Märchenstunde oder Homeschooling?

Viel wird heutzutage über politische Indoktrination von Schülern durch Lehrer und Erzieher geklagt. Täglich wird in Schulen und Kindergärten Gehirn gewaschen. Klima, Multikulti, Sex. Vorbeten von Propaganda statt Lernen ist freilich keine neue Erscheinung. Schon im Nationalsozialismus, aber auch in meiner Schulzeit war das an der Tagesordnung. Genutzt hat es wenig bis nichts.

Schule im Sowjetparadies ist keine dreißig Jahre her. Montags wurde eine halbe Stunde früher aufgestanden, als sonst in der Woche, und das kam so: Nach den Zerstreuungen des Wochenendes, wo viele Schüler sich mit ihren Eltern kleinbürgerlichen Vergnügungen oder gar dem dekadenten Westfernsehen hingegeben hatten, wurde es für erforderlich gehalten, wieder zum Klassenkampf überzuleiten. Das weiße Pionierhemd mit dem bei zahlreichen Wäschefesten ergrauten Kragen wurde angelegt und ein blaues Tuch um den Hals gebunden, ein symbolisches Zipfelchen der blauen Pionierfahne. In diesem Aufzug wurde hinter der Schule auf einem eigens hergerichteten Platz klassenweise Aufstellung genommen, so daß insgesamt ein Halbkreis entstand. Vorn in der Mitte befand sich, die Älteren werden sich noch erinnern, ein Fahnenmast. Rechts vom Mast standen der Schuldirektor Vollandt, die Pionierleiterin Lenz, Pilei genannt, und das Lehrerkollektiv.

Zunächst mußte gemeldet werden. Also wurde erstmal durchgezählt. Dann meldete der Letzte im Glied an den Gruppenratsvorsitzenden: „Klasse sowieso mit x Pionieren zum Fahnenappell angetreten“. Dazu gehörte eine Handbewegung, die rechte Hand wurde in Richtung Kopf bewegt. Das sollte militärisch-zackig aussehen. Dann setzte sich der Gruppenratsvorsitzende in Richtung Pionierleiterin in Bewegung, und dort angekommen wurde die Meldung einschließlich Handbewegung noch einmal wiederholt. Wenn alle sieben Klassen endlich fertig durchgezählt und gemeldet hatten, was bis zu zehn Minuten dauerte, zählte die Pilei zusammen, verkündete die Zahl der Angetretenen und rief dann: „Seid bereit!“, und alle Schulklassen antworteten: „immer bereit“. Dann wurde zu „Kleine weiße Friedenstaube“, „Der kleine Trompeter“, oder dem Thälmann-Lied die Fahne hochgezogen.

Und dann kam das Ereignis, worauf sich alle so freuten: Streng nach dem roten Heiligenkalender hielt ein Lehrer oder die Pionierleiterin eine flammende Rede. Anlaß waren Geburtstage und Todestage von verflossenen Parteigrößen oder wichtige Jahrestage wie Republiksgeburtstag, Jahrestag der Oktoberrevolution, und Pioniergeburtstag (13. Dezember). Alle diese Themen brachten unseren Schuldirektor Vollandt ins Schwitzen. Er war groß und bullig, aber hatte sich ein kindliches Gemüt bewahren können. Es reichten wenige Worte wie: „Thälmann“, „Sowjetunion“, „Gagarin“, „Sputnik“ oder „Siebenjahrplan“, und passend zum weinroten Anzug wurde sein weinroter Kopf immer röter, er fing ordentlich an zu schwitzen, und dicke Tränen kullerten aus den Augen. Dazu gehörte der Griff in die Hosentasche, aus der er ein Schnupf- und Schweißtuch in der Größe eines Kopfkissens hervorzauberte. Den Rest der jeweiligen Rede gab er sich ungehemmt, aber durch das Tuch verhüllt seinen Emotionen hin. Die Jugend aber, ähnlich wie schon von Wilhelm Busch beobachtet, dachte froh: „Alter Junge, bist Du so?“

