Die Begeisterung für die Oktoberrevolution

Noch 1892 bekannte sich Stefan George in seinen „Blättern für die Kunst“ zur „kunst für die kunst“ mit einem Primat für die Schönheit. Bengt Algot Sörensen schrieb  in seiner „Geschichte der deutschen Literatur“ dazu:

„Dekadenz und Ästhetizismus verbanden sich mühelos miteinander. Der Typus des Ästheten, der das eigene Leben und die Umwelt nicht mit moralischen Kategorien von Gut und Böse, sondern mit den ästhetischen Begriffen von Schön und Häßlich bemisst, gehört zusammen mit dem Dandy und dem Dilettanten zu den Lieblingsfiguren der damaligen Literatur.“

Bei dieser elitären Distanz der Kunst zur Realität und damit auch zur Politik sollte es nicht bleiben. Im Werk von Käthe Kollwitz hatte sich bereits 1899 eine verwirrende Episode der Gewalt offenbart, die man politisch deuten konnte. In Ihrem Bild „Aufruhr“ waren alle Waffengattungen vertreten, von der archaischen Hellebarde über die Sense, die Axt bis zum frühen Maschinengewehr. Auf einem Hügel im Hintergund brennt ein Gebäude, aber die Fanatiker scheinen von diesem Gebäude herzukommen. Ihr Tatendurst hatte sich dort offensichtlich noch nicht erschöpft.

Nietzsche, Wagner und George hatten die Politisierung der Kunst abgelehnt, da diese dabei mit der Masse in Berührung käme.

„Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt wird er gar noch Pöbel“.

Bereits in der Spätkaiserzeit bekam der von den reformistischen Patriarchen zwischen Kunst und Politik aufgerichtete Damm feuchte Stellen und kurz vor dem Krieg erste Risse. Im Weltkrieg brach er. Die erste expressionistische Zeitschrift, die sich offen politisch bekannte, war die „Aktion“, die den Untertitel „Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst“ trug und seit 1911 erschien. Sie ließ vor dem Weltkrieg eine große Bandbreite der Meinungen von links bis extrem rechts zu und schwenkte nach dem Weltkrieg wie viele andere Kulturpublikationen auf eine linkselitaristische Richtung ein, das heißt sie wurde für Wandervögel geschrieben, die sich mit Marx im Schnellkurs beschäftigt hatten, oder über Dritte von ihm gehört hatten.

„Im Milieu des „Sturm“ gingen künstlerische und politische Revolution nahtlos ineinander über. Die Kunst entdeckte ihr Potential als visuelle Propagandamaschine; Der Aufstand wurde auf der Leinwand geprobt. Diese Neudefinition von Kunst als erneuernde gesellschaftliche Funktion wirkte auf die Ideologien nicht nur des Dadaismus und des Bauhauses, sondern auch des Dritten Reiches.“  Im Ersten Weltkrieg kam es zur breiten Indienststellung der Kunst als Waffe. Nach dem Krieg wurden gerade die schlimmsten Kriegshetzer oft bekennende Sozialisten, Kommunisten oder Pazifisten. Das war keine spezifisch deutsche Erscheinung, sondern eine mitteleuropäische insgesamt.

Antibürgerlichkeit, Nonkonformismus, Nationalismus und Kommunismus konnten sich völlig durchdringen und die Auswüchse dieser Ideologien verwuchsen zu gordischen Knoten.

