Erinnerungen an das Wohnungsamt

In Berlin soll eine Mietpreisbremse verstetigt werden. Solche Bremsen waren in Deutschland immer der Anfang einer Interventionsspirale an deren Ende der Wohnraum bewirtschaftet werden mußte, um ein zu kleines Angebot zu kanalisieren.

Die Folge ist, daß sich zunächst punktuell, später flächendeckend permanente Wohnungsnot herausbildet. Die sog. „DDR“ (im Volksmund die Zone) hatte es soweit gebracht, daß die Leute den Wohnungen hinterherzogen und nicht den Arbeitsplätzen und daß selbst auf abgelegensten Gütern im hinteren Teil des Bezirks Neubrandenburg entsetzliche Wohnungsnot herrschte.  Der entstandene Mangel wurde über ein flächendeckendes System von Wohnungsämtern verwaltet.

Es ist nicht einmal ein halbes Menschenalter her, als das praktiziert wurde. Ich wohnte damals in Weimar, einer thüringischen Kleinstadt, in der sich in vielen Hinterhöfen noch Abtritte befanden. 40 Häuser hatten sogar Tonnenklos. Da wurden zwei Meter hohe Holztonnen ins Haus gerollt und wenn sie voll waren, wurden sie gegen leere Tonnen getauscht. Diese Wohnungen waren selbst damals nicht leicht an den Mann zubringen, denn sie rochen intensiv nach Kacke.

Im Wohnungsamt saß als Wohnraumlenker Herr Just. Er hatte im Krieg einen Arm verloren und konnte nichts vernünftiges arbeiten. Er war von seinem Job und von der Partei abhängig und hatte eine bewundernswerte Gleichmut im Zuhören, im Ertragen von Beschimpfungen, Beleidigungen und tätlichen Angriffen entwickelt. Mit derselben Gleichgültigkeit überreichte er den Kunden des Amtes die Besichtigungsscheine, die geballte Zumutungen waren. Die Sozialistische Einheitspartei wollte die wachsende Volkswut über die Wohnungsnot von sich weglenken und so gehörte der Stadtrat für Wohnungswirtschaft Herr Kehr nicht der SED sondern der nationalbolschewistischen NDPD an, die wie alle anderen Parteien in der Nationalen Front organisiert war.

Seine Frau versuchte sich als Mathelehrerin, als ich in der sechsten Klasse war, wir waren stolze 48 Schüler, davon 41 Jungen. Es passierte im schönsten Raum unserer Schule, es war der Empfangsraum der ehemaligen russischen Botschaft. Aber das nutzte nichts. Frau Kehr wurde regelrecht fertig gemacht, weil alle wußten, daß ihr Mann mit der Wohnungsverteilung zu tun hatte und in der ganzen Stadt verhaßt war. Nach ihrer dritten Stunde rannte sie heulend aus dem Klassenraum und wurde nie wieder gesehen.

Als ich selbst antragsberechtigt geworden war ging ich dienstags um 10 Uhr immer ins Wohnungsamt. Daß ich erst am Nachmittag in den Betrieb zurückkehrte hat keinen meiner Chefs je gestört. War ja alles volkseigen. Am Sprechtag saß auf dem Flur des Amts im Obergeschoß des Roten Schlosses der ganze Abschaum des Weimarer Universums. Es war nicht die Parteinomenklatura, es waren auch nicht die niederen Genossen, die da saßen, sondern die sogenannten „Abgehängten“, wie die Qualitätspresse sich auszudrücken beliebt. Das Pack (nach Sigmar Gabriel) und die Mischpoke (nach Cem Ötzdemir). Die meisten Kunden des Amts kannten sich seit Jahren. Es dauerte Stunden bis man aufgerufen wurde. Dann kam man zum abgeklärten Herrn Just und sagte jede Woche seinen Vers auf. Etwa vier bis acht Wochen ging man ohne Ergebnis nach Hause. Ein paarmal im Jahr überreichte er mit geheimnisvollem Lächeln einen Besichtigungsschein.

Ich ging zur angegebenen Adresse und landete am Jakobsplan Nr. 6 in einem Haus mit der Aufschrift „Niederlage von Stein- und Viehsalz“ (Heute die Planbar). Bereits im Flur wurde mir klar gegen wen das Salz verloren hatte: Gegen heftigen Fäkalgestank. Auf dem Abtritt traf ich Herrn Kiel (Name geändert). Er war geschieden und hatte auch einen Besichtigungsschein für das ehemalige Salzlager. Er wollte die Wohnung nicht haben. Da waren wir schon zwei.