In Weimar hatten die meisten Schulen Spitznamen. Die Louis-Fürnberg-Schule hieß kurz „die Lui´n“, die Theo-Neubauer-Schule wurde „die Theo´n“ genannt und die Phillip-Müller-Schule war kurz „die Phillip´n“. Ich ging sieben Jahre in diese „Phillip´n“. Der Namenspatron stammte aus dem Ruhrgebiet, war natürlich Friedenskämpfer und Antifaschist, und die Lehrer behaupteten, er sei in Essen von den „Bonner Ultras“, so hieß damals die Bundesregierung, ermordet worden. Wir Schüler sagten unter uns: „Im Essen ermordet“ und grinsten wissend. In dieser knappen Formulierung äußerte sich der Verdacht, daß die Mordtheorie nicht stimmte, zumal es den Verwandten hinter dem Stacheldraht immer besser ging, und sie waren trotz Ultras alle noch am Leben.

Einmal im Jahr wurde nun dieser rote Phillip in der Schule geehrt, und zwar so: Vor dem Haupteingang der Schule stand ein rotbetuchter Tisch, auf diesem Tisch das farbige Konterfei des Verblichenen zwischen zwei Blumentöpfen, und um dieses symmetrische Arrangement zu komplettieren, stand links und rechts neben diesem Altar des Atheismus je ein Jungpionier mit je einem blauen Wimpel. Die Pioniere wurden alle Viertelstunde gewechselt, und brauchten solange nicht am Unterricht teilzunehmen. Wegen der seltenen Möglichkeit legalen Unterrichtsausfalls war der Andrang zur Ehrenwache entsprechend groß. Endlich kamen ich und Karin Franke auch an die Reihe, und vor dem Schulhaus entspann sich etwa folgender Dialog mit der abzulösenden Ehrenwache:

„Die Frau Henniger (Lehrerin) hat gesagt, mir sollen euch jetzt ablösen“.
„Stimmt gar nicht, die Zeit ist noch lange nicht rum“.
„Jetzt sind mir an der Reihe, rückt die Wimpel raus!“
„Wenn ihr die Wimpel auch nur anrührt, da krachts!“

Daraufhin kam es zu einem kurzen Gerangel zwischen den Ehrenwachen. Die Ablösung erkämpfte die Wimpel, und die vorhergehende Wache verpetzte uns bei Frau Henniger wegen Fahnenraub. Petzen war damals übrigens so angesehen wie in die Hose machen.

Es folgten Belehrungen über den Ernst des Anlasses und schöne Beispiele des Ernstes und der Erhabenheit bei der Ablösung von Wachen, z.B. auf dem Roten Platz.

Einmal war richtig Märchenstunde und die Lehrerin erläuterte, wie zukünftig eingekauft werden würde, wenn der Kommunismus aufgebaut sei. Man würde in den Laden gehen und sich wegnehmen, was man brauchen würde. Das Bewußtsein der Menschen sei im Kommunismus soweit fortgeschritten, daß niemand etwas begehren würde, was er nicht benötigt. Deshalb würden die Bonbons und das Brot in den Läden nie alle werden (obwohl alle Kinder nach Bonbons gahnzen). Die Arbeit würde von Robotern erledigt werden und es gäbe riesige Rechenmaschinen. Geld würde es nicht mehr geben, jeder könne nach seinen Bedürfnissen leben. Zuerst würde der Kommunismus in der Sowjetunion eingeführt werden, weil die Sowjetunion auf dem Weg zum Kommunismus am fortgeschrittensten sei.

Sofort meldeten sich aus der Klasse nur Zweifler. Niemand konnte sich vorstellen, daß die Läden nicht sofort geplündert werden würden, wenn man soviel entnehmen könnte, wie man wollte. Den Reichtum der Zukunft, die Roboter und Rechenmaschinen konnte sich jeder vorstellen, an den neuen Menschen glaubte niemand außer der Lehrerin. Und wer weiß, was die zu Hause dachte.

Die ganze Propaganda hat im Ergebnis immer nur versagt. 1945 streikten die Werwölfe und der Volkssturm, 1989 stürmten die Indoktrinierten die Botschaften in Prag und Budapest. Außer Zeitverschwendung nichts gewesen. Die harten Fakten sprechen für Homeschooling. Die Eltern spinnen nicht so rum wie die Lehrplanmacher. Jedenfalls nicht alle.