Der türkische Fuß in der russischen Tür

Rußland hat begonnen, die Türkei für den Abschuß eines russischen Bombers zu bestrafen. Unter anderem sollen Russen und andere in Rußland lebende Völkerschaften keinen Urlaub mehr in der Türkei machen. Das dürfte der Türkei wegen drei Millionen zeitweise leerstehenden Hotelbetten weh tun.

Aber auch vielen Turkvölkern in Rußland, die sich wegen sprachlicher oder religiöser Gemeinsamkeiten zur Türkei hingezogen fühlen: Krimtartaren, Tartaren, Baschkiren, Jakuten, Tschuwaschen, Karagassen, Tuwinen, Dolganen, Altaier, Chakassen, Scharen, Nogaier, Truchmenen, Kumyken und Kasachen.

In den GUS-Staaten, den Zerfallsprodukten des zaristischen Großreichs kommen noch 56 Millionen Turkmenen, Karakalpaken, Aserbaidshaner, Kasachen, Kirgisen und Usbeken dazu. Alleine im heutigen Rußland dürfte es 12 Millionen turkstämmige Einwohner geben. Etwa 10 % der Fläche Rußlands werden von ihnen bewohnt, vor allem in den dünn besiedelten Wäldern, Morasten und Hochgebirgen Sibiriens.

Die Türkei hat mit diesen sich stark vermehrenden Völkern den Fuß in der russischen Tür. Die Zahl der Jakuten beispielweise hat sich von 250.000 im Jahr 1964 auf 444.000 im Jahr 2002 erhöht, die der Baschkiren im gleichen Zeitraum von 1,06 auf 1,8 Millionen. Die Tartaren in der Sowjetunion machten 1964 etwa 5,37 Millionen aus, 1989 waren es bereits 6,65 Millionen. Die Russen sind von 1964 bis heute nur von 120 auf 132 Millionen fortgekommen. Alkohol, Sozialismus, Kälte.

In Rußland gibt es also konservativ geschätzt 12 Millionen Angehörige von Turkvölkern. Das sind ungefähr 8 % der Gesamtbevölkerung. Umgekehrt hat Rußland keine Gefolgsleute mehr in der Türkei. Die Armenier wurden bereits im Ersten Weltkrieg ausgerottet und die Griechen wurden nach 1922 vertrieben. Sollten die Spannungen zwischen Rußland und der Türkei anhalten, muß Rußland zusätzliche Aufwändungen betreiben, um seine Untertanen zu kontrollieren und die südlichen GUS-Staaten Aserbaidshan, Turkmenien, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan auf Linie zu halten.

Letzteres hat in Moskau deshalb Priorität, um die noch in diesen Ländern verbliebenen ehemaligen russischen Kolonialherren zu schützen, andererseits um in den Turkstaaten zu bestimmen, was vom Koran gilt, und was nicht. Wirklich fromme Republiken, wo die Moslems mit Gut und Blut gegen die Ungläubigen kämpfen, möchte Rußland an der langen Südgrenze wirklich nicht haben. Das unruhige Tschetschenien und Dhagestan reichen schon.

Für Rußland wird sich der außenpolitische Teil des Programms von Erdogans Regierungspartei AKP als Bedrohung anhören: „Unsere Partei wird die Zusammenarbeit mit den türkischen Republiken (gemeint sind Kasachstan, Aserbaidshan, Usbekistan, Kirgisistan, Turkmenistan) auf das höchste Niveau bewegen und bemüht sich darum diese Region zu einem umfassenden Bereich der Zusammenarbeit zu verwandeln.“

Etwas verschwommener ist das Programm der Idealisten, in Deutschland als Graue Wölfe bekannt. „Die Türkei soll der Drehbuchautor, Produzent, Regisseur und Hauptdarsteller ihrer eigenen Vorhaben werden, anstatt ein Zaungast regionaler und globaler Projekte von anderen Mächten,“ heißt es auf der Internet-Präsenz. „Das primäre strategische Ziel der Partei der Nationalistischen Bewegung ist es, den Weg für die Türkei als mächtiges führendes Land des 21. Jahrhunderts zu ebnen“. Auch diese Formulierung wirkt auf Moskau nicht gerade wie Baldrian.

Wie schwierig der russisch-türkische Ausgleich ist, zeigt das Gefeilsche um die Rechte der Krimtartaren nach der Besetzung der Krim durch Rußland. Der damalige türkische Außenminister und jetzige Premier Davutoğlu war in Moskau zu Gast, um über die Minderheitenrechte der Krimtartaren nach der russischen Übernahme der Krim zu verhandeln. Rußland sicherte die Zusammenarbeit mit dem Parlament der Krimtartaren zu und wollte sogar 1943 geraubte Moscheen zurückerstatten. Bisher waren die Krimtartaren für sakrale Neubauten auf Geld aus dem reichen und frommen Saudi-Arabien angewiesen. Die Vereinbarung erwies sich jedoch als brüchig. Die Krimtartaren sind insbesondere nach der russischen Einflußnahme auf ihren Radiosender unzufrieden. Und die Türkei grollt.

„Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“, war die Meinung der deutschen Pinocchiopresse zur jüngsten militärischen Eskalation in Syrien. Die Berichterstattung interpretierte von oben herab das alte Thema: Putin und Erdogan, zwei robuste Rüpel aus der Unterschicht verlieren den Anschluß an die Manieren der multikulturellen Hellwelt. Aber auch wenn sich der Konflikt zwischen Rußland und der Türkei schnell beruhigen sollte und man sich wieder verträgt. Die Türkei und Rußland belauern sich permanent seit der Eroberung der Schwarzmeerstadt Asow durch Peter I. im Jahr 1695.

Im Krimkrieg 1853 bis 1856, im Ersten Weltkrieg und in der Sowjetzeit bekam die Türkei massive europäische Unterstützung, um dem stärkeren Rußland widerstehen zu können. Auch heute ist die Türkei ein militärischer Zwerg gegen das hochgerüstete Rußland. Eine wirkliche Konfrontation kann Erdogan nicht wollen. Die Türkei kann nur langfristig Vorteile gegen Rußland erlangen, wenn Rußland seine schwindenden Kräfte an vielen verschiedenen Fronten überspannen sollte und wenn die in Mittelasien lebenden Turkvölker, angestachelt von der Türkei, Rußland die Ausübung der Kontrolle immer schwerer machen.