Welt retten mit Goethe

Angesichts der Dummheiten der „letzten Generation“ bin ich versucht nach historischen Vergleichen zu fahnden. Wann hat die Jugend bisher so radikal gegen die Tradition rebelliert und solchen Schaden angerichtet? Sicher, die Lösung ist trivial. Vor hundert Jahren hat sich die Jugendbewegung über den Jugendstil, den Expressionismus, den Aktionismus und Futurismus in immer riskantere Raserei verloren: in den Bolschewismus, Faschismus, Nationalsozialismus und Maoismus mit ihren Kulturrevolutionen.

Was weniger bekannt ist: Noch einhundert Jahre früher tobte der Sturm und Drang sich aus. Da ich am Rande der Kulturstadt aufgewachsen bin, möchte ich einige Höhepunkte dieser Entgleisungen zum Besten geben:

Der von mir oft zitierte Goethe reiste am 7. November 1775 26jährig in der Kluft seines Romanhelden Werther – blauer Frack, gelbe Hosen in Stulpenstiefeln – in die Residenz des Herzogtums Sachsen-Weimar und Eisenach, und das kam so:

Carl August war der älteste Sohn des Herzogs Ernst August II. Konstantin und dessen Ehefrau Anna Amalia, einer Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel. Er verlor seinen ständig kränkelnden Vater schon ein Jahr nach seiner Geburt. Unter der Vormundschaft seiner umsichtigen Mutter lag die Erziehung des Erbprinzen in verschiedenen Händen, zuletzt auch in denen des Dichters Christoph Martin Wieland. Unter der Aufsicht seines Erziehers Johann Eustach von Görtz unternahm Carl August 1774 eine Bildungsreise nach Frankreich. Auf der Rückreise besuchte er den Hof in Darmstadt, wo er sich mit der gleichaltrigen Prinzessin Luise verlobte. Anschließend führte die Reise nach Frankfurt, weil der Erbprinz Johann Wolfgang Goethe sehen wollte, den er bei diesem Treffen nach Weimar einlud. Als Goethe in Weimar aufschlug, war Carl August endlich 18, pubertierender und mit der hessischen Prinzessin jung vermälter Herzog.

Wir befanden uns am Ausgange des Feudalismus,

Dichter und Herzog rauften sich rasch zum Halbstarkenduo zusammen, das zum Ärgerniß der Bürger morgens stundenlang auf dem Marktplatz die Hetzjagdpeitsche knallen ließ und im wilden Galopp durch die damals noch ungepflasterte Innenstadt raste. Charlotte von Stein stellte Goethe brieflich die Frage, „Welchen Sinn hat es dann: Dies wilde Jagen, scharfe Reiten, die Klatschen mit der großen Peitsche, wobei alle, die in der Nähe sind, zusammenschrecken? Das sind Jungenstreiche!“ Eine Wiemarsche Fremdenführerin behauptet gar: „Damit nicht genug, sie ließen Frauen ihre Röcke heben und die Peitsche druntersausen“. Frau von Stein ein andermal an den Verfasser des Werther: „Und dann sein unanständiges Betragen, sein Fluchen, seine pöbelhaften niederen Ausdrücke.“

Nachts ritten Goethe und der Herzog eingehüllt in Bettlaken zu Pferde durch Weimar, so als Geister oder Gespenster kostümiert, die Bürger zu verschrecken. Einmal vermauerten sie der gehbehinderten Hofdame Louise von Göchhausen am Abend die Türe, daß die ihre Wohnräume bei der Herzogin nicht finden und betreten konnte und verzweifelt in der frisch verputzten Wand den Eingang suchte.

Johann Heinrich Voß schrieb 1776 seiner Frau einen Brief: „In Weimar geht es erschrecklich zu, der Herzog läuft mit Goethen wie ein wilder Pursche in den Dörfern rum, er besäuft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm.“
Die aus solchen Gangbangs entstandenen, sogenannten Kegelkinder des Herzogs verteilte Goethe im Auftrag seines Herren an Förster und Jäger, einmal auch an seinen Freund Karl-Ludwig von Knebel. Und bei Anna Amalia im Literatenzirkel sinnierten die Männer dann darüber, daß „man in hiesiger Gegend so wenig erträgliche Gesichter unter den Bauernmädeln fände“. Wieland vermutete, es läge an ihrem exzessiven Kuchenkonsum, Goethe bemängelte das Lastentragen auf dem Rücken als Ursache.

