Der Meister und Margarita

       Gastbeitrag von Helmut Roewer

Teil 1 Einige Bemerkungen über das Leben der Margarita Konjenkowa und die Atombombe nebst einer Abschweifung über Albert Einstein

Die Neunzehnjährige, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Atelier des Bildhauers Sergej Konjenkow Modell stand, war von ihren Eltern aus der russischen Provinz nach Moskau geschickt worden. Sie sollte dort wohlbehütet einen juristischen Beruf erlernen. Doch jetzt war sie von Kopf bis Fuß splitterfasernackt, und es lässt sich leicht denken, dass der Vater, ein bekannter und wohlhabender Rechtsanwalt und Hotelier, diesen Auftritt nicht gebilligt haben würde – dies schon deshalb nicht, weil die Plastiken, die Konjenkow schuf, den Portraitierten verdammt ähnlich waren. Konjenkow äußerste hernach, ihn hätten die Hände dieser jungen Frau auf den ersten Blick fasziniert. Nun ja.

Gewiss, es bedarf keiner Begründung, warum einer über eine schöne Frau schreibt, die in ihrem Leben vielen Männern den Kopf verdrehte. Doch, zugegeben, der eigentliche Anlass zu dem Portrait, das ich hier dem Leser vorlege, war das seit Monaten andauernde Mainstream-Gewäsch über die angeblich strukturelle Benachteiligung der Frau. Das ging mir derartig auf den Wecker, dass ich beschloss, irgendwann mal über Frauen zu schreiben, die aus eigenem Antrieb, eigener Kraft und auf ziemlich eigene Art in die Weltgeschichte eingegriffen haben. Den letzten Anstoß, das Thema von der langen Bank zu holen, gab dann der Blogger Wolfgang Prabel, der ein paar Zeilen über den Roman Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow schrieb.

Nach einigem Suchen entdeckte ich das Buch, angestaubt und in den letzten 30 Jahren nur noch bei Umzügen in die Hand genommen. Es handelt sich nach meinem bescheidenen Dafürhalten um die beste Polemik über die ersten anderthalb Jahrzehnte der Sowjetmacht – die Neue Klasse in all ihrer Grausamkeit und Lächerlichkeit, Wundergläubigkeit und Korruptheit. Als ich das Meisterwerk aus der Hand legte, habe ich mir wie schon viele vor mir die Frage gestellt, wer wohl die Personen gewesen sein mögen, an denen Bulgakow so ätzend Maß genommen hat. Die Titelheldin des Buches, die – meist nackt – den Satan zu bestricken weiß, hatte ich bei meiner Suche nach den Originalen weniger im Blick. Doch als dann mein Auge an einem russischen Artikel hängenblieb, in welchem ich beim Überfliegen nur das Wort Маргарита (Margarita) entzifferte, war dies wie ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Nun medias in res. Ich habe mir zwei Russinnen ausgesucht. Beide hätten für Bulgakow Modell stehen können. Bei der einen von beiden bin ich mir ziemlich sicher, dass sie es auch, wiewohl unwissentlich, getan hat. Beide waren etwa gleich alt, kamen aus denkbar wohlhabenden Elternhäusern, fanden in jungen Jahren am sowjetischen Sozialismus Gefallen und griffen in bemerkenswerter Weise in das Weltgeschehen ein. Ansonsten sind sie so unterschiedlich, wie es sich kaum sagen lässt.

Der erste Lebenslauf gehört zu Margarita Iwanowna Konjenkowa, geb. Woronzowa. Ich sagte es schon: Sie stammte aus der Provinz, wurde vom Elternhaus nach Moskau delegiert, um dort mit einer qualifizierten Ausbildung einen juristischen Beruf zu erlernen. Stattdessen lernte sie den damals bereits etablierten, über zwanzig Jahre älteren Bildhauer Sergej Konjenkow kennen, dem sie, wohlgeformt wie sie war, Modell stand. Dieses Privileg hatte bis dahin, soweit ich weiß, nur des Bildhauses erste Ehefrau gehabt.

