Das Eutanasieproblem der SPD

„Nur in schönen Körpern können schöne Seelen wohnen“ ließ Johann Gottlieb Schummel im Jahr 1779 seine Romanfigur, den Pfarrer „Spitzbart“ schreiben. Diese Idee dominierte 100 Jahre später die grün-bräunliche Jugendbewegung.

Wer hat etwas gegen ein wenig Rohkost, kalte Beine beim Wassertreten und ein wenig Sport? Die neuen Irrlehren der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erhoben jedoch einen Ausschließlichkeits- und Wahrheitsanspruch, der befremdet. Auf einem unschuldigen Hügelchen bei Ascona im Tessin wurde eine Kommune der Lebensreform aufgebaut, in der sich Alkoholiker wie Hermann Hesse und Gesundheitsapostel wie Ida Hoffmann sammelten. 1905 wurde der Berg „Monte Verità“ getauft, Berg der Wahrheit, um zu bekräftigen, daß hier die Wahrheit mit Löffeln gefressen wurde. Die Kommunarden rannten nackt herum, vollführten ekstatische Feuertänze bei Vollmond, fasteten und meditierten. Aus der Arbeiterbewegung gab es ständig Besuch. Selbst die russischen Revolutionäre Lenin und Trotzki erstiegen den Berg, um die Kommune kennenzulernen.

Mit der Reformbewegung erfolgte der Aufstieg der Lehren von der Erbgesundheit und Rassenhygiene, denn schnell wurde klar: mit Leibeszucht und Rohkostsalaten allein ließ sich das Endprodukt der Lebensreform, der „Neue Mensch“ nicht schaffen, manche Nudisten wirkten von Anfang an auch ohne geriebene Möhrchen athletisch, energiegeladen und braungebrannt, andere blieben unansehnlich, fett, spindeldürr, runzelig, glatzköpfig oder schlabberig, wie sehr sie sich bei der Malträtierung des Leibes auch mühten. Es gab genetische Grenzen, die mit Ernährung und Sport allein nicht überwunden werden konnten. Kranke menschlichen Unkräuter sollte der Sensenmann ernten. Und daß bestimmte Rassen dem Idealbild mehr entsprechen, als andere war damals außer bei den Katholiken Allgemeingut.

Oda Olberg verkündete 1907 in der sozialdemokratischen „Neuen Zeit“, dem theoretischen Organ der Partei:

„Nicht weil ich orthodoxer Parteisoldat bin, glaube ich, daß die Forderung der Rassehygiene in der sozialistischen Bewegung ihren wirksamsten Bahnbrecher hat, sondern ich bin Sozialist, weil ich das glaube.“

Kriminalität erklärte sie aus biologischer Minderwertigkeit, Kultur und zu geringe biologische Auslese würden zu einer Verschlechterung des Erbguts führen. Noch 1932 beklagte Olberg in frappierender Fehleinschätzung:

„Der so notwendige Appell an ein rassenhygienisches Bewusstsein der Massen verhallt heute zum Teil deshalb so ungehört, weil der Nationalsozialismus diese Forderung in sein reaktionäres Programm aufgenommen hat.“

In der Mischehendebatte, die am 7. Mai 1912 im deutschen Reichstag geführt wurde, zeigte sich, daß fast alle Parteien, auch die oppositionellen Sozialdemokraten, massive Vorurteile hatten und Ehen mit „Negern“ und Südseeinsulanern ablehnten. Der linke Sozialdemokrat Georg Ledebour entrüstete sich wegen der unerfreulichen Tatsache, dass gewisse Frauen aus den wohlhabenden Kreisen für exotische Völkerschaften eine perverse Neigung bekundeten. Er sprach ausdrücklich von Entartung in diesem Zusammenhang. Den Samoanern und Bastards bescheinigte er in körperlicher und geistiger Beziehung den Europäern nahezustehen, die Einwohner Togos, Kameruns und Ostafrikas erwähnte er in diesem Zusammenhang nicht.

Lediglich der katholische Abgeordnete Gröber dachte praktisch und fromm: Die eingeborenen Frauen würden oft ansehnliche Viehherden in die Ehe einbringen, kämen mit den widrigen Verhältnissen in den Schutzgebieten besser zurecht als deutsche Frauen und zudem sei es sachlich einfach unmöglich zu sagen: „Christen dürfen untereinander nicht heiraten, weil die Frau eine schwarze oder braune Haut hat und der Mann eine weiße. Das kann vom religiösen Standpunkt aus unmöglich vertreten werden.“ Auch seien diese Ehen fast immer glücklich.

Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte sich die Debatte über die Erbgesundheit. Antreiber dieser Debatte war in Deutschland die SPD-Parteisoldateska um Adele Schreiber-Krieger, Helene Stöcker, Anna Blos und Antonie Pfülf. Manche Forderungen dieses eugenischen Quartetts muten an, als würden sie aus „Mein Kampf“ stammen. Der einzige Weg, um aus der Erbschaft des Krieges herauszukommen, sei, „zu einem Qualitätsvolk aufzusteigen“, hält ein Parteitagsprotokoll von 1919 eine Äußerung von Adele Schreiber-Krieger fest. Auf dem SPD-Parteitag 1921 erklärte die Bochumer Delegierte Wolf, daß die Eugenik ein elementares Mittel zur Erreichung des Sozialismus sei. Antonie Pfülf forderte auf demselben Parteitag die Zwangssterilisation von Idioten. Das Protokoll vermerkt „Bravo“, die Parteitagsregie wußte Beschlüsse dazu jedoch von der Tagesordnung fern zu halten. Pfülf beklagte und bedauerte, daß man häufig im Kreise von Parteigenossinnen mit neuen Reformideen auf schroffsten Widerstand stößt.

