Der Meister und Margarita, der Suche nach Margerita zweiter Teil

Teil 2 Einige Bemerkungen über das Leben der Warwara Jakowlewa und das Todschießen sowie eine Abschweifung über das Leben auf dem Lande

  Gastbeitrag von Helmut Roewer

Mit diesem Beitrag setze ich meine Mutmaßungen über den Jahrhundert-Roman Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow fort. Wer war die seltsam aufreizende Frau, die den Teufel und seine Spießgesellen im regierungsamtlich gottlosen Moskau zu soviel todbringendem Schabernack zu animieren vermochte? Hier nun mein Vorschlag Nummer 2.

Es gibt ein amüsantes Foto, auf dem die Heldin dieses Teils meiner Spekulationen über die teuflische Margarita zu sehen ist. Die junge Frau ist sichtlich belustigt, denn sie stellt, halb sitzend an einen Baum gelehnt, einen beschuhten Fuß auf einen ihr im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen liegenden Mann. Doch ach: Das ist das einzige mir bekannte Bild, auf dem sie lächelt. Dabei stammt es aus einer Zeit und persönlichen Umständen, wo man dies weniger erwartet hätte. Es wird auf 1912 datiert und soll ziemlich weit im Osten des Zarenreiches aufgenommen worden sein, wohin man die Delinquentin in Verbannung geschickt hatte.

Als die Aufnahme entstand, fand gerade der vierte Versuch der zaristischen Obrigkeit statt, diese Warwara Nikolajewna Jakowlewa (Яковлева Варвара Николаевна) in eine ihrem Stande und ihrer Herkunft entsprechende Lebensführung zurückzuzwingen. Wie das? Sie kam als die Tochter eines wohletablierten Juweliers in Moskau zur Welt. Das versetzte sie in die Lage, so wie viele ihrer Geschlechts- und Standesgenossinnen, die sich um ihren Unterhalt nicht zu sorgen brauchten, in Traumschlössern zu schwelgen, wie die Welt gerecht zu machen sei. Um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen, schloss sie sich – zwanzigjährig – der russischen Sozialdemokratie an. Da schrieb man das Jahr 1904. Ein Jahr später brach in Sankt Petersburg eine Hungerrevolte los, die von Kosaken des Zaren blutig niedergeritten wurde. Das war das Signal für die Revolution. Über ein Jahr benötigte das alte Regime, um die Lage wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Danach waren vorsichtige Reformen angesagt. Immerhin.

An der Reformierung des Zarenregimes war Jakowlewa nicht beteiligt. Verbannung bedeutete Ausgesperrsein aus den beiden politischen Metropolen des Zarenreichs. Die Wohlhabenderen unter den Verbannten fanden in aller Regel Mittel und Wege, den Verbannungsorten zu entkommen und sich ins Ausland abzusetzen. Berlin, Krakau (damals Österreich-Ungarn), München, Paris und Zürich waren die bevorzugten Fluchtorte. Hier gab es Treffs von Gleichgesinnten in Literatencafés und eine gegenüber den russischen Utopisten weitgehend gleichgültige politische Polizei. Auf solchen Exilwegen wandelte nach ihrer Flucht aus Russland ab 1912 auch Warwara Jakowlewa.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 bewirkte das radikale Abschneiden von den Verhältnissen daheim. Der Postverkehr wurde unterbrochen, von den bis dahin möglichen heimlichen Grenzüberquerungen ganz zu schweigen. Wer sich jetzt im Machtbereich der Mittelmächte aufhielt und nach Russland zurück wollte, benötigte deutsche Zustimmung, um in den Genuss einer Schleusung zu kommen. Dutzende von russischen Revolutionären, die versprachen, das Zarenregime zu schädigen, machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Ob auch Jakowlewa hierzu zählte, habe ich den deutschen Akten (Auswärtiges Amt und Militärgeheimdienst IIIb) zu meinem Verdruss nicht entnehmen können.

Jakowlewa schaffte es jedenfalls via Warschau, was im Sommer 1915 von deutschen Truppen besetzt worden war, rechtzeitig in Russland zurück zu sein, um im September 1917 im Zentralkomitee der Bolschewiki den Aufstand mitzubeschließen und zur Oktoberrevolution 1917 pünktlich in Moskau aufzutauchen. Hier ging sie ohne Verzug ans Werk, die Vorherrschaft der Bolschewiki über all die anderen revolutionären und konterrevolutionären Gruppen und Grüppchen rücksichtslos sicherzustellen. Das war angesichts des ausgebrochenen politischen und wirtschaftlichen Chaos eine Glanzleistung im Sinne von Lenins Griff nach der Weltherrschaft, der aus heutiger Sicht kaum überschätzt werden kann. Als der Rat der Volkskommissare (Lenins russische Regierung) im Frühjahr 1918 aus Furcht vor einem neuerlichen deutschen Vormarsch den Sitz von Petrograd nach Moskau verlegte, traf er dort dank Jakowlewas Organisationtalent und ihrer Durchsetzungskraft auf passablere Verhältnisse als in der einstigen Hauptstadt Peters des Großen, wo es in Wirklichkeit seit März 1917 drunter und drüber ging.

