnis, der Mystik, der Unendlichkeit sahen Asien als einen Steinbruch, aus dem sie sich mit Artefakten von Ursprünglichkeit, ewigen Wahrheiten und Weisheiten bedienen konnten.

Eine erste Welle von Multikulti schwappte über Europa. Gerade geringe Kenntnisse über das Ausland begünstigen in der Regel Kulturrelativismus und die verzückte Verklärung im Grunde elender Zustände. Wobei die Romantiker – unsere Grünen sind ähnlich gewickelt – von einem fernwirkenden Zauber eingelullt wurden. Nach den schweren Enttäuschungen von der französischen Revolution und der lästigen Franzosenzeit in Deutschland mußte das Heil ganz weit außerhalb Europas gesucht werden.

Man projizierte seine Vorstellungen und Wünsche möglichst weit weg, an die Ufer des Nils, des Ganges und des Jangtse, so wie die 68er aus Enttäuschung und Ernüchterung über die Wunder der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution aus denselben Motiven zu den Idealen von Mao, Pol Pot, Enver Hodscha und Che Guevara ihre Zuflucht suchten.

Den Rationalisten in Deutschland wurde um 1820 unwohl. Rüdiger Safranski schrieb in seiner „Romantik“: „Goethe wird es unbehaglich. Er spürt eine Flut steigen, die ihm das kulturelle Haus unterspült. An Sulpiz Boisserée schreibt er am 16. Januar 1818: Winkelmanns Weg, zum Kunstbegriff zu gelangen, war durchaus der rechte … Sehr bald aber zog sich die Betrachtung in Deutung über und verlor sich zuletzt in Deuteleien, wer nicht zu schauen wußte, fing an zu wähnen, und so verlor man sich in ägyptische und indische Fernen, da man das Beste im Vordergrunde ganz nahe hatte …“

Flugreisen der Romantiker nach ihren Sehnsuchtsorten gabs noch nicht, der Weimarer Geheimrat favorisierte den Spaziergang vor dem Stadttor und hat im „Osterspaziergang“ eine erhebliche Distanz zu den Verhältnissen im Nahen Osten dargestellt:

Andrer Bürger:

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried und Friedenszeiten.

Dritter Bürger:

Herr Nachbar, ja! so laß ich’s auch geschehn:
Sie mögen sich die Köpfe spalten,
Mag alles durcheinander gehn;
Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.

Wolfgang von Goethe hielt von der Einmischung in orientalische Kriege und der „Bekämpfung der Fluchtursachen“ offensichtlich nichts. Da war er unserer Kanzlerin ein gutes Stückchen voraus. Er trank morgens schon ein paar Gläschen Wein und las seinen Hafis. Das wars mit dem Orient.