Es drängt sich rückblickend die Frage auf, warum aus deutschtümelnden und parteipolitisch ungebundenen Expressionisten nach dem Weltkrieg Parteigänger Stalins und Hitlers wurden. Die Antwort ist sehr einfach. Die von den Intellektuellen ersehnte Reinigungskatastrophe, der erste Weltkrieg hatte mit Geländegewinnen verheißungsvoll begonnen, nach dem Sonderfrieden im Osten im Frühjahr 1918 jubilierten einige reformistische Optimisten wie Fidus, Tucholsky, Döblin und Rathenau, weil sie sich am Ziel ihrer Wünsche glaubten. Ende 1918 war jedoch klar geworden, dass Deutschland als Träger der Kultur des Neuen Menschen den Krieg gegen England, Frankreich und Amerika als Wahrer einer tradierten bürgerlichen Ordnung verloren hatte. Alle Naturgesetze der idealistischen Alchimie hatten versagt; das unmöglich geglaubte war eingetreten: das vermeintlich junge idealistische kraftvolle Deutschland hatte weniger Kraft entwickelt, als die alten angeblich verbrauchten Mächte des Materialismus. Die deutsche Niederlage konnte nach dem Epochenverständnis der mitteleuropäischen Intelligentsia nicht durch die Ohnmacht des Idealismus entstanden sein; man hatte sich in der Rolle und Charakteristik Deutschlands getäuscht, und Russland als Hort der Erneuerung unterschätzt. Man versammelte sich an den Offenbarungen der leninschen Imperialismustheorie und machte sich seinen Epochenbegriff zu eigen, der durchaus nicht zufällig zum eigenen Weltbild passte.

Die verschiedenen Quellen, die in Schwabing entsprungen waren – und dazu gehörte auch der Leninismus – führten in eine neue Hoffnung: Im Osten geht die Sonne auf. Im Osten war mit der Oktoberrevolutiion eine neue Verheißung und eine intellektuelle Verlockung entstanden: der alten Welt Europas einen jungen, kraftvollen und antibürgerlichen Gegenpol zu präsentieren, der in der Anfangsphase konstruktivistische und expressionistische Experimente zuließ und den durch die Kriegsniederlage verzweifelten deutschen Expressionisten ein geistiges Shangri La bescherte. Nichts wollte man mehr mit der Niederlage zu tun haben, die Vorkriegsaktivitäten wurden verdrängt und man gab sich als scharfer Kriegsgegner aus.

Die kriegsbegeisterten Vorkriegsteutonen Käthe Kollwitz, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Heinrich Vogeler, Herwarth Walden, Alfred Paquet, Alfred Kerr, Adolf Grabowsky, Ernst Toller und viele andere gaben sich nicht nur pazifistisch, sondern sahen in Sowjetrußland, später in der Sowjetunion die Sonne des Aktivismus und Elitarismus aufgehen.

Es waren nicht Lenins langweilige Schriften, welche die deutschen Expressionisten als Botschaften der Oktoberrevolution zur Kenntnis nahmen. Solche wolkigen Sentenzen wie die folgende aus dem Artikel „Catilina“ von Alexander Blok begeisterten eher und stellten die Brüderschaft im Geiste her:

„Man muss starke Schwanenschwingen haben, um emporzuschweben, lange in der Luft zu verweilen, um dann unversehrt zurückzukehren, ohne von jenem Weltbrand versengt zu werden, dessen Zeugen und Zeitgenossen wir sind; dieser Brand wächst und wird sich noch lange und unaufhaltsam verbreiten, wird seine Feuerherde von Ost nach West und von West nach Ost jagen, bis endlich die gesamte alte, morsche Welt zu Schutt verbrennt.“

Das war Nietzsche vom reinsten Wasser; diese Sentenzen hatten mit Marx und Engels nicht einmal soviel zu tun, wie ein grönländischer Eskimo mit einem Broker in der Wallstreet.

Wichtiger noch als die idealistische Gesinnung zu retten: man war sogenannter Sieger der Geschichte, wenn man sich als Anhänger der Moskauer Kommissare begriff. Als Sieger der Oktoberrevolution (später auch nach Mussolinis Marsch auf Rom) hatte man in seiner antibürgerlichen Haltung der Vorkriegszeit Recht behalten, man war trotz Deutschlands Niederlage ideologisch bestätigt worden und die Ahnung vom Sieg des kraftvollen Idealismus über den abgelebten Materialismus der alten Welt war in Erfüllung gegangen.