Nachdem in Petrograd der dortige kommunistische Geheimpolizeichef über den Haufen geschossen worden war, wurde Jakowlewa von Lenin im Sommer 1918 in die alte Hauptstadt entsandt, um mit Terror jeglichen Widerstand zu brechen. Schnell ein Blick auf die Organisation, an deren Spitze sie trat, im Amtsgebrauch „Allrussische Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage“ geheißen – im Volksmund bald nur noch nach ihren russischen Anfangsbuchstaben benannt: Tscheka (Чека).
Wir müssen uns hier nicht mit dem Papierkram, der anlässlich der Tscheka-Gründung zur Jahreswende 1917/18 produziert wurde, befassen. Es genügt Lenins Befehl an einen der Akteure: Nehmt die Härtesten und erschießt jeden Zehnten. Das war auch Jakowlewas Handlungsmaxime. Hiervon zeugen die von ihr unterzeichneten Erschießungsbefehle. Wieviel hundert oder gar tausende das waren, und ob sie auch selbst Hand bei den Exekutionen anlegte, ist umstritten.

Lizenz zum Töten: Links Warwara Jakowlewa, die Leiterin der Mord-Kommandos in Petrograd und im gesamten russischen Nordgebiet in einer auf 1918 datierten Aufnahme. In der Mitte das Personal, das dem Befehl von Revolutionsführer Lenin entsprach: Nehmt die Härtesten und erschießt jeden Zehnten. Rechts Gleb Bokij, dessen Spezialität die Erpressung der Superreichen war; sein Motto: Geld oder Leben.

Ebenso zweifelhaft ist Jakowlewas Rolle beim Zusammenwirken mit dem zweiten Mann in ihrer geheimdienstlichen Gruseltruppe. Sein Name war Gleb Bokij. Ideologie war ihm fremd. Seine Überzeugungen – falls es überhaupt welche gehabt haben sollte – entnahm er der Zahlenmystik und ähnlicher in Südrussland im frühen 20. Jahrhundert höchst beliebter Spökenkiekerei. Jedenfalls war ihm klar, dass eine Mitgliedschaft in der Tscheka, die händeringend nach Personal suchte, das Nützliche mit dem Angenehmen kombinierbar machte. Seine Methode: Er konzentrierte sich auf superreiche Klassenfeinde, sperrte sie in konspirative Quartiere ein und erpresste von ihren Familien gigantische Lösesummen in Geld und Wertsachen mit dem Versprechen, nach Zahlung alle Beteiligten über die nahe finnische Grenze ins Ausland abzuschieben. Wo die auf solche Weise angehäuften gigantischen Reichtümer abgeblieben sind, harrt bis heute einer seriösen Aufklärung.

Zum Jahreswechsel 1918/19 wurde das Duo nach Moskau abberufen, um beide zur Verantwortung zu ziehen. Doch das ist nichts als sozialistische Geschichtsklitterung, denn in Wirklichkeit hatten sich die beiden Massenmörder in den Augen von Lenin & Co für andere und drängendere Aufgaben des jungen Sowjetsystems qualifiziert: Jakowlewa wurde schließlich russische Finanzministerin und Bokij Chef einer auf Beschluss des Zentralkomitees von ihm zu gründenden Sonderabteilung der Tscheka. Diese war ausschließlich dem ZK berichtspflichtig, und sie diente der Überwachung der sowjetischen Funktionärskaste, der Nomenklatura.

Ich kann mir einen kleinen Exkurs an dieser Stelle nicht verkneifen. Töten macht bekanntlich erholungsbedürftig. Deswegen rief Bokij eine Landkommune in Kutschino ins Leben. Hierhin zog sich das Mörder-Spitzenpersonal in den heißen Moskauer Sommern zurück, um sich den Vergnügungen des einfachen Lebens hinzugeben. Man lustwandelte in den Parks einstiger Feudalherren, und labte sich an der Natur. Ledermantel und Schirmmütze blieben am Garderobenhaken, denn in diesem eingefriedeten und streng bewachten Territorium ging man nackt. Böse Zungen behaupten, man spielte das Spiel Bäumchen wechsle dich.

Von heiteren Gefühlen bei der Ankunft auf dem Lande… und auch gern mal zur See: Links das feudale Herrenhaus von Kutschino, wo Spitzen-Tschekisten in den Sommerwochen das Leben in einer Nackt-Kommune zelebrierten. Rechts auf einer Segelyacht, Gleb Bokij, als Leiter der Sonderabteilung der Tscheka mit dem dichtenden Vorzeige-Proleten Maxim Gorki, den seine Feinde als den sowjetischen Judas Ischariot bezeichneten.

Erst Mitte der 1930er Jahren änderten sich diese paradiesischen Verhältnisse, als Stalin daranging, alle Personen zu beseitigen, die aus eigenem Erleben bezeugen konnten, dass die Rolle des jetzigen Sowjetführers bei der Oktoberrevolution eine eher bescheidene gewesen war. Bokij wurde als Konterrevolutionär am 20. November 1937 zum Tode verurteilt und erschossen. Jakowlewa betätigte sich derweil als eifrige Denunziantin von Abweichlern und kam mit einer zwanzigjährigen Haftstrafe davon. 1941 wurde diese scheinbare Milde korrigiert. Als die deutschen Panzerspitzen sich in ihrem stürmischen Vormarsch nach Osten der südwestlich von Moskau gelegenen Stadt Orjol (Orel/Орел) näherten, wurden die im dortigen Gefängnis einsitzenden 161 politischen Häftlinge auf eine Exekutionsliste gesetzt, die Stalin abzeichnete. Zwei Tage später, am 11. September 1941, wurde der Mordbefehl ausgeführt: Namentlicher Aufruf, Erschießung im Gefängnishof und Abtransport der Leichen in einen nahegelegenen Wald, wo sie verscharrt wurden. Unter ihnen auch Warwara Jakowlewa.

©Helmut Roewer, Januar 2021