Die Ukraine – eine künstliche Mißgeburt

Die alte Westukraine war bis 1939 Teil von großen Multikultistaaten. Erst gehörte sie zum Großfürstentum Litauen, dann zur mit Polen vereinigten Rzeczpospolita, dann zu Österreich-Ungarn und zum Schluß zur Republik Polen. Die Ostukraine dagegen gehörte zur Goldenen Horde, zum Chanat der Krimtartaren, zur Türkei und zu Rußland. Zeitweise genossen die Kosaken eine weitgehende Autonomie.

Die Rzeczpospolita, die Königliche Republik der polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen, war ein Staat, der das heutige Belorußland, Litauen, Lettland, die Westukraine, den Süden Estlands und den Osten von Polen umfaßte. Es war eine Adelsrepublik, in der die Volkszugehörigkeit für die soziale Stellung nicht maßgeblich war, sondern die Stellung in der feudalen Pyramide. Besonders im Osten gab es bis zur russischen Besetzung noch viele freie Bauern, die nach 1772 von Katharina II zu Kronbauern gemacht, also versklavt wurden. Neben Weißrussen, Ukrainern, Polen, Litauern, Letten, Esten, Deutschen und Russen bewohnten viele Juden den Staat. Noch um 1900 machten Juden 12 % der Gebietsbevölkerung aus, obwohl viele vor der oft tödlichen orthodoxen Gewalt bereits geflohen waren. Das Nationalitätenproblem war im alten Litauen vor 1772 noch nicht virulent, weil die Idee der Nationalstaaten erst mit der französischen Revolution aufkam und die Sprache noch kein Spaltpilz war. Höhere Bildung war im 18. Jahrhundert und davor international, da in Latein vermittelt. Die Edelmetallwährung ermöglichte ein Koexistieren unterschiedlicher Wirtschaftsformen, ohne daß eine zentrale Bürokratisierung erfolgen mußte.

Litauische Hochzeit
Litauische Hochzeit

Nach der Teilung Polens 1772 bis 1795 kam der äußerste Westen der Ukraine zu Österreich, der mittlere Bereich der Ukraine wurde russisch. Letzteres war mit dem Verlust der Bürgerrechte verbunden, nur der niedere Adel behielt seine Rechte. Zum Beispiel wurde 1791 durch einen Ukas der Zarin Katharina II. festgelegt, dass Juden nur innerhalb bestimmter Gebiete, der sogenannten Ansiedlungsrayons leben durften.

In Österreich wohnten um 1900 9,2 Millionen Deutsche, 6 Millionen Tschechen, 4,2 Millionen Polen, 3,4 Millionen Ukrainer, 1 Millionen Slowenen, 0,7 Millionen Italiener und 1 Million sonstige Völker. Etwa jeder siebente Einwohner war also Ukrainer. Formell hatten die Ukrainer die gleichen Rechte, wie alle anderen Völker, aber die begeisterte Gemeinschaftsstimmung wollte im Habsburger Reich nicht mehr aufkommen. Bindemittel im Reich war nur noch die russische Bedrohung. Nach dem Zerfall Österreichs wurde die Westukraine wieder Teil Polens. Der Erste Marschall Pilsudski bemühte sich um eine rationale Nationalitätenpolitik, aber in einer Welt zunehmender Bedeutung der Schulbildung und des mit ihr verbundenen Sprachenstreits sowie der Bürokratisierung ließen sich die Verhältnisse des Großfürstentums Litauen nicht 1:1 restaurieren.

Im russischen Teil der Ukraine gab es nie Frieden. Immer wieder kam es im Zarenreich zu Progromen. Nach der Revolution wurden die Ukrainer regelrecht ausgehungert. Millionen starben. Dann kam die Vernichtung der Kulaken und zum Schluß herrschte ein allgemeiner Terror, in dem keiner mehr wußte, wo hinten und vorne war. Ab 1941 ließ Hitler die Juden, denen er habhaft wurde, vergasen und Stalin organisierte anschließend eine große Umvolkung. 175.000 Juden, die überlebt hatten, wurden nach Israel abgeschoben. Millionen Polen wurden vertrieben. Die Krimtartaren wurden fast ausgerottet. Ethnisch und religiös ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Zum Beispiel wurde die ukrainisch-katholische Kirche jahrzehntelang verfolgt.

Aus den von Ukrainern bewohnten Ländereien wurde von den Bolschewiken eine Sowjetrepublik gegründet, die es in diesen Grenzen historisch noch nie gegeben hatte. Ein unhistorisches Konstrukt entstand, dem zum Schluß von Nikita Chrustschow noch der Zankapfel Krim überschrieben wurde.

Es gibt kein Volk, welches unter Katharina II, Alexander III, Lenin, Stalin, Hitler und wieder Stalin mehr gelitten hat, als die Ukrainer. Trotz allem Terror hat sich im Westen der Ukraine ein Restchen Lebensgefühl der  Rzeczpospolita erhalten. Im Osten dagegen herrscht die russische Tradition. Alle Wahlergebnisse nach 1990 zeigen die tiefe Spaltung des Landes. Der Osten hat immer diametral entgegengesetzt gewählt, als der Westen.

Ein Blick auf den Balkan zeigt uns die Lösung für das gegenseitige Akzeptanzproblem. In Ex-Jugoslawien ist Friede eingekehrt, als die Ergebnisse von Versailles revidiert worden waren und die Verhältnisse der Zeit um 1900 annähernd wieder hergestellt waren. Der Ukraine steht die Revision der jüngeren Geschichte noch bevor. Es sind keine ethnischen, sondern historische Grenzen, die den Frieden bringen werden, wenn es denn einen Frieden geben wird, der den Namen verdient.

Der romantische Dichter Adam Mickiewicz blickte 1834 sentimental auf das freiheitliche Multikultireich Litauen zurück:

Litwo! Ojczyzno moja! ty jesteś jak zdrowie;
Ile cię trzeba cenić, ten tylko się dowie, Kto cię stracił.

(Litauen! Wie die Gesundheit bist du, mein Vaterland;
Wer dich noch nie verloren, der hat dich nicht erkannt.)

Litauen ist lange verloren und bis auf die Grundmauern zerstört; es läßt sich in der alten Vielfalt nicht rekonstruieren. Trotzdem muß die Ukraine geteilt werden, damit die langen Schatten der Vergangenheit verschwinden und Gras über der Geschichte wachsen kann.

Eine russische Anekdote illustriert die derzeitige Liebe zwischen Russen und Ukrainern: Putin grillt den ukrainischen Präsidenten über dem Kohlenfeuer. Daneben steht der weißrussische Präsident Lukaschenka und fragt: „Wladimir Wladimirowitsch, warum drehst du ihn so schnell?“ Putin: „Langsamer kann ich nicht. Er stiehlt Kohle.“