Wann Margaritas Nacktheit in Konjenkos Atelier begann, kann ich nur raten, jedenfalls entstand um 1914, da war sie 19 Jahre alt, eine erste Skulptur, die ihre Züge trägt. Acht Jahre später waren Bildhauer und Modell verheiratet. Man schrieb das Jahr 1922, da war die Sowjetherrschaft in Moskau gerade vier Jahre alt. Ich nehme an, dass die Obrigkeit dem Bildhauer diese Eheschließung nahelegte, denn sie hatte Großes mit ihm vor. Er sollte das wunderbare System des Neuen Menschen auf einer Ausstellung sowjetischer Kunst in New York, dem kulturellen Mittelpunkt Amerikas, präsentieren. Das war den Moskauer Machthabern so wichtig, dass sie eigens ein Schiff für die Querung des Ozeans charterten. Ich nehme an, dass sie völlig zutreffend kalkulierten, der berühmte Mann mit seinem Modell im Schlepptau werde im prüden freisten Land der Welt nicht gut ankommen. Ein verheirateter Mann mit einer attraktiven Ehefrau, das war eine ganz andere Nummer.


Der Meister und Margarita: Sergej Konjenkow vor zwei seiner Skulpturen, die seine spätere zweite Ehefrau zeigen.

Aus dem beabsichtigten Trip zur New Yorker Ausstellung wurde ein zweiundzwanzigjähriger Aufenthalt. Nunmehr rückt Margarita ins Bild. Sie führte einen, wenn auch unsichtbaren Auftrag im Gepäck, wofür man sie mit dem Decknamen Lukas ausgestattet hatte: Kultivieren von Kontakten in die weit gestreute Russen- und Sympathisantenszene und das Eindringen in Amerikas herrschende Kreise. Das gelang vortrefflich.

Spätestens 1933 gehörten beispielsweise Franklin und Eleanor Roosevelt zu ihrem näheren Bekanntenkreis. Diese beiden saßen immerhin seit März im Weißen Haus. Wer hier ein „na-und?“ einwendet, sollte berücksichtigen, dass Roosevelt genau das vorantrieb, was man in Stalins Sowjetunion kaum zu hoffen gewagt hatte. Er tat das, was man die Normalisierung der Verhältnisse nannte und hielt Stalin für einen serösen Partner, mit dem es lohne, weltweit Krieg zu führen und die Nachkriegswelt neu zu ordnen. Daran glaubte Roosevelt fest bis zu seinem Tod im April 1945. Wie groß Margaritas Anteil an diesem zwölfjährigen Siegeszug in Amerikas besseren Kreisen und der von diesen gelenkten öffentlichen Meinung war, lässt sich mit Hilfe mathematischer Formeln nicht entscheiden.

Den Vogel schoss die Konjenkowa mit der Kultivierung einer intimen Beziehung zu Albert Einstein ab. Diese begann bald nachdem Einstein 1933 in die USA emigriert war. Wann genau aus der Bekanntschaft ein intimes Verhältnis wurde, kann ich nicht sagen. Bekannt ist immerhin, dass Einstein an den Bildhauer-Ehemann geradezu lächerlich lügenhafte Briefe verfasste, in denen er den Russen auf eine vermeintlich ernste Erkrankung seiner Frau hinwies, die eine sofortige, von ihm veranlasste ärztliche Behandlung in frischer Seeluft unabdingbar mache. Es war die Seeluft seines Feriendomizils.

Die Behandlung zog sich. Genau gesagt zog sie sich bis zum August 1945 hin, als die Konjekows in New York ihre Koffer packten und Hals über Kopf die Stadt verließen, um über Seattle und Wladiwostok in ihr Heimatland zurückzureisen. Die beiden Rückreisenden hatten kurz zuvor eine Aufforderung erhalten, gegen die es offenbar keinen Einspruch gab. Der sowjetische Vizekonsul in New York mit dem Aliasnamen Pawel Michailow war der Überbringer der Nachricht gewesen. In Wirklichkeit war der Scheindiplomat Mitarbeiter der Auslandsabteilung des sowjetischen Geheimpolizei. Er sorgte nicht nur dafür, dass die beiden Russen aus New York verschwanden, sondern auch dass, wie man beim Geheimdienst sagt, ein Übergabetreff für Albert Einstein organisiert und durchgeführt wurde. Einstein traf also auf Michailow und traf ihn auch später ohne seine Geliebte weiterhin. Hierüber sind wir durch Einstein selbst unterrichtet, der darüber seiner nunmehr fernen Margarita nach Russland schrieb.