Ich erfuhr von ihm, daß seine geschiedene Frau die eheliche Wohnung behalten hatte. Es nahte der Fasching und ich nutzte das zur Kontktaufnahme. Sie war eine große dunkelhaarige Schönheit und nahm mich mit nach Hause, natürlich unter der Versicherung, daß sie sonst keine Kerle heimschleppt. Ihre Wohnung war top, Sie hatte sogar fließendes Wasser. Die Zimmer waren alle mit Kindern belegt, die in ihren Bettchen träumten. Sie hatte jedes Jahr ein süßes Baby bekommen, was sich auf sechs Stück summiert hatte. In Erziehungsfragen war ich total ungeübt. Ich konnte damals noch nicht mal einen Hund Sitz machen lassen. Die Rolle als Patriarch einer Großfamilie versetze mich in Unruhe und ich verkrümelte mich unter fadenscheinigen Ausflüchten.

Ulli hatte ich in der sechsten Klasse kennen gelernt, als wir im Heizungskeller der Schule (es war die Louin in der Bodelschwighstraße) einen Schuhkarton mit Fotos von nackten Frauen gefunden hatten und uns da durcharbeiteten. Ulli und seine Frau hatten auch Probleme mit dem Wohnraum. Er hatte deswegen einen Ausreiseantrag gestellt. Sein Antrag lief und lief und lief, bis er mit seiner Frau zu den frommen und mit allen geweihten Wassern gewaschenen Padres der Herz-Jesu-Kirche ging. Von da an nahm die Sache Fahrt auf. Die Diener Gottes hatten ihm geheißen den Job zu kündigen. Außerdem war er auf die skurrile Idee gekommen Schwulheit vorzutäuschen. Statt mit einer schönen Frau tanzte ich in einem Jugendklub mit Ulli, um die Abteilung Inneres der Kulturstadt auf die Palme zu jagen. Es funktionierte wie auf Kommando: nach zwei Minuten kamen die Ordner von der FDJ und warfen uns raus. Wir lachten uns ins Fäustchen. Nach weiteren zwei Wochen durfte er mit seiner Frau ausreisen und ich ging weiter dienstags aufs Wohnungsamt.

Irgendwann bekam ich wieder einen Besichtigungsschein. Es war ein Zimmer zu besichtigen, was wenigstens mal nicht nach Fäkalien roch, weil das Gemeinschaftsplumsklo am Ende eines Gangs lag. Auf dem Treppenhaus war ein Ausguß mit fließendem Wasser für drei Mietparteien. Immerhin. Ich nahm die Bude. Die Miete betrug 7,90 Mark im Monat. Davon wurden mir 5,60 Mark für das Säubern des Donnerbalkens erlassen. Wenn der Mieter der oberen Etage aufs Klo ging, regnete es in der unteren Etage Urin durch die Decke. Es war super eklig. Ich verdanke der Partei und dem Wohnungsamt, daß ich bis heute allergiefrei bin. Heute ist das Köstritzer Schwarzbierhaus im Erdgeschoß eingezogen. Ich wollte mal sehen, was aus dem Zimmer geworden ist: Es wurde inclusive der Trockenklos abgerissen.

1980 lernte ich eine schöne Frau kennen, die eine Wohnung mit einem  richtigen Bad hatte. Ich erhielt zunächst die Erlaubnis bei ihr duschen. Nach dem zweiten Duschen verstanden wir uns ganz gut und mein Wohnungsproblem löste sich. Die junge Dame ist nun schon 39 Jahre meine Freundin. Der Teufel richtete es, daß ich ausgerechnet nach dem Einzug bei der Freundin Post vom Wohnungsamt bekam. Ich bekam zwei stattliche Zimmer mit einer unheizbaren Küche und einer Wassertoilette zugewiesen. Nun hatten wir gleich zwei Wohnungen. Eine sogar mit einem Bad. Wir konnten beide bezahlen und behalten: Denn es gab ja die Mietpreisbremse…

Das Beitragsbild zeigt die Schloßgasse in Weimar 1987. In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen (Die Glocke, Friedrich von Schiller).