1923 verschärfte sich der Diskurs. Im Blatt des sozialdemokratischen Lebensreform-Verbandes „Volksgesundheit“ forderte Johannes Wolf:

„Die Frage der Vernichtung lebensunwerten Lebens derjenigen … Menschen, die vollständig von der Arbeit anderer Menschen erhalten werden müssen, … kommt … nicht mehr zur Ruhe und mit Recht. Auf der einen Seite ernährt die Allgemeinheit Tausende von für immer unproduktiven oder sozial schädlichen Individuen und auf der anderen Seite gehen Tausende wertvoller Menschen zu Grunde. Hoffentlich hilft die Not der Zeit diese falsche Humanität zu überwinden.“

Gegen Wolfs Forderungen erhob sich kein Sturm der Entrüstung, er wurde nicht aus der Partei ausgeschlossen.

Die Vorstellungen vom „Neuen Menschen“ waren nach über 20 Jahren Nietzsche-Rezeption und über 20 Jahren Lebensreformbewegung so weit durch die Institutionen des Bewußtseins gewandert, daß diese extreme Meinung keinen Aufstand der „Anständigen“ auslöste, zumindest nicht in der SPD. Aber es war kein Problem der SPD allein, auch in anderen politischen Bewegungen, die nicht streng katholisch gebunden waren, gab es erbbiologisch geprägte Anschauungen, in der NSDAP gab es sie bekanntlich auch und dort wurden sie herrschend.

1927 bis 1933 verschärfte die sozialdemokratische „Volksgesundheit“ den Ton. Nachdem die Reform des Strafgesetzbuches zur Ermöglichung der Sterilisation im Reichstag 1927 gescheitert war, wurde gegen den Reichstag nachgetreten:

„Das arbeitende Volk soll also weiterhin die hohen Summen für die Aufzucht, Erziehung und Versorgung der wertlosen unglücklichen Menschen tragen.“

1933 machte man in der „Volksgesundheit“ Vorschläge zur Endlösung der Eugenik-Frage:

„Die Natur bewirkt … von sich aus eine Auslese, der aber vom Kulturmenschen dadurch entgegengewirkt wird, daß auch das lebensunwerte … Leben auf Kosten der Lebenstüchtigen geschützt und erhalten wird. … Es ist wirklich an der Zeit, daß sich … die Gedanken der Rassenhygiene bemerkbar machen. … Das Recht des Menschen auf sein Leben ist ein bedingtes. Soweit es die naturgesetzlichen Forderungen nicht erfüllt, muß er unter den Folgen seiner Fehler leiden. Die Natur kennt keine Sündenvergebung.“

Kurz danach wurde die SPD verboten. Allerdings nicht wegen dieser Meinungsäußerung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte, was die Werte betrifft, zunächst eine Re-Christianisierung und Re-Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft, die Reformideen zum „Neuen Menschen“ wurden, was den politischen Raum betrifft, bis 1965 in finstere Nischen abgedrängt, der Jugend- und Schönheitskult lebte vor allem in der Werbeindustrie weiter. Auch die SPD wurde von Kurt Schumacher auf Linie gebracht. Ab 1965 kam es alledings zu einer Renaissance der Lehren vom Neuen Menschen. Die Studentenbewegung, darunter der Sozialistische Deutsche Studentenbund, dessen Vorsitzender 1947/48 übrigens Helmut Schmidt war, träumte von Pol Pots Killing Fields und Maos blutiger Kulturrevolution. Selbst die Vergewaltigung von Kindern war kein Tabu mehr, die Gesellschaft sollte um jeden Preis verändert werden.

Im Osten wurde die Lebensreform nach dem Krieg totgeschwiegen, um zu verschleiern, daß der Bolschewismus eine Sumpfblüte dieser Reform war. Lenin und Trotzki studierten in München und auf dem Monte Veritá die Lebensreform und nicht die langweiligen Werke von Karl Marx. Lenin entwickelte 1901 in Schwabing unter dem Einfluß des deutschen Elitarismus in seinem Werk „Was tun?“ die bolschewistische Führerpartei mit einer neuen antimarxistischen Definition des Verhältnisses von Führung und Masse. Es entstand das Konzept einer elitären Kaderpartei als Avantgarde der Arbeiterbewegung. „Unter den ´Besserwissern´ sind, wie ich schon wiederholt betont habe, in organisatorischer Hinsicht nur die Berufsrevolutionäre zu verstehen, einerlei ob sie sich aus Studenten oder Arbeitern hierzu entwickeln”, so Lenin in „Was tun?“. Karl Marxens „Masse“ war altes Eisen.

Das Eutanasie- und Rassenhygieneproblem der Sozialdemokratie ist bis heute nicht allgemein bekannt. Eine Partei, die ständig mit dem moralischen Zeigefinger hantiert, sollte damit öfter mal konfrontiert werden.