Um der Frage gleich vorzubeugen: Ich weiß es nicht, warum das NKWD seine bis dato so erfolgreichen Illegalen so plötzlich aus den USA abzog. Irgend etwas muss im Sinne der Zentrale schief gelaufen sein. Ich vermute, man fürchtete die Enttarnung. Doch das ist reine Spekulation. Genau darauf machten auch alle diejenigen aufmerksam, die nicht glauben mochten, dass die Ikone des westlichen modernen Denkens, Albert Einstein, in einvernehmlichem Kontakt mit dem sowjetischen Geheimdienst gestanden haben soll. Das scheint mir eine etwas einseitige Sicht der Dinge zu sein. Insbesondere kann das Abwiegeln nicht mit dem Hinweis begründet werden, Einstein habe vom Bau der amerikanischen Atombombe – denn auch darum geht es letztlich – keinerlei Kenntnis gehabt. Er sei, so wird argumentiert, in das einschlägige hochgeheime Manhattan-Projekt zur Entwicklung und Herstellung dieser Horrorwaffe nicht eingebunden gewesen. Soso.

Doch der Reihe nach. Frühzeitig, bereits in den 1920er Jahren, noch war Einstein wohletabliert in Berlin, setzten die sowjetischen Dienste bei Einstein an. Ihr Ziel war es, den Mann gründlich abzuschöpfen und zugleich seine Prominenz und sein Sympathisantentum im eigenen Sinne auszunutzen. Zu diesem Zweck umstellen sie den Promi dicht mit eigenen Leuten. Hier eine Auswahl: Da war der Physiker Dr. Felix Bobeck, der Chemiker Dr. Walter Caro, der Chemiker Fritz Eichenwald, die Sekretärin Erna Eifler, der Derop-Funktionär Fritz Fey, der Mitarbeiter der Zeitschrift Weltbühne Robert Hauschild, der Physiker Dr. Friedrich Houtermans, der Journalist Arthur Koestler, der Schwede Bror Nyström, der Hochschulassistent Dr. Wilhelm Richter und der in Berliner Society-Kreisen irrlichternde Jungfunktionär Leo Roth. Diese Leute verbanden zwei scheinbar unterschiedliche Organisationen: Sie waren Mitglieder im Klub der Geistesarbeiter, einer offen agierenden kommunistischen Vorfeldorganisation, und sie gehörten, ohne im Einzelnen voneinander zu wissen, zum BB-Apparat der KPD unter einem gewissen Fritz Burde, der wiederum dem illegalen Deutschland-Residenten des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU, Oskar Stigga, unterstellt war. Das BB stand für Betriebsberichterstattung und bedeutete Industrie-, Wirtschafts-, Wissenschafts- und Technik-Spionage auf breitester Front zugunsten der Sowjetunion. Den meisten Teilnehmern an diesem klandestinen Geschäft war sonnenklar, auf was sie sich eingelassen hatten. Sie handelten in der ideologischen Überzeugung, an einem großen und wunderbaren Ganzen mitwirken zu dürfen.

Wer genaueres über die Komplizenschaft von Einstein wissen möchte, der greife zur FBI-Personen-Akte, die 1950 über ihn angelegt wurde. Dort wurde den einschlägigen Verbindungen der Jahre 1929-33 akribisch nachgegangen. Der Personenindex zu diesen Akten ist ein Who-is-Who der Sowjetsympathisanten jener Jahre. Welche von diesen zudem brühwarm alles Wissenswerte an den sowjetischen Auslandsdienst weitermeldeten, habe ich soeben aufgezählt. Und Einsteins Rolle hierbei? Zumindest diese hier ist bezeugt: Seine Anschrift wurde von einem knappen Dutzend von GRU-Agenten und deren Führungsoffizieren als Deckadresse für den Telegrammverkehr aus aller Welt benutzt. Hat er nix gewusst? Ich denke, das sollte man nicht ernsthaft in Betracht ziehen.