Damit das schräge Siegespanorama ganz in sich stimmte, musste Deutschland den Siegermächten in seiner historischen Überholtheit gleichgestellt werden. Das revolutionäre Russland grenzte sich von der übrigen mehr oder weniger bürgerlichen Welt scharf ab und die Intellektuellen folgten dieser Sicht. Deutschland war besiegt, aber der Nietzscheanismus und der Neue Mensch in den Höhen des expressionistischen Geistes waren gerettet worden. Diese Präferenz für die einmal eingepaukten ideologischen Glaubenssätze und die Flexibilität in deren Umsetzung zeigte sich 1933 ein weiteres Mal, als einige ausgewiesene Exponenten der proletarischen Kunst ins Braunhemd schlüpften, nur weil sie Hitlers Germanenschwärmerei als irdische Wiederspiegelung ihrer reformistischen Ersatzreligion erahnten und „erschauten“. Den Grundansatz, einen antibürgerlichen Homunkulus zu erschaffen, teilten Expressionismus, Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Die Braunen gaben ihren rassistischen Ansatz offen zu. Die Roten führten den Kampf um die Vorherrschaft der russischen Rasse und die Überlegenheit von Parteifunktionären hinter dem Bühnenbild des Klassenkampfs, der in nachrevolutionären Zeiten der klassenlosen Kastengesellschaft eine steinzeitliche Kulisse war.

Ein Teil der Expressionisten lief der KPD hinterher, der andere Teil und die überwiegende Mehrzahl der reformistischen und ästhetizistischen Kulturbürger igelte sich in den zwanziger Jahren im Schrein der inneren Emigration ein und entschied sich 1933 zwischen Wegzug, stillschweigender Zustimmung und zur Schau gestellter Begeisterung für das Dritte Reich.

Im abgeschotteten Tempel der reinen Kunst wurde sublim politisiert: Hermann Hesse legte 1919 seinem literarischen Sprachrohr, dem Maler Klingsor, folgende Worte in den Mund:

„Ich glaube nur an eines: an den Untergang. Wir fahren in einem Wagen über dem Abgrund, und die Pferde sind scheu geworden. Wir stehen im Untergang, wir alle, wir müssen sterben, wir müssen wieder geboren werden, die große Wende ist für uns gekommen. Es ist überall das gleiche: der große Krieg, die große Wandlung in der Kunst, der große Zusammenbruch der Staaten des Westens. Bei uns im alten Europa ist alles das gestorben, was bei uns gut und unser eigen war; unsre schöne Vernunft ist Irrsinn geworden, unser Geld ist Papier, unsre Maschinen können bloß noch schießen und explodieren, unsre Kunst ist Selbstmord.“

In der ideologischen Schusterstube Hermann Hesses wurde der Westen über den selbstgebastelten teutonischen Leisten geschlagen, ohne dass es etwas nützte: die ausgetretenen deutschen Schlappen fielen von den Füßen, während Amerika vorbeizog und trotz einiger selbstgemachter Unzulänglichkeiten für eine gewisse Zeit Weltmacht wurde.

Hesse ließ seinen Klingsor bramarbasieren:

„.. ich spreche von Europa, von unserem alten Europa, das zweitausend Jahre lang das Gehirn der Welt zu sein glaubte. Dies geht unter. (…) Aber wir gehen gerne unter, du, wir sterben gerne, aber wir wehren uns nicht. (…) Hoffentlich wird auch das Ende dann ein plötzliches sein und diese betrunkene Welt untergehen, statt wieder in ein bürgerliches Tempo zu verfallen.“

Die Welt ging trotz aller Mühen nicht unter. Selbst die deutsche Uhr verfiel in den fünfziger Jahren wieder in ein bürgerliches Tempo.

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