PC, Gender und Esoterik fressen Europa

Seit dem Beitritt Deutschlands zur NATO im Jahr 1955 hat sich die Mitgliedschaft letztlich bewährt. Fünfunddreißig Jahre bis 1990 nützte das Gleichgewicht des Schreckens mit dem Warschauer Pakt um den Frieden und die damals in Deutschland noch vorhandene Freiheit zu erhalten. Eine Frucht der Beharrlichkeit und Entschlossenheit war der Abzug der Russen aus Osteuropa. Mit dem Angriff auf das World Trade Center 2001 wurde das erste Mal ein Bündnisfall ausgelöst und viele Mitglieder folgten den USA nach Afghanistan. Ob die Täler des Hindukusch einigermaßen stabilisiert werden können, muß sich jedoch erst noch zeigen.

Die NATO steckt nicht nur wegen der geringen Teilerfolge in Afghanistan in einer Legitimitätskrise. Die Führungsmacht, die Vereinigten Staaten, verwandelt sich langsam in eine autoritäre Gesellschaft der Sprech- und Denkverbote. Die politische Korrektheit verbreitet sich auch in einigen anderen NATO-Mitgliedsstaaten wie ein aggressives Unkraut. Im Westen schneller, als im Osten. Die aus Amerika herüberschwappende Genderei ist der Türöffner für Obskurantismus und Antiaufklärung. Es riecht überall nach politischer Esoterik und nur in einigen abgelegenen Hauptstädten nach Rationalität. Griechenland und Portugal sind in den Kommunismus abgeglitten und das NATO-Mitglied Türkei verwandelt sich in einen islamischen Gottesstaat. Damit wird die ursprüngliche Intention – die Freiheit zu verteidigen – ad absurdum geführt. Das ist der Kern der Krise der NATO.

Derzeit suchen viele Deutsche nach einem neuen außenpolitischen Sicherheitskonzept, ohne sich klarzumachen, daß das die Suche nach einem neuen Atomschirm für Deutschland ist. Der Wechsel in ein anderes Protektorat. Warum ist das so? Weil seit 1945 nur Atommächte wirklich souverän sind. Alle anderen Staaten müssen sich wie in einem Klientelsystem eine Schutzmacht suchen und genießen die Rechte von Leibeigenen. Afghanistan und die Tschechoslowakei konnten straflos überfallen werden, weil eine Atommacht am Werke war. Der Irak mußte Kuweit wieder hergeben, weil es keine Kernwaffen hatte.

Nun gibt es sicher Atommächte der ersten und der zweiten Güte. Zu denen, die die Erde mühelos schrotten können, gehören zweifelsfrei Rußland, die Vereinigten Staaten und China. Und dann gibt es noch Indien, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Pakistan, Israel und Nordkorea mit lokal begrenzten Möglichkeiten.

Am Beginn jeder Partnerschaft (auch einer ungleichen Beziehung) stehen Selbsterkenntnis und die Analyse des Anderen. Das ist bei jeder dauernden und erfolgreichen Liebesbeziehung so, und auch im Bereich der internationalen Sicherheit. Liebe auf den ersten Blick hält oft nicht das, was sie verspricht. In Thüringen heißt es beispielsweise: „Liebe vergeht, Hektar besteht.“ Partnerschaften müssen stabil sein und können nicht wegen Nichtigkeiten gewechselt werden. Eine Betrachtung der Stabilität und Verläßlichkeit ist also der erste Schritt.

Und dieser erste Schritt beginnt mit dem Blick in den Spiegel. In ganz Deutschland ist die Generation, die die Jugendbewegung, den Ersten Weltkrieg und das Dritte Reich erlebt hat, fast ausgestorben. Im Osten kann sich wenigstens die ältere Generation noch an die russische Besetzung und das servile Verhalten der Satrapenbürokratie um Honecker erinnern. „Freundschaft zur Sowjetunion ist Ruhm und Ehre der Nation“. Die Steigbügel der geringsten Abgesandten aus Moskau wurden permanent geküßt.

Nicht nur diese machtpolitischen Peinlichkeiten zeigen die Wahrheit: In der Außenwahrnehmung ist das Deutschland der letzten hundert Jahre ein sehr instabiler Staat, der zeitweilig sogar in zwei sich bekämpfende Teilgebilde gespalten war. Welche Nation benötigte in 100 Jahren vier Währungsreformen (1924, 1948, 1990, 2002), in welchem europäischen Staat herrschten nacheinander beide aggressiven Spielarten des Elitarismus, die linke wie die rechte? Die Schweiz, die Vereinigten Staaten, Schweden oder das Vereinigte Königreich zum Vergleich haben heute noch dieselbe Währung wie 1850 und waren durchgehend demokratisch legitimiert. Deutschland ist nicht wegen der Ausgeglichenheit und Verläßlichkeit seiner Politik einigermaßen angesehen, sondern weil es seit 1960 der Zahlmeister der Welt ist.

