Heute vor 30 Jahren: 120.000 in Leipzig

Die Feiern zum 40. Jahrestag der DDR waren gut eine Woche her, als immer mehr Landeskinder der Meinung waren, daß es der letzte Geburtstag gewesen sein sollte. Am 9. Oktober waren 70.000 Sachsen aufmarschiert, am 16.10. waren es schon 120.000. Die Sprechchöre hallten von den Fassaden der engen beidseits bebauten Straßen wieder, insbesondere vor Erreichen des Rings. So einen Krach kann man sich nicht vorstellen, das muß man mal gehört haben. Wie Wellen des Geschreis von hinten anrollen, anschwellen, über einen hinweggehen und vorne verebben, während von hinten schon wieder der nächste Slogan skandiert wird. „Wir sind das Volk“, „Reisefrei bis Schanghai“ und „Neues Forum zulassen“ waren Mitte Oktober die beliebtesten Slogans.

Der Demonstrationstourismus hatte begonnen. Mit Trabbi und Eisenbahn fuhren Interessierte nach Leipzig. Bei den vorigen Demos waren von der Partei sogenannte „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ aus umliegenden Städten eingesetzt worden. Sie hatten beim Zusehen Geschmack an der Sache gefunden, berichteten in ihren Orten von den Leipziger Ungeheurlichkeiten und kamen eine Woche später mit neugieriger und unternehmenslustiger Verstärkung wieder, allerdings als Demonstranten.

Ausgerechnet Arbeiter in Uniformen zu stecken, um das System zu retten, war eine interessante Idee. Die Studenten der Staatswissenschaft und der pädagogischen Schulen blieben bis zum Schluß bei der Fahne, auch Oberschüler ließen sich teilweise im Winter 89/90 von der Partei noch mobilisieren. In den Produktionsbetrieben gärte es dagegen schon seit Mitte der 80er Jahre. Im Mai 1986 wurden Kampfgruppen auf der Westautobahn zum Waschen von Autoreifen eingesetzt, wobei schon damals nur rumgemault wurde. Im Winter 1989 zog die Partei die Notbremse und löste die unzuverlässig gewordenen Einheiten auf.