Die nationale Erzählung unterscheidet sich

Es ist zwar schade: Aber eine Jeanne d’Arc, einen Jan Henryk Dąbrowski, einen Pan Tadeusz, einen Robin Hood, einen George Washington, einen Garibaldi, einen Wilhelm Tell, einen Prinz Eugen, einen Andreas Hofer oder den Freiheitskampf gegen die Spanier nach der Ermordung von Graf Egmond gibt es in Deutschland nicht. Man muß zu Kaiser Barbarossa oder Friedrich II. zurückblicken, um die große nationale Erzählung zu finden, die einigermaßen allgemeine Akzeptanz hat. Aber ist Barbarossa als historische Figur für die meisten von uns überhaupt noch präsent?

Ein nationales Märchen ist in den meisten Ländern vorhanden und es ist gut so. Wenn es als Kristallisationspunkt von gemeinsamer Identität fehlt, ist der kalte Bürgerkrieg in Reichweite.

Die nationalen Erzählungen der Deutschen sind Nachkriegs-Pillepalle. Wirtschaftswunder und Weltreisen links des Zauns, der Benzinhahn des Trabants und Alkohol in Strömen rechts. 1989 hatte ich mir als Ossi in Darmstadt eine Art Praktikum in einem Betrieb mit etwa 400 Beschäftigten gesucht. Das Büro, in dem ich arbeitete, teilten zwei ältere Hessen mit mir, die die Nachkriegszeit so ähnlich erlebt hatten, wie ich auch. Zumindest in den 50ern hatten wir trotz Zonengrenze eine ähnliche Bescheidenheit in den Lebensumständen erlebt. Das verband miteinander. Sie verstanden mich und ich verstand sie.  Es verwunderte und störte sie nicht, daß ich jede Woche mit dem Taschenmesser, einem Vierpfundbrot, einer ganzen Salami und einem großen Kastenkuchen anrückte, den meine Freundin selbst gebacken hatte. Das kannten sie von ihrem Opa. Nie kam eine blöde Bemerkung darüber. Der eine organisierte mir einen gebrauchten Farbfernseher, der andere lud mich zu einem Stadtfest ein und spendierte mir Bier.

Was mir schon nach einigen Wochen auffiel: Die damals etwas jüngeren Leute so etwa ab Geburtsjahr 1950 lebten kulturell auf einem anderen Stern. Zwei männliche Praktikanten unterhielten sich über das Lackieren von Fingernägeln. Ein ziegenbärtiger Mittvierziger wollte mir unbedingt entlocken, daß die deutsche Einheit Mist sei. War sie vielleicht auch, aber ich sah das damals nicht ein. Andere erzählten von exotischen Sportarten, die Unsummen an Ausrüstung verschlangen oder von Fernreisen zu einsamen Inseln mit dem Flugzeug. Der Bürotürke spuckte dem Bürogriechen am Kopierer ins Gesicht, als Multikulti. Hundegeburtstage wurden mit Sekt gefeiert. Die Frauen gingen vormittags zum Tennis, während die Männer die Brötchen verdienten.

Es wurde mir klar: Die jüngere Generation der Deutschen hatte sich auseinander gelebt. Was sollten die Wessis mit den Geschichten der Ossis anfangen? Heldentaten beim Besorgen von Baumaterialien, Wernesgrüner, Nordhäuser Doppelkorn, Sperber, Rotkäppchen, Bornsenf, Filmriß, ETS, Radeberger, Gemisch, O-Alele, Jumbo, Hängolin, Kreuz des Südens, DSF, Goldkrone, ABV, Spatz, Star, Aro, FDGB, Wilthener, der vergessene Farbfilm,  Vita-Cola, lindgrüne Russenzäune, Feuertanz, Lager für Arbeit und Erholung, Rum-Verschnitt, 40 – 60 in der Disco, Karo und Salem Rot, Pfeffi, Kalaschnikoff, GST-Lager, Falkentaler (das „Kantholz“), das Ritzel von der Raupe S 100, Broiler, Schwalbe, Trockenklo, Gotano, LG-Schießen, Primasprit, Soljanka, Kaffee-Edel, FDJ, Kaderleiter, Geflügelbratwurst, IMI und ATA. Die ganze Vogel-Serie von Simson, die Lenkradschaltung und die Namen der Spaßgetränke – alles böhmische Dörfer für die Wessis.

Dafür wußten wir nicht was LSD ist, wie man in einen Flieger eincheckt oder ein Sit-in organisiert, wie Haller-Nudeln prächtig aufgehen. Wir kannten London, Paris und Wien nicht. Meister Proper, Klementine und Frau Saubermann hatten an uns vorbeigeputzt und -gewaschen, der Gilb befiel unsere Pionierhemden. Trio und die Spider Murphy kannten wir wenn überhaupt nur in Schwarz-Weiß, den Deutschen Herbst und die Landshut-Befreiung bekam man nur in geografisch günstig gelegenen Gegenden mit. Einen Manta hatten wir nie gesehen, die ganze westdeutsche Nachkriegsliteratur und der damit verbundene Diskurs waren spurlos am Osten vorbeigehascht. Damit auch die sogenannte Vergangenheitsbewältigung. Die obligate Mao-Bibel, Sex mit Kindern und Marihuana kannten wir nur vom Hörensagen. Der für die Linken identitätsstiftende „Mord“ an Benno Ohnesorg – eine Stasi-Aktion. Polizeimeister Kurras ein Polizei-Fake. Blieb der Konsum: Man drückte sich die Nase an der Fernesehscheibe platt. Für eine Camel wäre man bis ans Ende der Welt gelaufen und Asbach Uralt – so etwas Gutes wiederfuhr einem nie.

Die Wessis sahen sich als reumütige Büßer, für etwas, was ihre Opas angerichtet hatten, die Ossis fühlten sich zerquetscht unter der Weltgeschichte großem Rad. Paßt einfach nicht zusammen.

Das Unverständnis füreinander hat sich beidseits auf hohem Niveau verfestigt, nachdem es eine ganze Weile so aussah, als würden die Verspannungen auswachsen. Dunkeldeutschland hier und die Ewigmorgigen dort. Pack und Mob hier, das Lumpenlieschen Claudia Roth und der drohende Stinkefinger dort. Alles Nazi-Muschpoke hier und Gutmenschen dort. Die gemeinsame Nachkriegserfahrung fehlt definitiv. Die Ossis passen kulturell besser zu ihren tschechischen, polnischen, slowakischen, litauischen und ungarischen Freunden, mit denen sie notgedrungen ein Stück durch die Weltgeschichte getrieben worden sind, als zur devoten türkischen Besatzungszone Köln mit einem tonangebenden Kalifen.