Wenn Völker aufeinander schlagen

„Demirtaş – der neue Star in Ankara“. So lautete die Headline auf ntv nach der Wahl in der Türkei im Juni 2015. Die Kurdenpartei HDP von Selahattin Demirtaş hatte die 10-Prozenthürde übersprungen und alle ausländischen Phantasten, Schöndenker und Weltverbesserer glaubten an eine neue multikulturelle, weltoffene, multireligiöse, demokratische, multisexuelle und friedliche Türkei, in der bereits bei Sonnenaufgang unter der Regenbogenfahne mit Hammer und Sichel als Besteck zum Geläut von Kirchenglocken und dem Gesang des Muezzins Veganfalafeln an Schweinebraten gereicht werden.

Den mit levantinischen Finessen und orientalischer Machtentfaltung vertrauten türkischen Beobachtern war jedoch von vornherein klar, daß Staatspräsident Erdogan nach dem Verlust der Parlamentsmehrheit konsequent auf Neuwahlen hinarbeiten würde. Sie werden Recht bekommen. Ein Selbstmordanschlag an der Südgrenze ergab für Erdogan die Handhabe, um gegen die Kurden loszuschlagen und ein allgemeines Chaos zu erzeugen, in dem die Türken im Herbst einen starken Retter wählen werden.

Die neue Liebe zwischen den Kurden und den Mainstreammedien des Westens hat einen Grund. Der Altstalinist und PKK-Führer Abdullah Öcalan hatte eingesehen, daß man mit dem Marxismus-Leninismus außer in Havanna und Caracas keinen Hund mehr hinter dem Ofen vorlocken kann. Flugs schrieb er sein neues Programm auf die Lieblingsthesen der westlichen selbsternannten Weltenretter und Eine-Welt-Aktivisten zu:

1. Die Zeit, in welcher der Westen die Geschichte schreibt, geht zu Ende – wir befinden uns an der Schwelle zu einer neuen Welt.
2. Die Aufklärung, die verordnete Modernisierung und das Konzept des Nationalstaats sind zusammengebrochen.
3. Wenn nicht alle Völker der Region zusammenkommen und den Willen zum Zusammenleben und die Fähigkeit beweisen, hierfür ein Modell zu entwickeln, werden sie unter der Hegemonie der Weltmächte in Schmach leben und darüber hinaus viel an wechselseitigem Blutvergießen erleben.
4. Die neue Welt, die aus dem Neo-Imperialismus, dem Nationalstaat und dem schweren historischen Erbe heraus entstehen wird, können wir nicht unter Bezugnahme auf die Omayyaden, Abbasiden, Safawiden oder Osmanen gründen.
5. Sunniten, Schiiten, Wahhabiten, Salafisten können nicht allein das verbindende Dach über den Völker dieser Region erbauen – jede Rechtsschule muss damit einverstanden sein, in ihrem eigenen natürlichen Bereich zu existieren.
6. Neue Strukturen auf der Grundlage von Rasse, Ethnizität, Nation, Region wären eine Neuauflage des Alten. Gar kein Nationalismus ist unschuldiger, besser oder positiver als jede auch nur modifizierte Form desselben.
7. In jenen Gebieten, in denen der Islam die oberste Richtschnur darstellt, müssen alle Nichtmuslime als Partner in der neuen politischen Union Platz finden können.

Am 21. März 2013 wurde dieser Text in einer kurdischen Großstadt erstmals vorgelesen. Mit den für den Nahen Osten recht schrägen Thesen kann man bei der türkischen Regierungspartei AKP und bei den türkischen Oppositionsparteien nicht punkten. Die türkische Politik basiert auf striktem Nationalismus, sowohl bei der frommen AKP wie bei den säkularen Republikanern und bei den Grauen Wölfen sowieso.

Den westlichen Idealisten wurde aber geschickt zum Munde geredet. Nun muß sich zeigen, ob die deutschen Freunde der Multikulturalität, der sexuellen Befreiung und der neuen Weltordnung genug Macht und den eisenharten Willen haben, um Präsident Erdogan auf die Knie zu zwingen und zum Einlenken zu bewegen. Wir werden sehen, daß Roth und Özdemir aufgeblasene Papiertiger sind, die den bewaffneten Kampf scheuen. Wenn jemand Deutschland verläßt, um im Nahen Osten rumzuballern, dann sind es junge Leute, die den Islamischen Staat unterstützen.

Auf Deutschland hat das Kriegsgeschrei im türkischen Südosten weitreichende Auswirkungen. Die regierungsnahen türkischen Organisationen werden in Deutschland und auch in Österreich mehr Rückenhalt bekommen, als bisher. Die Türken werden sich von den Grünen zunehmend abwenden, weil Erdogan weiterhin Stimmung gegen Roth und Özdemir machen wird. Gerade will ein AKP-naher Türke Oberbürgermeister von Bonn  werden und auch für den Wiener Gemeinderat will die AKP kandidieren. Beides nicht mit einem sozialdemokratischen oder grünen Ticket, sondern auf eigene Faust. Die türkische Minderheit in Deutschland wird sich mittelfristig vom deutschen Parteiensystem emanzipieren.

Auch auf SPD und Linkspartei hat das kleinasiatische Zerwürfnis Auswirkungen. Bündnisse zwischen beiden Parteien werden durch türkische Anhänger der SPD und kurdische Mitglieder der Linkspartei belastet werden. Jede ausländische Klientel wird in der jeweiligen Partei Druck zugunsten ihrer Lieblingsbürgerkriegstruppe machen.

Zwischen Türken und Kurden wird es nicht nur in der Türkei, in Österreich oder in der Schweiz, sondern auch in Deutschland Auseinandersetzungen geben. 255.000 Wähler haben in Deutschland für Erdogan gestimmt, 83.000 für die kurdennahe HDP. Nicht zu vernachlässigen sind auch die 46.000 Stimmen für den nationalistischen Idealistenverein MHP, in Deutschland als Graue Wölfe bekannt. Im Verhältnis von etwa 3:1 stehen sich die kleinasiatischen Kriegsparteien hierzulande hochgerüstet gegenüber. Etwas anders sieht es in der Schweiz aus. Dort sind 17.000 kurdische HDP-Anhänger gegenüber 9.000 AKP-Wählern in der Mehrheit.

Der Geheimrat Goethe ahnte vor 200 Jahren nicht, daß Bürgerkriege auf Deutschland übergreifen würden, wenn fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen:

Herr Nachbar, ja! so laß ich’s auch geschehn:
Sie mögen sich die Köpfe spalten,
Mag alles durcheinander gehn;
Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.