Auch wenn wir uns andererseits die heutigen Atommächte ansehen, sind nicht alle so wurzelecht, wie sie derzeit gerade scheinen. China erlebte in 100 Jahren den Sturz der Mandschu-Kaiser, die Abspaltung der Mandschurei, den Krieg mit Japan, die blutige Mao-Diktatur und den wirtschaftlichen Aufstieg nach der Wiedereinführung konfuzianischer Traditionen. Kontinuität sieht völlig anders aus.

Die Vereinigten Staaten werden schleichend das Opfer einer elitären Konterrevolution, die seit den 60er Jahren die Fundamente der Freiheit untergräbt. Auch verstanden die Amerikaner Asien nie. Sie verzettelten sich in auswärtigen Kriegen, zum Beispiel in Vietnam, in Afghanistan und im Irak, was viel Kraft und Prestige kostete. Zum Multikulturalismus macht man sich jenseits des Atlantiks Illusionen und redet alles schön. Amerika ist noch nicht einmal in der Lage die Schwarzen zu befrieden. Die islamischen Angriffe auf das World Trade Center sowie die Schüsse in Orlando und San Bernardino zeigten, daß der amerikanische Traum ausgeträumt ist.

Indien wurde erst 1947 selbständig, war vorher britische Kolonie. Permanente Konflikte mit Pakistan und China kosteten und kosten den indischen Subkontinient viele Ressourcen und Kraft. Ansonsten ist Indien im wesentlichen eine Demokratie, eine der wenigen in Asien übrigens.

Rußland ist durch seine autokratische Struktur schwer berechenbar. „Die geringste Abweichung vom kaiserlichen Willen ist verderblich“, war und ist das Leitmotto. Bereits Fürst Bismarck, 1859 bis 1862 preußischer Gesandter in St. Petersburg,  berichtete in seinen Erinnerungen von schwankenden Stimmungen der Zaren gegenüber Deutschland. Letztlich ist der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 ein Ergebnis dieser irrationalen Ausschläge.

Frankreich ist wirtschaftlich zu malade, die atomare Abschreckung zu schwach, um ein Rettungsanker für Europa zu sein. Es war sowohl in den 30er Jahren zur Volksfrontzeit, als auch am Anfang der 60er in der Periode des Algerienkriegs in politischer Auflösung begriffen. Es war kein Zufall, daß es von Deutschland binnen weniger Tage überrollt wurde. Es mußte zweimal gerettet werden, einmal durch die Angelsachsen und General de Gaulle, einmal durch den General alleine. Inzwischen herrscht schon wieder Agonie. Warten auf Marine Le Pen?

Das Vereinigte Königreich ist zwar stabil, wird jedoch keine eigenständige Machtpolitik betreiben. Es bleibt wahrscheinlich in ewiger Treue mit den Vereinigten Staaten verbunden. Wir werden demnächst zusehen, wie die Orientierung nach Übersee zunimmt, auch und nicht zuletzt deswegen, weil ein guter Teil des Brüsseler Personals den Anforderungen des Tags nicht gewachsen ist.

Ein zweiter Schritt bei der Suche nach dem richtigen roten Knopf im Atomkoffer ist die Betrachtung wirtschaftlicher Interessen.

Deutschland ist keine Rohstoffökonomie. Es ist auf relativ freien internationalen Handel mit Rohstoffen zu fairen Preisen angewiesen. Dieses Ausgangsinteresse teilt es mit dem Rest Europas (Norwegen ausgenommen), aber auch mit China und Indien, die gemessen an der Größe und Wirtschaftskraft auch rohstoffarm sind.

Die Vereinigten Staaten und Rußland sind auf Grund ihrer natürlichen Ausstattung eher geneigt, protektionistisch zu agieren oder Rohstofflieferungen als Erpressungsmittel einzusetzen. Rußland ist aufgrund seines Klimas auch objektiv nicht in der Lage Energie zu konkurrenzfähigen Preisen zu liefern. Es leidet derzeit wie ein Hund unter der Preisgestaltung der OPEC und der amerikanischen Frackingindustrie. Rußland hat zudem seine Erdgasvorräte des öfteren als Waffe in internationalen Konflikten eingesetzt, wodurch es sich als zuverlässiger Rohstofflieferant disqualifiziert hat. Die Vereinigten Staaten praktizieren ein stringentes Ausfuhrverbot, was genau so schwer wiegt.

Die NATO wird sich als europäisches Sicherheitssystem halten können, solange sie ein Minimum an demokratischer Verfassung repräsentiert und die letzten Reste marktwirtschaftliche Praxis verteidigt. Sollte sich die amerikanische Elite weiter entdemokratisieren (was bei Hillary Clinton fast gewiß, bei Donald Trump nicht völlig unwahrscheinlich ist), so käme die NATO in große Schwierigkeiten. Es müßte eine neue Schutzmacht gesucht werden, sinnvollerweise eine, die von ganz Europa akzeptiert wird.  Wenn die zerstrittenen europäischen Staaten wieder unter verschiedene Protektorate geraten sollten, wie vor 1990, so würde der Eiserne Vorhang reaktiviert, nur geografisch an anderer Stelle. Kein wünschenswertes Szenario.