Der letzte Prinzenerzieher des Großherzogtums, Dr. Hirsch, wanderte 1959 eines Sonntags stundenlang mit meinem Vater durch die Kulturstadt, um ihm alle Örtlichkeiten zu zeigen, wo die beiden Musenfreunde sich sexuell betätigt hatten, durch welche Tür, durch welches Fenster sie bei welcher jungen Dame eingedrungen wären. Das Mittagessen war inzwischen kalt geworden, und es gab eine schreckliche häusliche Szene, als mein Erzeuger völlig verspätet endlich auftauchte. Ähnlich ging es im Hausstand von Carl August zu: Seine Frau war wegen der zahlreichen Eskapaden ihres Gatten wütend, man lebte mehr oder weniger getrennt, der Herzog, später Großherzog arrangierte sich mit einer Schauspielerin vom Hoftheater, die wiederum gegen Goethe intrigierte.

Zahlreiche „Streiche“ richteten sich gegen fleißige Untertanen. Herzog und Dichter ersäuften in der Wallendorfer Mühle einer Frau ihre Katze im Butterfaß, kehrten nach einiger Zeit zurück und wollten der vermeintlich Geschädigten ein Goldstück schenken. Darauf sie: „Die Butter haben wir an den Hof nach Weimar verkauft – da fressen sie alles“.

Der Jungunternehmer Friedrich Justin Bertuch hatte gerade erstmals seine junge Frau ins prächtige Palais in der Bürgerschulstraße heimgeführt, da störte Lärm vor dem Portal. Bertuch öffnete und ward vom Duo Infernale in die Empfangshalle gedrängt. Sie schimpften ihn als Spießer, empörten sich, daß er die Wände mit Tapeten verziert und rissen die teuren Papiere mit ihren Degen herunter, zündeten ein Buch auf seinem Schreibtisch an und drohten, den großen Spiegel zu zertrümmern. Die junge Frau fragte sich, wo sie denn nune wohl gelandet sei.

Auch in der Ilmenauer Enklave waren die fleißigen Steuerzahler nicht sicher: „Früh in der Glashütte dann Glasern geschunden”, heißt es in den Annalen.  Johann Elias Glaser war ein wohlhabender Kaufmann, in dessen Haus in Stützerbach die Hofgesellschaft öfters einkehrte und ihr Mütchen kühlte: Mal beschrifteten sie im Lager seine Waren neu, dann trugen sie ihm Fässer vors Haus und ließen sie den Berg hinabkollern. Besonders stolz war der Hausherr auf das Portrait eines Künstlers von sich. Goethe, so berichtet der Berghauptmann von Trebra, schnitt das „breite, blonde, fade Gesicht” des Gastgebers aus dem Ölgemälde und ergötzte die Runde, indem er sein eigenes hinter das Loch hielt.

Einmal machte man Einsiedeln (ich habe nicht herausfinden können, ob es sich um Johann August oder Friedrich Hildebrand von Einsiedel handelte), der gern lang im Bett liegen blieb, aus geriebenen u. eingerührten Pefferkuchen eine Sauce unter den Hintern ins Bettuch, weckte ihn nun, u. schrie auf ihn, als einen Bettverunreiniger, los. Er sprang auf, zog das besudelte Hemde aus, und verfolgte damit neckend alle Leute im Hause. Göthe warf unterdessen das Bettuch durch ein Loch in die Unterstube u. brüllte: seht die Sau! So notierte es Karl August Böttiger, der gewissenhaft Tagebuch über die hemmungslosen Umtriebe führte.

Dem Darmstädter Freund Merck erstattet Goethe am 22. Januar 1776 brieflich Bericht: „Ich bin nun ganz in alle Hof- und politische Händel verwickelt … Meine Lage ist vorteilhaft genug, und die Herzogtümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesichte stünde.“

Die Werktätigen wurden von den Feudalisten schon immer gering geschätzt, wie man sieht. Weltretten und Weltrolle, ein bißchen kleiner ging die Begründung schon 1776 nicht.

 

Grüße an den Inlandsgeheimdienst:

Wer bist du, Fürst, daß ohne Scheu
Zerrollen mich dein Wagenrad,
Zerschlagen darf dein Roß?

(Gottfried August Bürger, 1773)

 

Beitragsbild: Goethe und Carl August, Archiv des Verf.