Die Angst nicht dazuzugehören

Ab und zu mache ich einen Spaziergang durch das Wohnviertel meiner Kindheit. Es handelt sich um eine Gartenstadt, die ensprechend den Vorstellungen vom Leben im Grünen etwa 1920 bis 1940 gebastelt wurde. Ja, gebastelt. Schwache Fundamente, dünne Wändchen, die Sperrung gegen Erdfeuchte larifari. Bauen ist was anderes. Lebensreform war damals grade in Mode. Angeekelt von der Verstädterung suchte man einen Kompromiß zwischen Stadt und Land, oder man wollte die gebaute Erinnerung an den Kleinbauernhof, den man verlassen mußte, weil er dutzendmal vererbt und geteilt nicht mehr zum Leben reichte.

Die Häuser sehen heute fast alle aus wie in meiner Kindheit, zumal die Stadt Denkmalschutz über das Viertel gelegt hat. Aber wie haben sich die Gärten verändert! Mit den Hausgärten konnte man überleben. Jedenfalls ein bißchen, und in der Kriegs- und Nachkriegszeit etwas mehr. Ziergehölze gab es nocht nicht, und wenn, dann eher als Nebensache im zwei bis drei Meter breiten Vorgarten. Die Gärten waren durch Lattenzäune getrennt, man wurde vom Nachbarn gesehen und umgekehrt. Unsere Nachbarn waren russische und tartarische Offiziersfamilien. Sie waren eh nie im Garten, weil sie die ganze Freizeit am Westfernsehen rumhingen. Der einzige, der draußen war, war der Tartarenjunge Sascha, der immer Sonnenblumenkerne in der Hosentasche hatte und entgegen dem Verbot der Kommandantura mit mir über die Zäune und Mauern unterwegs war, oder „unnerwegs“, wie das damals hieß.

Meine Eltern hatten ein Gagfahaus gemietet, das ein Buttstädter Handwerker als Wertanlage gekauft hatte, aber nicht selbst bewohnen wollte, weil er selbst ein weniger baufälliges hatte. Die Räume waren klein und der Keller feucht. Wenn es draußen regnete wurde ich in den Orkus geschickt, um das Wasser aufzutitschen, was im Strahl durch die Wand kam. Dabei war das Gebäude damals gerade mal zwanzig Jahre alt.

Das Grundstück war etwa 15 Meter breit und 30 Meter lang. Da standen immerhin zwei Apfelbäume, ein Birnbaum, eine Mirabelle, ein Wal- und ein Hasenußbaum sowie eine Sauerkirsche stramm. Dann war noch Platz für ein Himbeer-, ein Erdbeer- und ein Rosenbeet und soviel Wiese, daß man ein paar Stühle hinstellen konnte. Im Keller bogen sich die Regale unter der Last der Gläser mit Eingewecktem. Vorrang hatten hinsichtlich der Standortbedingungen die Öbster, die Rosen standen an einer düsteren Ecke um die Klärgrube.

Fünfzig Jahre später ist nur noch eine Wiese da mit einigen kümmerlich wachsenden Ziergehölzen. Und das ist rundrum der Befund in allen Gärten. Die Zeitschriften „Schöner Wohnen“ und „Freude am Garten“ haben ganze Arbeit geleistet. Es gilt als ärmlich und kleinbürgerlich Obst im Garten zu haben. Statt dessen haben sich viele Bewohner in Thujahecken eingemauert und Tannenbäume gepflanzt. Klein sind Nadelgehölze immer ganz niedlich. Aber nach 30 Jahren sieht es mit Lebensbäumen und Fichten wie auf dem Friedhof aus. Außerdem haben Lebensbaumwurzeln die böse Eigenschaft mit ihren Wurzeln teuer hergestellte Gartenwege anzuheben, aber das weiß man nicht, wenn man sie anpflanzt.  Als das Blaufichtensterben dran war, mußten Hebebühnen gemietet werden, um die riesigen Dinger unter beengten Verhältnissen zu beseitigen.

Wenn man nach den Gründen fragt, wird vielfach auf das Laub hingewiesen, das im Herbst beseitigt werden muß, etliche meiner Nachbarn schützen auch eine Obstallergie vor. In der Apothekenrundschau liest man von Gluten, Laktose und weiteren Modeallergenen. Was ist nur schädliches in Obst drin? Das Komische ist: In meiner Kindheit gab es noch keine Allergien, stattdessen Hunger und zumindest ständig guten Appetit. Den ersten Allergiker habe ich in den Siebzigern kennengelernt, einen ganzen Schwung am Ende der Achtziger. Sie waren interessanterweise alle aus der Stadt.

Die Wahrheit ist eine andere: Man ist zu bequem geworden das Obst zu ernten, der Platz am Fernseher ist nach Feierabend kraftsparender. Fast kein Mensch legt heute mehr geschnittene Radieschen oder Tomaten aufs Butterbot, obwohl das schmeckt. Und was sollen die anderen Leute denken, wenn man Obst im Garten hat? Gilt man dann als minderbemittelt oder gar als arm?

Und dann sind da noch diejenigen, die Angst vor dem bösen Blick haben. Die haben Thujahecken, der Sitzpatz ist drei Meter hoch abgeschottet, allerdings als Nebenwirkung auch gegen die Landschaft. Eine optische Echokammer oder Filterblase? Das barocke Lebensgefühl liebte dagegen den Blick in die Weite, in den Himmel, in endlose Fernen. Man sehe mal in eine Kirchenkuppel aus der Zeit. Hier ein Sopraporte aus einem westfälischen Schloß, der Maler wurde seinerzeit extra aus Italien geholt.

In Biedermeiergemälden ist am nächsten Berghang Schluß, aber man arrangierte sich noch mit Landschaft im Nahbereich (siehe Beitragsbild mit Leuchtenburg). Im Jugendstil begann das strikte Einpflanzen von Sitzplätzen. Man wollte nichts mehr sehen und nicht gesehen werden. Man kreiste zunehmend um sich selbst. Der Architekt Muthesius propagierte um die Jahrhundertwende die „Raumkunst im Freien“. Ziel waren Architektengärten mit sichtbarer Abgrenzung der Teile, so wie man in einem Haus die Räume durch Wände und Türen abgrenzt. Hier als Beispiel ein Entwurf von Rudolph Bergfeld aus der Zeitschrift „Gartenschönheit“ Jahrgang 1923. Bergfeld gehörte auch zu denen, die mehr waren. 1936 veröffentlichte er einen grundsätzlichen Artikel, der Staatsaufträge versprach: „Wie gelangen wir zu einer deutschen Gartenkunst“. Hinternlecken ist keine neue Sportart aus der Merkelzeit, das gab es auch in den 30ern reichlich.

Diese Gartenarchitektur der Begrenzug ist derzeit wieder beliebt. Der Blick in den Garten und in die Landschaft ist immer auch ein Blick in die weltoffene oder eingesperrte Seele des Gärtners.

 

Grüße an den V-Schutz. Hier gilt die Biermannzeile: „Nur Blumen sanft besing ich“.