Nur zur Ergänzung für diejenigen Leser, zu deren Alltag das Einrichten von Deckadressen nicht gehört: Ein prominenter Professor mit weltweiten Kontakten lernt im Club der Geistesarbeiter einen jüngeren Mann namens Edgar kennen, mit dem ihn einer seiner Wissenschaftskumpel bekanntmacht. Er lässt sich von Edgar erklären, dass er künftig sehr viel mehr Telegramm-Post aus aller Welt bekommen wird, die nicht für ihn bestimmt ist, sondern für diverse wichtige Mitarbeiter der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin. Diese werden ihre Post durch Kuriere abholen lassen. Einstein selbst brauche sich um nichts zu kümmern, das Notwendige werden Einsteins Sekretärinnen erledigen, zu denen er, Edgar, volles Vertrauen habe. Edgar war der BB-Spitzenmann Fritz Burde. Er diente zugleich dem sowjetischen Militärdienst GRU und bezog sein Gehalt als ein Scheinangestellter der sowjetischen Handelsvertretung.

Die Berliner sowjetische Handelsvertretung jener Jahre war das Zentrum der Sowjetspionage für Mittel- und Westeuropa. Sie war das, was man beim Geheimdienst ein legales Dach nennt, denn hier arbeiteten einige hundert Personen, die mit Handelsgeschäften im landläufigen Sinne nichts am Hut hatten. Leute aus aller Herren Länder, bevorzugt aber Deutsche und Russen. Einer von denen war ein Mann mit Namen Dimitrij Iwanowitsch Marjanow, ein angeblich in der Handelsvertretung angestellter Sowjetjournalist. Er tat etwas eher Unerwartetes. Er heiratete 1930 Einsteins Stieftochter Margot. Die Bilder des Ereignisses gingen durch die Glamour-Presse. Daher kennen wir auch Dimitrijs Konterfei. Erstaunlich genug: Als die Einsteins Berlin 1933 in Richtung USA verließen, reiste der Russe mit ihnen. Einfach so, später ging er in den USA verloren. Da war die Verbindung zwischen Einstein und seiner schönen Muse Margarita hergestellt. Die Experten rätseln, ob es die Freundschaft zwischen der Einstein-Stieftochter Margot und der fast gleichalten Russin war, die die Affäre auslöste, oder ob nicht vielmehr zunächst der sowjetische Stiefschwiegersohn die ersten Fäden spann. Ich tippe auf die letztgenannte Variante. Als er nicht mehr gebraucht wurde, verschwand er in den Straßenschluchten von New York.


Bildfetzen einer konspirativen Beziehung: Einsteins Sowjet-Schwiegersohn Dimitrij Marjankow, der vermutlich die Verbindung herstellte, etwa 1930 mit Einstein-Stieftochter Margot in Einsteins Villa in Caputh; die Zentralfigur Margarita Konjenkowa im Zenit ihres Schaffens als NKWD-Agentin Lukas, 1938; Einstein und Margarita, ca. 1943/44, kurz vor dem Ende ihrer Beziehung.

Wie auch immer. Die Affäre Margarita-Albert dauerte mindestens ein Jahrzehnt. In dieser Zeit ging bei den Einsteins ein und aus, was in der amerikanischen Wissenschaftsgemeinde Rang und Namen hatte. Darunter auch Robert Oppenheimer, der Chef des Manhattan-Projekts und mancher andere aus seinem Dunstkreis. Die haben sich mit Einstein fotografieren lassen, aber nicht mit ihm gesprochen? Kaum zu glauben. Was war die Rolle von Margarita, der Schwalbe, wie man diese Funktion in den russischen Diensten nennt? Sie erkundete das Umfeld und schaffte Gelegenheiten. Wer gehört zum Atomprojekt dazu und warum. Wie erfolgreich diese Umfeld-Aufklärung zielgenau gediehen war, wurde den Amerikanern klar, als sie die Unterwanderung ihrer Atomschmiede ab 1949 ernsthaft unter die Lupe nahmen. Sie hatten Anlass zu diesem Tun, denn der erfolgreiche sowjetische Kernwaffenversuch von Semipalatinsk ließ ihre wunderbare Vision von der Alleinherrschaft dank Kernwaffen wie ein Kartenhaus zusammenstürzen.

 

©Helmut Roewer, Dezember 2020